Die Egoprogramme haben im Prinzip nichts zu tun mit der jeweiligen Person, die sie trägt, genauso wenig wie etwa ein Megafon verantwortlich ist für etwa rassistische Parolen, die ein Demonstrant durch diesen Trichter schreit. Der Mensch ist sozusagen der Lautsprecher, nicht der Verursacher. Er ist der Überbringer seiner Steuerungsprogramme, wovon er selbst so gut wie nichts weiß, allenfalls eine kleine Prise Bewusstheit hat: So weiß der notorische Schürzenjäger höchstens, dass er diese Angewohnheit hat, aber nicht, warum und schon gar nicht, dass er einer Steuerung unterliegt. Der Mensch, dessen Redefluss kaum zu stoppen ist und der bei Dienstbesprechungen, Geburtstagsreden usw. ununterbrochen versucht, sich in Szene zu setzen, weiß bestenfalls – falls selbstkritisch –, dass das der Fall ist, aber kaum, dass er das fast wehrlose Opfer einer Steuerung ist.

Wird das Ego psychologisch beschrieben, dann ist immer die Rede von Personen und ihren Eigenschaften, aber das führt zu nichts: Es müsste um deren Steuerungen gehen, um die menschliche Ur-Software der Selbsterhaltung, der wir unterliegen.

Es handelt sich um ein allumfassendes Programm, dem wir alle ausgesetzt sind und unter dem wir alle ohne Ausnahme leiden wie an einer unsichtbaren Totalepidemie, einer Art generellen psychischen Seuche, die Goethe poetisch so benennt:

„Von der Gewalt, die alle bindet,
befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“
(Gedichte. Die Geheimnisse, 24. Strophe)

Es sind nicht die Menschen als Personen, die all die schlimmen menschlichen Eigenschaften produzieren, sondern das universelle Egoprogramm, das in jedem Menschen verankert ist und mal mehr, mal weniger zum Ausdruck kommt. Es ist unser tierisches Erbe. Die Menschen sind „nur“ ausführende Organe der Ursprungssoftware, die im Beispiel von Kain symbolisch zum Ausdruck kommt.

Diejenigen, die rechtsextreme Parolen brüllen und Migranten angreifen, sind tief im Innern nicht anders als alle anderen. Denn ausnahmslos alle Menschen haben den göttlichen Kern, ihre Geistseele in sich. Die Hasser unterliegen „nur“ wesentlich stärker dem Komplex der Fremdenfeindlichkeit des universellen Egoprogramms.  Es ist kein Unterschied der Qualität, sondern nur der Quantität. Es ist insofern ein Fehler, die Männer und Frauen der gegenwärtigen rechten Bewegungen, egal, ob sie zum eurokritischen, protestbürgerlichen, verschwörungstheoretischen oder völkischen Teil gehören, auf ihre irdische Oberfläche zu reduzieren, „… denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk. 23,24) (Das heißt natürlich andererseits nicht, deren Untaten zu ignorieren.)
Das Ego ist in jedem Menschen. Alle unterliegen dieser inneren Lenkung und ihren Attacken, nur nicht im selben Maß.  Insofern sind die autoritären, selbstverliebten oder ausgrenzenden Machthaber und ihre Wählerschaften nur Symptom, und zwar für uns alle – wenn auch mehr oder weniger.

Im Zug der Entwicklung von sogenannten „Fake News“, befördert durch die unzähligen Lügen des 45. US-Präsidenten, geht unter, dass jeder Mensch jeden Tag lügt. Insofern sind der Präsident und seine Entourage nicht anders als jeder andere Mensch. Nur bieten sie eine ideale Projektionsfläche für die breite Gegenöffentlichkeit, nun sagen zu können, wie sehr sie sich von ihm abhebt. Schon die alten Pharisäer „…dankten Gott, dass sie nicht so waren wie …“ die anderen. Die Trumpsche Unverfrorenheit, Skrupellosigkeit und Dreistigkeiten sind zwar in der Tat eine neue Dimension in der öffentlichen Kommunikation, aber nur in der Quantität. Sein Verhalten spiegelt das Prinzip des Verhaltens von uns allen.

Und da wir „von uns selbst nichts tun können“, sind wir alle qualitativ gleich strukturiert, nur unterschiedlich stark betroffen. So weh es auch tut: Dass das Ego in jedem ist, zeigt die Reaktion von vielen hochgebildeten und „toleranten“ Mitmenschen, die auf Rechtsradikale mit Verachtung (!) reagieren, die Wörter wie „Pack“, „durchgeknallte Leute“ oder „das sind keine Menschen“, verwenden und damit dasselbe tun wie die Adressaten, nämlich abwerten und Trennung statt Einheit aufbauen und dazu noch das Pharisäer-Prinzip verwirklichen.

Durch Projektion, also der Verlagerung der eigenen Syndrome (Balken) auf andere, fallen wir abfällig (!) über den Fremdenhass der anderen (Splitter) her. Jene brüllen „Durchrassung“ oder „Bevölkerungsaustausch“, und wir antworten vielleicht mit „Brauner Mob.“ Das zeigt aber, dass wir ebenfalls Hasser sind. Sonst würden wir solch geringschätzige Bezeichnungen vermeiden. Wir waren dann genau so aus der geistigen Einheit herausgefallen wie unsere Kontrahenten, nur nicht so krass und so auffällig. Gleichzeitig haben wir unsere Feindlichkeit auf diese anderen abgeladen.

Nach einer Landtagswahl zum sächsischen Parlament trat ein neu gewählter rechtsextremer Abgeordneter mit rassistischen Hetztiraden vor das Plenum und forderte die Ausgrenzung von Ausländern. Die anderen Abgeordneten reagierten derart, dass sie dem Sprecher den Rücken zukehrten. Sie antworteten also auf Ausgrenzung – mit Ausgrenzung
.

Das Ausgrenzen ist universell. Eine klassische Form ist es in Bezug auf Minderheiten, wie zum Beispiel die antisemitische Diskriminierung gegenüber den jüdischen Bevölkerungsanteilen durch die Jahrhunderte hindurch egal, ob in West-, Mittel- oder Osteuropa. Gegenwärtig sind die Ausgrenzungen in Bezug auf Schwarze, auf Flüchtlinge (v. a. aus Syrien) und auf Migranten sowie deren Formen deutlich in Europa zu sehen wie italienische Internierungslager in Griechenland oder Grenzzäune in den USA zu sehen.   
Das Ausgrenzen ist lebensnotwendig fürs Ego, denn nur so kann es sich selbst als anders und eigenständig erfassen und definieren. Das hat seine Bedeutung fürs Überleben, artet aber schnell aus, indem es die Notwendigkeit des sich Abhebens von anderen exponentiell überträgt auf die grundsätzliche Schaffung von Feindbildern: Wenn es nicht mehr der „Erbfeind“ bzw. der „Franzmann“ für die Deutschen vor dem 1. Weltkrieg ist, dann sind es die Juden, die Palästinenser, die Kommunisten, die Schwarzen, die Flüchtlinge, die Neonazis, die Ossis, die Wessis, der Nachbar, „die da oben“, die Kapitalisten oder die “Bedauernswerten“ (Hillary Clinton).         

Mit Fremden- oder gar Feindesliebe ist nicht gemeint, zum Gegner emotionale Bindungen oder gar Freundschaft aufzubauen. Es geht um geistiges Verständnis, die Sicht auf seinen/unseren spirituellen Wesenskern durch die äußere Erscheinung hindurch („Hindurchblick“). Es ist die Sichtweise der Seele, die sich nicht an Form und Gestalt orientiert, also nicht die Sinnesorgane nutzt,  sondern mit geistigem Verständnis durch die Oberfläche der Materie hindurch auf die andere Seele blickt. Sie erkennt sozusagen die Hand im Handschuh. Sie erkennt die Einheit der beiden Gottesfunken wie zwei Leuchtbirnen der Lichterkette, durch die dieselbe Lebensenergie fließt. Sie erkennt die Einheit der Finger der Hand, deren gemeinsamer Energiestrom des Blutes ihre Einheit ist, ihre Voraussetzung für ihre Existenz, für ihr Leben.

Man removes face showing lightn in landscape with question shaped clouds

Bestdesigns: Man removes face and shows inner space.  iStock 1069780080

Das Hinwegsehen über die Oberfläche ist nicht so wirklichkeitsfremd, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr kennt es jeder: In den ersten Monaten neuer Liebe ist jeder der Partner nur allzu bereit, über alle befremdlichen Eigenarten des anderen hinwegzusehen. Es ist die Liebe, die über die negativen Aspekte der Oberfläche hinwegsieht.

File: crane_beauty5.jpg  WalterCrane, BeautyandtheBeast.jpg (5.5.1875)
https://archive.org/stream/beautybeast00cra/beautybeast00cra#page/21/mode/1up Wikimedia Commons.wikimedia.org  

Bezeichnenderweise lässt die menschliche Liebe bei den normalen Liebenden durch das Drängen des Ego schnell nach. Aber das Hinwegsehen der jungen Liebe ist eine Erfahrung, die zumindest in Richtung Hindurchschau geht, obwohl sie auf der materiellen Ebene bleibt.  Gelingt der Transfer in die Vertikale, der Blick auf die Seele, beginnt der Ausweg aus dem individuellen Leid.

Wer hasst, zeigt, dass er nicht wahrhaft lieben kann. Insofern vergiftet Hass die Beziehungen zu anderen, aber auch den Hasser selbst, weil er sich selbst, d. h. seine Einstellungen von morgens früh bis abends spät dauervergiftet. Es ist eine Art Selbstverletzung. Wer würde ein Beil in die rechte Hand nehmen und sich damit die linke abhacken? Ganz sicher niemand, und doch tun genau dies die Menschen jeden Tag, weil sie das Verbindende der beiden Hände aus den Augen verloren haben.

Die Überwindung des Hasses auf andere (auch auf mich selbst) geht aber nur über die spirituelle Sicht auf den anderen, über die Erkenntnis seiner geistigen Identität. Entdecke ich dann meinen eigenen Hass, rettet mich das Bewusstsein meiner eigenen geistigen Identität. Wohin unauslöschlicher Hass letztlich führt, beschreibt Herman Melville in seinem Roman „Moby Dick“, er beschreibt den Weg zur Selbstvernichtung.

Deswegen gibt es in der Welt so selten echte Liebe, weil die das Ich-Ego überwindet und sich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken lässt, sondern immer die innere geistige Substanz des Menschen erkennt.

Das Böse auf der Welt wird nicht vom Menschen erzeugt, sondern vom Selbsterhaltungstrieb in ihm, der nicht erkannt wird. Denn die allgemeine Sichtweise beschränkt sich auf die Oberfläche, auf die Person. Von diesem Säugetiererbe können wir uns im Gegensatz zum Tier aber davon befreien.

Der Hindurchblick ist erforderlich, um uns aus der Heillosigkeit unseres Planeten zu befreien. Denn damit schalten wir den Hebel von irdischem auf geistiges Bewusstsein. Wir leben im Jammertal, weil wir nicht hinter die Kulissen schauen, daher auf Zwietracht gebürstet sind, den Hebel nach unten geschaltet haben und ihn dort lassen.

Wenn der Papst im Mai 2014 im Holocaust-Denkmal Yad Washem verständnislos fragt: „Mensch, wer bist du? … Was hat dich so tief fallen lassen?“, dann wird die gewaltige Hürde deutlich, die zu überwinden ist, um das zu tun, was Jesus vorexerziert hat, nämlich hinter die Maske der Person (lat. personare: hindurch(!)tönen) zu schauen.

Hindurchblick kann man üben, wenn man prüft, wie man gedanklich mit einem Raser umgeht, der, während man selbst auf der Überholspur ist, hinter einem mehrfach aufblendet, wie verrückt hupt, dann bei seinem Überholen den Vogel zeigt, droht und erkennbar schimpft. Man könnte dann anfangen zu erkennen, dass er nicht weiß, was er tut, weil er Opfer seiner unbewussten Steuerung durch den Selbsterhalt ist. Man kann Hindurchschau z. B. auch überprüfen, indem man die eigene Reaktion betrachtet bei einem, der zu dicht auffährt, einen Unfall verursacht und dann aggressiv die Verursachung nicht übernehmen will: Bleibt sie oberflächlich bei der Erscheinung oder schaut sie hinter die Kulisse der Person:
„Bejahe Tao in deinem Nächsten.“ (Tao Te King II, 54)

Ein Gedanke zu “6. Die Ursache des menschlichen Dramas: Personifizierung”

  1. Oh man, da haben wir und die nächsten Generationen noch Einiges zu tun, um unsere Sichtweisen wieder etwas mehr dem Punkt Nächstenliebe anzupassen. Voraussetzung dafür, ist ja erstmal die Erkenntnis und das am besten bei jeden Einzelnen.
    Das wird Jahrhunderte in Anspruch nehmen…

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