Die beiden Pole unserer Identität
Schon in der Antike haben sich chinesische Philosophen die Frage gestellt, ob der Mensch nun gut oder böse sei:
Mong Dsi (oder Mengzi; um 300 v. u. Z.) sagt, die menschliche Natur sei gut:
„Die natürlichen Triebe tragen den Keim zum Guten in sich … Wenn einer Böses tut, dann liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung. … Das Gefühl des Mitleids ist allen Menschen eigen, … Liebe und … Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unser ursprünglicher Besitz.“
(Höffe, Otfried: Lesebuch zur Ethik.)
Hsün-Tzu (oder Xunzi; um 250 v. u. Z.) sagt, die menschliche Natur sei böse:
„Die menschliche Natur ist böse, und was am Menschen gut ist, ist Ergebnis seiner Anstrengungen. Unsere menschliche Natur ist so, dass wir von klein auf an materiellem Gewinn interessiert sind. Lässt der Mensch diesem Interesse freien Lauf, dann kommen Streit und Raub auf. … Von klein auf empfindet der Mensch Neid und Abneigung.“ (Höffe, s.o.)
In der Zeit der Aufklärung äußern sich Rousseau und Hobbes nach dem gleichen Muster. Warum überhaupt die Fragen nach dem, wer wir sind, nach der menschlichen Natur? Nun, weil jeder ihr unterliegt und ein gewisses Verständnis dafür braucht: Denn jeder versucht, eigene Verhaltensweisen und Entscheidungen optimal zu steuern und das Handeln der anderen einschätzen zu können, z. B. in der Erziehung, im Geschäftsleben, in der Familie, usw. Insofern gibt die Klärung Aufschluss darüber, wie man leben soll.
Die Überschrift über dem altgriechischen Tempel von Delphi „Gnothi se auton“, also „Erkenne dich selbst“, ist die Aufforderung zu tiefgreifender Selbsterkenntnis, die über ein erfülltes Leben entscheidet. Damit ist nicht nur materielles Wohlergehen, sondern auch ein erfolgreiches spirituelles Leben gemeint, das die Sinnfrage beantwortet und durch das der Mensch seine Bestimmung verwirklicht.
Zum „bösen“ Teil der menschlichen Natur: Einleitend soll Georg Büchner in seinem Fatalismusbrief zu Wort kommen:
„Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“
In ironischer Form äußert sich Wilhelm Busch zur negativen Seite des Menschen:
„Tugend will ermuntert sein,
Bosheit kann man schon allein.„
(Wilhelm Busch: Plisch und Plum)
Der portugiesische Mönch (Mitbegründer von São Paulo und Rio de Janeiro) Manuel de Nóbrega schreibt 1559:
„Am Anfang der Welt war nur Mord und Totschlag.“
(Ben Kiernan: Erde und Blut, S.9)

Herrmann Knaur: Kain und Abel-Gruppe. 1845. Stadtgeschichliches Museum Leipzig, Nr. 107b. Wikimedia Commons.
Die Geschichte von Kain und Abel sagt in symbolischer Form, dass Gewaltanwendung am Beginn der Menschheitsgeschichte steht und damit zum Grundsachverhalt der menschlichen Software gehört. Abel steht dabei symbolisch für den spirituellen Software-Anteil im Menschen, in dem die geistige Seite der Seele dominiert, während Kain den triebbeherrschten Teil im Menschen darstellt. Das heilige Buch des Judentums, der Tanach (christliche Bezeichnung: Altes Testament), sagt hierzu aus:
„…alles Trachten ihres Herzens war nur böse immerdar.“ (Genesis 6)
Wir sind aber aufgefordert, Herr über diesen Dämon zu werden, und das Wichtigste, auch dazu befähigt:
„… die Sünde hat nach dir Verlangen, du aber herrsche über sie.“ (Genesis 4)
Binäre Identität
Im Drama „Geschlossene Gesellschaft“ des französischen Schriftstellers Jean-Paul Sartre finden sich drei Personen nach ihrem physischen Tod aufgrund ihrer irdischen Sünden eingeschlossen in der Hölle wieder, behelligen sich ständig gegenseitig und gehen sich so maßlos auf die Nerven: „Die Hölle, das sind [immer] die anderen.“
Bei Sartre endet das Stück mit Aussichtslosigkeit der Protagonisten, sie wissen nicht, wie sie aus dieser Hölle herauskommen und finden sich damit ab. Garcin sagt: „Also – machen wir weiter!“ Aber er irrt, es gibt den Ausweg. Er besteht darin, das Ego als solches und als Steuerungsprogramm von „unten“ zu erkennen und dann Schritt für Schritt durch Beobachten und Kontern zu deaktivieren.
Ein hochklassiger Fußballprofi, der mehrere Male mit zeitweiligen Berufsverboten belegt wurde, weil er Gegenspieler gebissen hatte, wurde nach dem Warum gefragt: „Ich kann das nicht erklären. Es passiert einfach, da ist so eine Wut in mir.“ (Spiegel 41/2014).
Er hat den Grund nicht erkannt, aber immerhin einen Zipfel des Schleiers angehoben. Der Ausweg ist, die Hölle zu erkennen als die zerstörerische Schranke, die den Blick hinter die Oberfläche der Person verhindert. Die Hölle, die Triebseele, der Selbsterhaltungstrieb, der Egoismus, diese Hölle ist die ausschließliche Sichtweise auf die äußerliche Anderheit des Menschen in Bezug auf die anderen Menschen. Die Hölle – Goethe nennt sie Mephisto – will den „Tiefblick“ (buddh.) verhindern, den Blick auf den „Vater in mir“ (Jesus) und auf diesen inneren Vater in den anderen Menschen.
Es ist dieser Blick auf die Geistseele, auf „der Gottheit inn´re Stimm“ (Gita XVI,24), auf die Ebenbildlichkeit (1. Mo. 1,26 f.), auf die Intuition, darauf, dass man „nur mit dem Herzen gut sieht“ (Saint-Exupéry: Der kleine Prinz). Die Hölle, das Ego, will durch das Verbergen der inneren Einheit die materielle Sichtweise der äußeren Anderheit zementieren. Nur dadurch kann sie das Reduzieren der Selbsterhaltungs-Software verhindern. Deswegen achtet die Hölle peinlich darauf, dass die Liebe auf die physikalisch „Nächsten“ beschränkt bleibt und keinesfalls auf Fremde (Gleichnis vom Barmherzigen Samariter), Asylbewerber, Ausländer, böse Nachbarn oder gar Feinde (Bergpredigt: Mt. 5,44) ausgeweitet wird. Denn das wäre das Reduzieren der Eigenliebe von 100 % auf 50 % („… wie dich selbst“: Mt. 22,39).
Der islamische Mystiker Rumi erzählt zum Thema Ego-Reduktion die berühmte Geschichte vom Papageien im Käfig:
Ein Kaufmann hatte einen wunderschönen Papagei in einem Käfig. Der Mann wollte eine Geschäftsreise nach Indien antreten und fragte alle Leute in seinem Haushalt, was er ihnen mitbringen solle. Auch den Papagei fragte er nach einem Mitbringsel. Dieser bat den Kaufmann, anderen Papageien dort in Indien zu erzählen, in welcher Lage er sich in diesem Käfig befände und dass sein Wunsch wäre, von ihnen zu erfahren, wie ein Lösungsweg für ihn aussehen könnte. Der Händler versprach, das zu übermitteln.
Als er in Indien ankam, traf er auf einige Papageien und richtete die Bitte aus. Sofort nach dem Gehörten fiel einer von ihnen tot zu Boden.
Nach Hause zurückgekehrt berichtete der Reisende seinem Papagei das Erlebte. Als dieser das hörte, fiel er tot auf den Boden des Käfigs. Der Kaufmann war tief betrübt und holte den Vogel aus dem Käfig. Da breitete dieser plötzlich seine Flügel aus und flog auf einen Baum. Er erklärte dem erstaunten Mann das Täuschungsmanöver: Der Papagei in Indien hatte seinen Tod vorgetäuscht, um dem Gefangenen zu signalisieren, dass auch dieser „sterben“ solle, um endlich frei zu werden. (Rumi: Mesnevi I, 1556 – 1920)

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Da der Mensch „nichts von sich selber tun kann“ (Joh. 5), findet seine Verhaltenssteuerung grundsätzlich durch den Zustrom von „unten“ (egozentrische Eigenliebe) und den von „oben“ (altruistische Eigen- und Fremdenliebe) statt. Es bedeutet, dass der Mensch sowohl materie- als auch geistgesteuert ist; deshalb verhält er sich göttlich oder tierisch je nach Anteil der Steuerung durch Trieb- oder eben Geistseele. Die Quelle für sein Verhalten kommt also nicht aus ihm selbst. Insofern besteht seine eigenständige Identität „nur“ daraus, seinen freien Willen dazu einzusetzen, den Mischerhebel seines Bewusstseins zu bedienen. Es ist der Ort für diesen Entscheidungshebel zwischen Geist und Körper, es enthält insofern materielle – physische und psychische – sowie geistige Teile.
Dieser – zumindest im Prinzip – freie Wille des Menschen hat das Mischventil in der Hand und kann (mehr oder weniger) frei entscheiden, ob und wie viel Einfluss er dem jeweiligen Zustrom in seinem Bewusstsein gibt. Das setzt natürlich voraus, dass er sich diese existenzielle Situation bewusst macht, was – wie gesagt – zumeist nicht der Fall ist. Solange ist sein freier Wille stark eingeschränkt bzw. meist nur als Potenzial vorhanden. Entscheidend aber ist, dass er das Herauslösen aus der Triebsteuerung erlernen kann. Er ist dann in der Lage, sich bewusst aus seiner trieb- und logikgesteuerten Verhaltenslenkung zu lösen und sich in jeder Entscheidungssituation seiner intuitiven Führung Raum zu geben. Das Symbol dafür ist die Konfrontation mit den beiden Bäumen im Paradies: Am Sachverhalt, sich für einen von beiden entscheiden zu müssen, hat sich bis heute nichts geändert. Insofern befindet sich der Mensch in einer Zwischenstellung zwischen oben und unten, zwischen animalischem und geistigem Bewusstsein. Jeder ist sozusagen zugleich Luzi-fer und Christo-fer (ferre: tragen).
„Der Himmel ist in dir
und auch der Höllen Qual,
was du erwählt’st und willst,
das hast du überall.“
Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch I, Vers 145)
Sein Relais-Anteil an seiner Verhaltenssteuerung ist quantitativ minimal und beträgt vielleicht 1 %, qualitativ aber entscheidend. Um es mit einer Begrifflichkeit der mathematischen Physik (Chaostheorie) zu formulieren: Der Flügelschlag eines Schmetterlings löst einen Hurrikan aus. Dieses eine Prozent, dieser Flügelschlag braucht aber unseren gesamten Kraftaufwand und unsere gesamte Ausdauer. Während uns die Entscheidungen für die Selbsterhaltung quasi auf dem Tablett serviert werden, ist das Erkennen des göttlichen Lebens hinter unserem materiellen Leben erst Ergebnis eines mühseligen Weges.
Der menschliche Verstand (s.u.: Forrest Gump) ist in dieser Konstellation nur ein Werkzeug der operativen Wahrnehmung, ein Instrument, das Eingaben aufnimmt und intelligent verarbeiten kann, aber nur scheinbar eigenständig schöpferisch ist. Dass er nicht erschaffen kann, ist eine schwere Beleidigung fürs Ego, erst recht für das Ego z. B. der Naturwissenschaften. Diese bilden sich ein, mit dem Verstand schöpfergleich alles Mögliche bewirken zu können, Gott spielen zu können wie etwa durch Menschendesign oder das Klonen. Das Missverständnis ist, dass die Rechen- und Verknüpfungsoperationen des Verstandes mit ihren intelligenten Ergebnissen von eben diesem Verstand erschaffen wurden und Eigensteuerung suggerieren. So entwickeln z. B. meteorologische Computer aufgrund ihrer Programmierung und unzähliger Messdaten weltweit Prognosen über die Entwicklung des Wetters mit hoher Wahrscheinlichkeit. Das sieht dann so aus, als ob es der Computer von sich aus gewesen wäre, der die Prognosen generiert hätte. Dass dahinter die Programmierer stecken, bleibt ebenso im Dunkeln wie der Umstand, dass wiederum diese ihrerseits in der Konkurrenz von Rationalität und Idee (Intuition) stehen. Das bringt etwa Puccini durch sein Bekenntnis zum Ausdruck:
„Ich komponiere nicht. Ich mache das, was meine innere Stimme mir sagt.“
Damit macht er klar, dass sich dessen bewusst ist, dass seine Einfälle, seine Ideen nicht seine sind.
Schöpferkraft scheint der Mensch zu haben, was man an seinen Entscheidungen für Kriege oder für die Ruinierung des Klimas sehen kann, aber auch andererseits an medizinischem, technischem und sozialem Fortschritt. Aber es sind lediglich Wahlen, also Entscheidungen zwischen zwei vorgegeben Wegen. Mord und Totschlag einerseits sowie auf der anderen Seite das Retten in Notsituationen sind Entscheidungen zwischen Impulsen von „unten“ oder „oben.“ Hier kann der Mensch zwischen ihnen – zumindest prinzipiell – wählen. Er kann prinzipiell den Hebel nach oben oder unten legen und mithilfe seines Verstandes diese Konzepte ausarbeiten und verwirklichen und auch noch optimieren: Baue ich eine Atombombe, gründe ich ein Rotes Kreuz? Unterschlage ich Geld aus der Vereinskasse? Setze ich meine Leben beim Löschen des Waldbrandes oder in der Entwicklungshilfe in Kriegsgebieten aufs Spiel?
Die irdischen Gesetzmäßigkeiten von Kain und Abel waren schon vor dem Menschen da, er hat mit ihrem Erschaffen nichts zu tun und kann nur mit ihnen umgehen. Einstein hat die Relativität ja nicht erfunden, sondern nur entdeckt.
Der Löwe in der Steppe hat ein einziges Programm, das ihn steuert, das Säugetierprogramm der Selbsterhaltung. Er jagt, frisst, paart sich, verteidigt sein Revier, beißt Konkurrenten weg, schützt seinen Nachwuchs und sammelt frische Kräfte in seinen Ruhezeiten. Diesem Programm ist er ausgeliefert, er kann nicht aus ihm heraus.
Der Mensch – das ist der Unterschied zum Säugetier – hat zwei. Einmal folgt er genau demselben animalischen Programm des Selbsterhalts wie der Löwe, und das zumeist zu mehr als 99 %. Darüber hinaus aber schlummert in ihm die Geistseele, das spirituelle Programm der Trennungsüberwindung, Liebe genannt. (Diese Art der Liebe ist geistig, geht über die beiden Stufen der irdischen Liebe wie erotischer und sympathischer hinaus (s. u. zum Liebeskapitel) und basiert auf Hindurchblick.) Er ist das einzige Säugetier, das aus der animalischen Steuerung ausbrechen kann. Dieses zweite Programm ist der qualitative Unterschied zum Tier. Es ist dazu da, das erste zu überwinden. Es soll den Menschen seiner Bestimmung zuführen, zur Selbsterkenntnis des innerlich göttlichen Wesens, das ihn aus der Welt der Leiden heraushebt. Der Weg zu diesem zweiten Bewusstseins- und Verhaltensprogramm ist das einzige Thema aller Weisheitsschriften aller Kulturen und Völker.
Un aporte muy interesante. Muchas gracias por la ilustración. Saludos.