Die geistige Identität ist in jedem Menschen dieselbe, so ähnlich, wie wir alle dieselbe Luft atmen. Die linke und die rechte Hand sind zwar individuell verschieden, bilden aber dennoch eine Einheit: Das verbindende Element ist der gemeinsame Blutstrom, ohne den beide nicht existieren würden. Die Menschen sehen die beiden Hände, aber nicht das gemeinsame Blut und vor allem dasselbe Leben, das diese Hände erst ausmacht. Deshalb nehmen sie jeden anderen Menschen als Gegenüber wahr, ohne die gemeinsame Substanz zu erkennen. Diese verbindet uns sogar noch mehr als auf der stofflich sichtbaren Ebene zwei Zwillinge. Die Menschen stellen innerlich geistig eine Einheit dar wie die Finger an einer Hand, die zwar äußerlich individuell verschieden sind, in Wirklichkeit aber durch ihren unsichtbaren Kern, durch ihre eigentliche Existenz, eine Einheit sind. Dadurch sind sie miteinander mit allen und mit allem verbunden. Das ist eben die Einheit allen Seins. Wer dies erkennt und lebt, der lebt im Einklang mit allem und allen, der lebt in einem Bewusstsein, das das Christentum das „Reich Gottes“ nennt und ist geliebt, versorgt und umfassend gesichert und geschützt. Die Lebenspraxis dieser aufgeklärten Mutigen unter eben diesem Schirm stellt es unter Beweis.
Wie eine Lichterkette verschiedene Glühleuchten haben kann, einige mit 10 Watt, andere mit 100 und deshalb unterschiedlich hell leuchtende, einige mit kleiner Fassung, andere farbig, usw., so ist es dieselbe Energie, die das Leben der Träger ausmacht. Sie ist es, „… was die Welt / im Innersten zusammenhält.“ (Goethe, Faust I, Nacht) Ohne sie wäre die Lichterkette keine; es wären nur leblose Plastik- und Metallteile. Die Glühbirnen sind Träger des Lichts, aber nicht das Licht selbst. Wir identifizieren uns immer mit der Form der Glühbirne, nie mit deren Energie, unserem göttlichen Potenzial, vor allem unserer göttlichen Identität.
Das „Licht“ – also das Leben – ist das, was jeder Körper braucht, um sich zu manifestieren. Das eine Leben in allem Lebendigen ist es auch, das unseren Körper als Instrument zu unserer Erfahrung nutzt, zur wahren Selbsterkenntnis. Dazu gehört auch der Verstand, der uns einerseits über unsere eigentliche geistige Identität hinwegtäuscht, zum anderen aber auch zu ihr hinführt, je nachdem, ob wir ihn von „oben“ oder von „unten“ her funktionieren lassen und in welche Richtung wir ihn dann einsetzen.
Fast alle Menschen identifizieren sich nur mit ihrem Verstand und ihrem Körper. Deshalb entwickeln sie kein Verständnis für den Wandel der Formen: Man ist erst Kleinkind, dann Erwachsener, dann alter Mensch, aber immer ist man Leben. Und wenn das Blatt des Baumes verwelkt und abgeworfen wird, stirbt nicht das Leben des Baumes. Der Kern des Menschen ist das Leben, also die irdische Form der geistigen Zeugung: Gott blies dem Erdenkloß seinen Atem ein (Gen. 2,7). Es ist wie mit der Sonne: Jeder ihrer Strahlen ist Licht (Erkenntnis) und Wärme (Liebe) in der Seele des Individuums, unabhängig davon, wie viel davon unser Bewusstsein durchlässt.
Ich bin mit jedem anderen Menschen wesensgleich, d. h., wir haben dieselbe Ursache und dieselbe Substanz, die Rumi anschaulich so verdeutlicht:
„Zähle hundert Äpfel oder Quitten:
Sie bleiben nicht hundert, sondern werden eins,
wenn du sie zu Sirup machst.
Die Essenz kennt keine Teilung.“
(Mesnevi I, 685)
Jeder Mensch ist mir im Kern näher als ein siamesischer Zwilling, er trägt wie ich das ICH, das eine Leben, die Intuition, das Gewissen, die innere Stimme in sich, ob er sich nun so verhält oder nicht. So wie wir dieselbe Luft atmen, haben wir alle ein und dasselbe Leben. Wer sein Gegenüber als Person aus Fleisch und Blut auffasst und nicht primär (!) als geistiges/göttliches Wesen, der lässt sich von der Oberfläche blenden. Der sieht nicht, dass eine Hand im Handschuh steckt. So bildet mein Verhältnis zum anderen, v. a. bei einem Feind, dasjenige zum Schöpfer ab. Das wäre genau so, als wenn ich mich mit einem Bauchredner nach seiner Aufführung unterhalte und mich dabei ausschließlich an die Puppe auf seinem Arm richte. Dabei meint diese Erkenntnis der Einheit in der Folge beileibe nicht, zum Beispiel dem Feind um den Hals zu fallen. Das wäre ja irdisch emotional, wobei es auf der geistigen Stufe um rein verstandesgemäßes Verständnis geht. Im Gegenteil entbindet es vielleicht überhaupt nicht davon, ihn seiner irdischen Strafe zuzuführen. Es geht einfach „nur“ das um Verständnis der gemeinsamen Substanz. Denn dann äußert sich diese Bewusstseinsänderung dadurch, dass im individuellen (!) Leben allmählich die Feinde verschwinden. Außerdem – und das ist die Weiterentwicklung – schwinden die Feindschaften in zunehmendem Maß zwischen den Menschen insgesamt. Die Folgen wären nachhaltig sichtbar, was sich nach einem Blick auf den Krieg in der Ukraine, im Gazastreifen, im Südsudan und überhaupt auf alle gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den Menschen sofort von selbst ergibt. Das gilt auch für den Umgang des Menschen mit der Natur, die er permanent vergewaltigt.
Der Blick auf den äußeren Menschen verhüllt den Blick auf seinen inneren Wesenskern. Diese Fähigkeit soll im Folgenden mit dem Begriff „Hindurchblick“, bezeichnet werden. Diese geistige Sichtweise durch die Oberfläche der Person hindurch auf die „Hand im Handschuh“ ist zentraler Bestandteil der Feindesliebe (siehe Kapitel 7). Die gemeinsame Lebensenergie – wie die einer riesigen Hand mit 8 Milliarden Fingern – ist der Grund für die innere Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, jenseits aller äußerlicher Vielfalt. Die Pädagogin Maria Montessori setzte dieses Prinzip in ihrer vorschulischen Erziehungsarbeit um:
„Das Geheimnis der Erziehung ist, das Göttliche im Menschen zu erkennen …“
(Kleine Schriften 4. Die Stellung des Menschen in der Schöpfung)
Die Erfahrung der vergangenen Jahrtausende zeigt, dass die Mahnung des Orakels von Delphi, sein wahres Selbst zu erkennen (gnothi se auton), noch nicht ansatzweise erfüllt ist. Aber nur mit deren Realisierung ist individuelle Erlösung aus dem „Jammertal“ (Luther) unseres Planeten möglich. Mit anderen Worten: Ohne die Erkenntnis der eigenen irdischen und geistigen Doppelnatur kann es für den Menschen keine Erlösung geben. Neben dem – unbewussten – Bewusstsein der Selbsterhaltung des Säugetiers handelt es sich um das Bewusstsein seiner geistigen Identität, um das „Reich Gottes“, das nirgendwo geografisch oder im Weltraum zu finden ist, sondern nur in ihm selbst. Es geht um die Befreiung eben dieses „gefangenen Glanzes“ (Robert Browning: Paracelsus). Damit verlässt man den Weg der Puppe des Bauchredners, die versucht, ohne ihn zu leben.
Diese im eigentlichen Sinn verstandene Menschwerdung, die Bewusstwerdung der eigenen inneren Essenz, findet sich in einer Fabel aus Ghana wieder, in der ein Adlerküken in menschliche Hände gerät und auf dem Hühnerhof von den anderen Hühnern das Verhalten eines Huhns erlernt. Erst eine kundige Person eröffnet ihm den Gebrauch seiner Flügel, woraufhin der mittlerweile ausgewachsene Adler nach vielen Versuchen das Fliegen verwirklicht und der Sonne (!) entgegenfliegt.

MR1805: 3D illustration with sea eagle. Stock 121774692
Den Weg vom „Huhn“ zum Adler vollzieht Neo im Film „Matrix I“, den Weg von Kleinganoven zum Auserwählten. Diese Art von Weg sind alle spirituellen Lehrer, Trainer, Meister, Heiler, usw. zu ihren Bestimmungen gegangen, gegenwärtig solche Autoren wie Tolle, Walsch und viele andere. Dieses Potenzial ist in jedem Menschen angelegt, unabhängig davon, in wie vielen unzähligen Etappen bzw. Reinkarnationen er diesen Weg zurücklegt.
Der spirituelle Weg befreit von der negativen Egosteuerung, erzeugt eine wesentlich erhöhte Frustrationstoleranz und bringt Selbstachtung hervor, ein bislang nicht gekanntes Selbstwertgefühl. Man wird dann zum Ausdruck derjenigen Instanz, die man eigentlich schon ist, die aber „aktiviert“ werden muss: „Werde, der du bist.“ (Pindar)
Dieser Beitrag löst gerade in mir ein Bild aus und zwar Menschen die sich von ihren Fesseln lösen und sich aufrichten und ins Licht schauen und strahlen.
Ich kann hier die Geschichte vom hässlichen Entlein beisteuern.
Da gibt es diese Stelle, als es immer noch glaubt, nur ein hässliches Entlein zu sein:
„… Und vorn aus dem Dickicht kamen drei prächtige, weiße Schwäne; sie brausten mit den Federn und schwammen so leicht auf dem Wasser. Das Entlein kannte die prächtigen Thiere und wurde von einer eigenthümlichen Traurigkeit befangen. „Ich will zu ihnen hinfliegen, zu den königlichen Vögeln! … Diese erblickten es und schossen mit brausenden Federn auf dasselbe los. … Es neigte seinen Kopf der Wasserfläche zu und erwartete den Tod. – Aber was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, das kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr, häßlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war…“
Ich will damit sagen, dass man manchmal „Schwäne“ braucht, die einem spiegeln, wer man eigentlich ist.
Hallo Schwan