Die Finger einer Hand sind zwar individuell verschieden, bilden aber dennoch eine verborgene höhere Einheit: Das verbindende Element ist der gemeinsame Blutstrom, ohne den sie nicht existieren würden. Insofern sind etwa Daumen und Zeigefinger in Wirklichkeit mehr Einheit als Unterschied: Ohne Zeigefinger würde das Leben der Hand weitergehen, ohne Blutstrom sie aber absterben. Deshalb befindet sich der Energiestrom auch noch auf einer höheren Stufe wie das Feuer zum Rauch. Es bleibt dennoch nur innerhalb der horizontal-materiellen Ebene.
Überträgt man aber das Verhältnis von Fingern und Blutstrom auf das Leben, so entsprechen den Fingern die Menschen, wohingegen der Blutstrom mit seiner Energie der Existenz der Lebendigkeit entspricht, die es auf der Erde gibt. Diese Beziehung hingegen verläuft vertikal: Der Energiestrom ist geistig, im Gegensatz dazu sind die Menschen stofflich. Das Blut durchströmt den gesamten Menschen, das Leben alles Lebendige auf unserem Planeten. In der Bibel wird das verdeutlicht unter anderem durch die Schöpfungsgeschichte (Gen. 2, 7), in der hinduistischen Bhagavad Gita heißt es: „Alles, was lebt, … ist mein Gewand, …, der Geist darin bin ich.“  (XI, 7)

Diese göttliche Anwesenheit im Menschen, sein Leben als solches in Form seiner Seelenteile — darunter seine innere Stimme, sein Gewissen (siehe Kapitel 1) — wird in der hinduistischen Weisheit an mehreren Stellen hervorgehoben, in denen Gott Krishna spricht:

„Ich bin aller Wesen Leben.“ (X, 29)
Der Lebensgeist jedem Leib und in allen Welten bin ich.“ (XI, 9)
Der Lebensgeist weilt in eines jeden Herz.“ (XIII; 17)
„Im Herzen jeden Wesens ruht der Geist des Lebens.“ (XVIII, 61)

Im Christentum wird dies schwerpunktmäßig im Johannes-Evangelium beschrieben;

Ihr seid alle Götter.“ (10, 34) und „Vater in mir“ (10, 36),
Ich werdet noch größere Werke tun als ich.“ (14, 12),
der Vater in mir (14, 10) und „Der Geist der Wahrheit in euch.“ (14, 17),
 „ich in euch“ (14, 20), „er, der in euch ist, ist größer als der, der in der Welt ist“ (1. Joh. 4,4).

Jesus und Paulus wenden sich zwar meist direkt an ihre Anhänger – ähnlich Mohammed im Koran –,  aber in jedem Fall kommt das Prinzip der göttlichen Gegenwart im Innern des Menschen zum Ausdruck, was die großen christlichen Mystiker wie Angelus Silesius weiter ausführen:

Der Himmel ist in dir,
suchst Gott du anderswo,
du fehlst ihn für und für.“

(Cherubinischer Wandersmann (I, 82)

„Nicht du bist, der da lebt,
denn das Geschöpf ist tot:
Das Leben, das in dir dich leben macht,
ist Gott.“
(II, 207)

Der Dominikanermönch und Generalvikar Meister Eckhart schreibt im Spätmittelalter, dass im Seelengrund jeder Mensch selbst göttlich ist:
„Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund ist Gottes Grund.“ (Predigt 6)
Er spricht immer vom „Seelenfünklein“, dem „Licht in der menschlichen Seele“, das die unvergängliche Essenz des Menschen darstellt, einem Teil des göttlichen Feuers, das in jedem Menschen enthalten ist.

Im Grunde hat so gut wie jeder Mensch unzählige Erfahrungen mit diesem Seelenfunken in ihm: Als Bauchgefühl, als „erster Gedanke“, als Geistesblitz, als Vorahnung, als Gewissen und auch als Ideen: Die Menschen denken, dass ihre Ideen die ihrigen sind, weil ihnen der Seelenbegriff unklar ist.

„Jeder, der halbwegs schöpferisch arbeitet, macht ja die Erfahrung, dass da etwas wirkt, das willensstärker ist als er selbst. … Die wirklich guten Textstellen kann man sich nicht ausdenken, die kommen, die sind plötzlich da. … Meine besten Texte waren immer noch weiser als ich.“  (SPIEGEL 18/2018)  

Keith Richards hat die Melodie von „I can’t get no satisfaction“ beim Hochfahren aus dem Schlaf in einer Mainacht des Jahres 1965 empfangen.       
Dave Steward (Eurythmics) berichtet, dass „seine“ Melodie zu Sweet Dreams „wie aus dem Nichts“ zu ihm kam.          
Paul McCartney bekundet, dass er die Melodie zu „Yesterday“ im Traum hörte.
Paul Simon berichtet über die Entstehung seines Ausnahme-Hits „Bridge over troubled water“:
„Ich habe keine Ahnung, woher es kam, es kam einfach. In der einen Minute war noch nichts da, und in der nächsten Minute war die ganze Zeile da. …  So unvermittelt kam es. Ich erinnere mich, es war besser, als ich es sonst immer schrieb.“ (nytimes.com/…/Upfront: PaulSimon/Oct.27,2010)           

Man muss nicht Ludwig van Beethoven oder Keith Richards sein, um die ungeheure Vielfalt und Macht des inneren Ideengebers zu empfangen, denn die Menschen erfahren sie so gut wie jeden Tag, nur deuten sie sie nicht als solche, sondern halten sie für die ihre eigenen.           
Die Genies aber wissen, dass ihre Eingebungen nicht aus ihrem Verstand kommen. Denn es gibt Erfahrungen in unserem Leben, bei denen man sofort merkt, dass sie nie und nimmer Produkte unseres Verstandes gewesen sein können, weil sie völlig außerhalb unseres Speichers, unserer Vorerfahrungen und unseres Horizonts zur Problemlösung liegen.     

Leibniz sagte über sich:          
„Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.“   
 Puccini sagte: „Ich komponiere nicht. Ich mache, was meine Seele mir sagt.“
Der Mittelstürmer Harry Kane sagt über seine unzähligen Torerfolge aus:  „Meine Gedanken schalten komplett aus. Dann das Tor. Wie das passiert. Ich weiß es nicht!“

Das Verständnis vom Göttlichen in der Seele der Menschen hat bei der Kirche natürlich sofort dazu geführt, dass Meister Eckhart der Häresie angeklagt wurde und seine Werke vom Papst zum Teil als Irrlehren verboten wurden (Johannes XXII, März 1329: Erlass „in agro dominico“). Der Vorwurf der Ankläger war derjenige der „Selbstvergottung“, obwohl aus Eckharts Predigten klar hervorging, dass im Gegenteil die absolute Demut die Grundlage seiner Erkenntnis war.
Für die Kirchen war die Idee, dass im Menschen etwas Göttliches steckt, trotz obiger Aussagen Jesu über den, „der in euch ist“ (1. Joh. 4,4) auch noch in einer weiteren Hinsicht gefährlich: Denn ihre Lehre, dass Jesus der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch sei, würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Beispielhaft lassen sich die folgenden Passagen über einen solchen Jesus als ein Credo dieser Lehre verstehen:

„Der Glaube, dass es noch andere gibt, die seinen Platz einnehmen könnten oder ihn in die Kategorie eines religiösen Führers herabzumindern, hieße, den zentralen Grundsatz des christlichen Glaubens leugnen, nämlich dass er der Erlöser der Welt ist und es keinen anderen gibt. Das Christentum ist auch ausschließend in dem Sinn, dass es seinen Nachfolgern nicht erlaubt, ihren Glauben mit dem anderer Religionen zu vermengen. Er ist nicht das Haupt einer Religion, sondern Haupt und König der Menschheit.“
(R. C. Chalmers; John A. Irving: Der Sinn des Lebens nach den fünf Weltreligionen. Weilheim 1967. Originaltitel: The meaning of life in five religions. Toronto 1965)

Abgesehen davon, dass die christlichen Theologen in Bezug auf Jesus noch nie den Unterschied zwischen einzigartig ( exceptional: also so wie einzig) und einzig (sole) betrachten wollten, tobte jahrhundertelang inhaltlich und machtpolitisch die Frage nach Jesu Identität, nach „wahrem Gott und wahrem Menschen.“ Die eine Seite hob das Menschliche des Menschen Jesus hervor, der aber mit besonderen Gaben ausgestattet gewesen sei. Die Gegenseite vertrat die Position der Verkörperung Gottes in einem sterblichen Menschen. Zu einer Art Kompromiss zwischen „Menschengott“ und „Gottmensch“ wurde die „Zwei-Naturen-Lehre“ wie bei Martin Luther: „Im Spiegel des Menschleins Jesu erkenne ich den wahren Gott.“ Dabei handelte es sich – und das bis heute – um ein theoretisch abgehobenes Gerangel um die Auslegung von Bibelstellen durch Konzile, Theologen, Kaiser und Bischöfe.          
Dabei sind diese beiden Welten, also der Geist neben der Materie, tatsächlich in der alltäglichen Erfahrung der Menschen präsent (Intuition, Bauchgefühl, Inspiration, Eingebung, Einfälle), aber die Kirchen begrenzen das höhere Leben bis heute auf Jesus, um ihre Lehre erhalten zu können. Sie betonen ihre Sicht auf ihn als die des einzigen Erlösers der Welt und werten damit Buddha, Mohammed, Zarathustra, Mahavira, Mose, Nanak, Krishna oder Lao Tse ab.
Eine Lehre hingegen, die darauf gerichtet ist, den göttlichen „Funken“ in jedem – egal, ob bei ihm völlig eingemauert oder eben voll entfaltet – aufzudecken, („denjenigen, der in euch ist“), so wie Jesus es versucht hat, richtet ihren Blick auf das individuelle Erlösungspotenzial in jedem, wie es der Hindumönch Vivekananda  betont:   

„Wisst Ihr, wie viel Macht, Kraft und Größe in Euch verborgen liegt? Der Mensch hat erst einen unendlich kleinen Teil seiner wirklichen Macht zur Offenbarung gebracht. Wer ihn klein und schwach wähnt, irrt. Kennst Du alles, was in Dir steckt? In Dir sind unbegrenzte Kraft und Glückseligkeit. In Dir lebt der Weltengeist, dessen inneres Wort das einzige ist, auf das Du horchen … solltest. Erkenne, wer Du in Wirklichkeit bist, die keinem Tode unterworfene, allwissende … Seele. Erinnere Dich dieser Wahrheit Tag und Nacht, bis sie zu einem Bestandteil Deines Lebens geworden ist und Dein Denken und Tun bestimmt. Denke daran, dass Du … nicht der schlafende Alltagsmensch bist. Erwache und erhebe Dich … und offenbare Deine göttliche Natur.“

Die Kirchen hingegen haben spätestens vom Mittelalter an nichts anderes getan als auf ihren Gläubigen als armen Sünderlein herumzureiten, um aus Gründen der Machterhaltung deren irdischen Schlechtigkeiten herauszustellen, anstatt sie geistig aufzubauen und ihnen das Apostel-Wort von der Größe des inneren geistigen Menschen zu zeigen: „Der, der in euch ist, ist größer als der, der in der Welt ist.“ (1. Joh. 4, 4) Für die Abweichler („Ketzer“) gab es die Scheiterhaufen. Diese sind ihnen nun abhanden gekommen, und die Sache mit den Sünderlein können sie sich heutzutage auch nicht mehr erlauben. Dabei sind aber immer noch Ausgrenzung, Exkommunikation oder Entzug der Lehrerlaubnis für kritische Geister (Küng) geblieben.
Die Idee, auf „mich in euch“ hinzuweisen, vermeiden sie nach wie vor. Es ist immer noch ihr Credo von Jesus als einzigem Gottessohn. Die Idee, dass seine Erlösungslehre den inneren Messias in jedem Menschen zeigt und auch noch alltagspraktische handfeste Belege enthält, ist für sie undenkbar. Wenn nun der schlesische Priester und religiöse Dichter Angelus Silesius schreibt: „Der Himmel ist in dir, suchst Gott du anderswo, du fehlst ihn für und für“ (Cherubinischer Wandersmann (I, 82), dann ist dies weit mehr als irgendeine Gegentheorie. Denn der „der Himmel in dir“, also das „Reich Gottes“ (Mt. 6, 33), der spirituelle Teil des menschlichen Bewusstsein, ist eine praktische Wahrheit, die von jedem zu jeder Zeit gesucht und angewendet werden kann: Er kann bei der inneren Stimme „anklopfen“, damit einem „aufgetan“ wird, er kann auf das Bauchgefühl hören und sich dessen Praktikabilität im Alltag bewusst machen, er kann sich mit der Meditation auf innere Führung vorbereiten, also zunehmend den eigenen Willen ersetzen durch „Dein Wille geschehe“ usw.

Was noch einmal die Alltagsmenschen betrifft in Bezug auf die Frage nach der Einheit der Vielfalt wegen des Blutstroms, so bekümmert sie das nicht: Sie würden allenfalls sagen, dass nur die Funktion der Finger für sie wichtig sei, was kümmere sie das Blut? Sie sehen den Unterschied zwischen Feuer und Rauch nicht. Aber auf der stofflichen Ebene würde eine Störung des „Blutstroms“ (Durchblutungsstörung wie Gangrän, Sklerose oder Verkalkung) zu schweren Krankheiten der „Hand“ führt, bei einem ganzen Arterienverschluss sogar zum Absterben der Hand — oder des Beins: Raucherbein. Wie das Blut die Finger durchströmt, so durchströmt die Lebendigkeit als solche alles Lebendige. Diesem Verhältnis zwischen „Finger“ und „Blut“ entspricht dasjenige zwischen dem Bewusstsein der stofflichen Menschen und dem Göttlichen (in ihnen): Es ist die –- vertikal-geistige — Beziehung zwischen Mensch und Gott. Die Anwesenheit Gottes im Menschen und seine Verbindung zu ihm ist die geistige Liebe — Agape (griech.) — genannt, wie sie im Kapitel 17 beschrieben ist. Wird das Göttliche im Menschen, das sich unter anderem als Feindesliebe ausdrückt, nicht gekannt, nicht verstanden und nicht gepflegt, liegt eine Störung des Energiestroms vor: Das Ergebnis nennt sich Krankheit, Gewaltanwendung, Rassismus, Krieg und ganz allgemein Plage, Qual und Leiden usw. (Siehe Kapitel 12, 14, 21). Das kann man daran sehen, dass es bei individueller Aktivierung von Agape Krankheiten beim Individuum nicht mehr gibt. Bei Aktivierung mit kollektiver Reichweite wie bei Gandhi oder Mandela lösen sich Rassismus und Gewalt auf.

Der unsichtbaren höheren Einheit der Finger entspricht auf der geistigen Stufe die Einheit aller Menschen durch die spirituelle Energie, die in allen ist. Sie waltet in allem so wie die einheitliche und gemeinsame Atmosphäre von allen eingeatmet wird.
(Fast) sämtliches Leid der Menschen ist durch ihr Unwissen bedingt: Seine Überwindung geschieht durch die Aktivierung spirituellen Bewusstseins, die Bewusstmachung von Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit im Individuum: Auch wenn die Teilhabe an diesen Faktoren für den Einzelnen tatsächlich nur ein Staubkorn ist, ist, hat sie ungeheure Konsequenzen für die seine Lebensführung, die durch Erfüllung, Sinngebung, Leidfreiheit und Geschütztheit gekennzeichnet ist:
„Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich dir nahen.“ (Ps. 91, 10)
Alle diejenigen, die sich nachhaltig auf die Suche nach spirituellem Bewusstsein, also dem „Reich Gottes“ gemacht haben, können umfangreich berichten, was ihnen alles nicht passiert ist.Das zeigt sich zwar auch an den vielen und oft fast unglaublichen Rettungen, die jeder aus den Medien kennt und die die einen oder anderen selbst erlebt haben, aber das waren für sie Zufälle und vor allem nicht durchgängiges Prinzip.

Die ins Bewusstsein eingeübte geistige Parallele der „Finger“ zueinander, also das der eigenen Geistseele und dann das zu der jedes anderen Menschen nennt Jesus wie gesagt Feindesliebe. Sie hat mit menschlichem Liebesempfinden nichts zu tun, weil es bei ihr (agape) weder um die stoffliche Person geht („Gott schaut die Person nicht an (Apg. 10, 34; Rö. 2, 11; 1. Sam. 16, 7) noch um  irgendwelche Sympathien, sondern um rein intellektuelles Verständnis (siehe Kapitel  17). Jesu drastischer Begriff macht deshalb auch deutlich, dass es keine Rolle spielt („wie ich euch liebe“) , ob agape bei dem betreffenden „Nächsten“ entfaltet ist und lodert oder ob sie etwa wie bei Mördern vollständig blockiert ist. Deshalb ist der Begriff in besonderem Maß missverständlich: Ausnahmslos jeder Mitmensch ist Nächster. Das macht Jesus an andern Stellen halbwegs klar, wenn er zum Beispiel sagt: „Ihr seid alle Götter“ oder „Ihr werdet noch größere Dinge als ich vollbringen.“
Die alltägliche Praxis zeigt, dass ab dem Moment der geistigen Sicht des Konkurrenten, des Feindes — welches Übeltäters auch immer — sich das gesamte Verhältnis in diesem Mikrokosmos entspannt und harmonisiert oder – zumeist – dass der Gegner aus dem persönlichen Umfeld verschwindet.
(Wichtig beim Einüben der geistigen Sichtweise ist die Reihenfolge: Es geht grundsätzlich darum, bei sich selber anzufangen und sich auf die Bewusstmachung der eigenen Geistseele zu konzentrieren, die Kommunikation mit der eigenen inneren Stimme einzuüben. Erst dann bringt es was, diese geistige Sicht auf die Gegenüber zu übertragen bzw. auszuweiten. Der Grund dafür ist nicht nur Jesu Anweisung in Mt. 22, 37 – 38, sondern liegt darin, dass  man in der Praxis keine ausreichend stabile Basis im Bewusstsein über sich selbst hat, wenn man mit 39 anfangen würde. Die Gita sagt das so: „Größer als das größte Werk bleibt stets das Einssein mit dir selbst.“ II, 49)

Dass die Belebtheit eine einzige ist, kommt in Jesu Feindesliebe überdeutlich zum Ausdruck. Ohne sie wäre die Lebendigkeit als solche nicht zu verstehen. (In der Hindu-Weisheit sind die Begriff Leben, Geist, Wahrheit und Gott identisch.) Die Auffassung, es gäbe mein Leben und im Unterschied dazu deines und dann noch weitere in den anderen Menschen, ist ein Trugschluss: Wer an einem Grab steht und denkt, dass das Leben des Verstorbenen im Gegensatz zum eigenen nun beendigt worden sei, erkennt nicht, dass wie in einer Lichterkette die Leuchtenergie  bestehen bleibt, auch wenn ein Leuchtkörper ausfällt. Im Christentum – wie auch in Islam und Judentum – kommt das einzige und gemeinsame Leben hauptsächlich  bei den Mystikern um Ausdruck; in den östlichen Religionen ist es eine Selbstverständlichkeit, wie sie in der Gita vielfältig betont wird:

„Der Lebensgeist weilt in eines jeden Herz.“ (Bhagavad Gita XIII, 17)
„Ledig des Leids … wird, wer auf aller Wesen Wohl bedacht ist
und in allem Leben Gott gewahrt.“
(V, 25)

„Vielfach offenbare ich mich, und zwar in Erde, Wasser, Feuer, Luft, im Äther, Gemüt und Sinn — und in den Wesen walte ich;
dies ist mein sichtbares Sein. Doch nun erkenne das höhere auch, das all-belebende,
durch das ich die Welten ins Dasein rief:
Ich bin des Lebens Born, erkenne es, ich bin der Quellgrund der Wesen, oh! Ardjuna.
Ich bin der Ursprung alles Seins, der Welten Anfang und ihr Ende.“ (VII, 4-6)

Bei den christlichen Mystikern sieht das unter anderem so aus, wobei neben Meister Eckhart („Von der Einheit der Dinge: Predigt 13), Jakob Böhme, Johannes Tauler oder Heinrich Seuse der schlesische Theologe Angelus Silesius die in seinem Cherubinischen Wandersmann in einzigartiger lyrischer Form zum Ausdruck bringt:

„Nicht du bist, der da lebt, denn das Geschöpf ist tot;
das Leben, das in dir dich leben macht, ist Gott.“
(Cherubinischer Pilger: II, 207)

„Sieh, wie ein Mensch und Gott, ein Löwe, Lamm, Riese und ein Kind
in einer Kreatur ein einiges Wesen sind.“
(II, 212)

„Der Mensch hat nicht vollkommene Seligkeit,
bevor nicht die Einheit verschluckt hat die Anderheit.“ IV, 10)

„In Gott leben, schweben und regen sich alle Kreaturen. …
Was fragst du dann noch nach des Himmels Spuren?“ (IV, 71)

Übereinstimmend kommt das eine Leben, dessen Begrifflichkeit mal als Gott, mal als Leben, mal als Wahrheit oder mal als Sein zum Ausdruck, wie es beispielsweise der Vergleich zwischen Judentum, dem Tao Te King  und der Bhagavad Gita zeigt:

 „Und Gott machte den Menschen aus einem Erdenkloß und blies ihm den Hauch des Lebens in seine Nase ein.“ (Gen. 2, 7)
„Haben wir nicht alle einen Vater?“
(Mal. 2, 10)

 „Diejenige Erkenntnis, die blind für die Einheit allen Seins ist und jedes Wesen als von den anderen getrennt wähnt, haftet am Trugschluss der Vielheit.“  (Ü.: K. O. Schmidt) (Gita 18, 21)

„Wer … nach innen blickt, gelangt zur Schau des Unoffenbaren.
Außen und innen sind verschieden im Namen, aber eins im Wesen.
Dieses Einssein ist … Ausgangspunkt aller Offenbarung.“
(Lao Tse, Tao Te King 1)

„Wer sich im Geist und Bewusstsein mit allen eins weiß, bleibt vor Anderheit und Zwiespalt bewahrt.
Wer –- um Klarheit bemüht – nach innen blickt, gelangt zur Schau der Wahrheit.“
(10)

Die Menschen nehmen jeden anderen Menschen nur als stofflichen Gegenüber wahr – ohne „Seelenfünklein.“ Sie sehen nicht, dass das Leben dieser Gegenüber sich zu einem selbst verhält wie der Daumen zum Zeigefinger und nur dadurch Jesu Mahnung der Feindesliebe erfüllt werden kann. Kein Daumen käme auf die Idee, seinen Zeigefinger zu betrügen, zu verletzen oder gar zu „entfernen“, wie es die Menschen mit ihren Konkurrenten im Wirtschaftsleben tun, mit ihren Tötungen, Morden, Hinrichtungen, Vernichtungskriegen und Völkermorden.
Der Daumen hingegen „weiß“, dass er und die anderen Finger praktisch untrennbare Bestandteile der Hand sind. Seine Abtrennung von ihr wäre sein Tod. Ein Symbol für diesen Zusammenhang stellt im Christentum das Gleichnis vom Verlorenen Sohn dar.
Die gemeinsame Substanz unseres Existierens ist das eine Leben in uns. Es ist unser göttliches „Erbe“, die wir verlorene Söhne sind, erst „prassen“, dann „verderben“ und erst durch absolute Verelendung „uns aufmachen“ und zum Vater zurückgehen.

Durch unser Leben sind wir miteinander mit allen und mit allem verbunden. Das Leben ist eben die Einheit allen Seins. Wer dies erkennt und lebt, der lebt im Einklang mit allem und allen, der lebt in einem Bewusstsein, das das Christentum das  „Reich Gottes“ nennt. Er ist dadurch geliebt, versorgt und umfassend gesichert und geschützt. Die Lebenspraxis der geistig aufgeklärten Mutigen unter diesem Schirm stellt dies als konkrete tagtägliche Erfahrung unter Beweis.

Wie eine Lichterkette verschiedene Glühleuchten haben kann, einige mit 10 Watt, andere mit 100 und deshalb unterschiedlich hell leuchtende, einige mit kleiner Fassung, andere farbig usw., so ist es dieselbe Energie, die das Leben der Träger ausmacht. Sie ist es, „was die Welt / im Innersten zusammenhält.“ (Goethe, Faust I, Nacht) Ohne sie wäre die Lichterkette überhaupt keine; sie wäre nur leblose Plastik. Die Glühbirnen sind Träger des Lichts, aber nicht das Licht selbst. Wir identifizieren uns immer mit der Form der Glühbirne, nie mit deren Energie, unserem göttlichen Potenzial, vor allem unserer göttlichen Identität.

Fast alle Menschen identifizieren sich nur mit ihrem materiellen Sein. Deshalb entwickeln sie kein Verständnis für den Wandel der Formen: Man ist erst Kleinkind, dann Erwachsener, dann alter Mensch, aber immer ist man Leben. Und wenn das Blatt des Baumes verwelkt und abgeworfen wird, stirbt nicht das Leben des Baumes. Der Kern des Menschen ist das Leben, also die irdische Form der geistigen Zeugung: Gott blies dem Erdenkloß seinen Atem ein.
Ich bin mit jedem anderen Menschen wesensgleich, d. h., wir haben dieselbe Ursache und dieselbe Substanz, die der islamische Mystiker Rumi so veranschaulicht:

„Zähle hundert Äpfel oder Quitten:     
Sie bleiben nicht hundert, sondern werden eins,
wenn du sie zu Sirup machst.  
Die Essenz kennt keine Teilung.“        
(Mesnevi I, 685)         


Jeder Mensch ist mir im Kern näher als ein siamesischer Zwilling, er trägt wie ich das hohe ICH (Ex. 3,14), das eine Leben, die Intuition, das Gewissen, die innere Stimme in sich, ob er sich nun so verhält oder nicht. So wie wir dieselbe Luft atmen, haben wir alle ein und dasselbe Leben. Wer sein Gegenüber nur als Person aus Fleisch und Blut auffasst und nicht auch und vor allem als geistiges/göttliches Wesen, der lässt sich von der Oberfläche blenden. Der sieht nicht die Hand im Handschuh. So bildet mein Verhältnis zum anderen, v. a. bei einem Feind, dasjenige zum Schöpfer ab. Das wäre genau so, als wenn ich mich mit einem Bauchredner nach seiner Aufführung unterhalte und mich dabei ausschließlich an die Puppe auf seinem Arm richte.
Dabei meint diese Erkenntnis der Einheit in der Folge beileibe nicht, zum Beispiel dem Feind  um den Hals zu fallen. Das wäre ja irdisch emotional, wobei es auf der geistigen Stufe um rein verstandesgemäßes Verständnis geht. Im Gegenteil entbindet es vielleicht überhaupt nicht davon, ihn seiner irdischen Strafe zuzuführen. Es geht einfach „nur“ das um Verständnis der gemeinsamen Substanz.  Dann – und das ist die Weiterentwicklung – (ver)schwinden die Feindschaften zwischen den Menschen.

Der Blick auf den äußeren Menschen verhüllt den Blick auf seinen inneren Wesenskern. Diese Fähigkeit soll im Folgenden mit dem Begriff „Hindurchblick“ (buddhistisch: „Tiefblick“) bezeichnet werden. Diese geistige Sichtweise durch die Oberfläche der Person hindurch auf die Hand im Handschuh ist wie gesagt zentraler Bestandteil der Feindesliebe. Die gemeinsame Lebensenergie ist der Grund für die innere Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, jenseits aller äußerlicher Vielfalt. Die Pädagogin Maria Montessori setzte dieses Prinzip in ihrer vorschulischen Erziehungsarbeit um:

„Das Geheimnis der Erziehung ist, das Göttliche im Menschen zu erkennen …“
(Kleine Schriften 4. Die Stellung des Menschen in der Schöpfung)

Die Erfahrung der vergangenen Jahrtausende zeigt, dass die Mahnung des Orakels von Delphi, sein wahres Selbst zu erkennen (gnothi se auton), noch nicht ansatzweise erfüllt ist. Aber ausschließlich mit deren Realisierung ist erst mal individuelle Erlösung aus dem „Jammertal“ (Luther) unseres Planeten möglich. Mit anderen Worten: Ohne die Erkenntnis der eigenen Doppelnatur (Kap. 1), irdisch (Triebseele) und geistig (Geistseele), kann es für den Menschen keine Erlösung geben. Über das „unbewusste Bewusstsein“  der Selbsterhaltung des Säugetiers hinaus geht es um das Bewusstsein seiner geistigen Identität, um das  „Reich Gottes“, das nirgendwo geografisch oder im Weltraum zu finden ist, sondern nur in ihm selbst. Es geht um die Befreiung eben dieses „gefangenen Glanzes“ (Robert Browning: Paracelsus). Damit verlässt man den Weg der Puppe des Bauchredners, die versucht, ohne ihn zu leben.

Diese im eigentlichen Sinn verstandene Menschwerdung, die Bewusstwerdung der eigenen inneren Essenz, findet sich in einer Fabel aus Ghana wieder, in der ein Adlerküken in menschliche Hände gerät und auf dem Hühnerhof von den anderen Hühnern das Verhalten eines Huhns erlernt. Erst eine kundige Person eröffnet ihm den Gebrauch seiner Flügel, woraufhin der mittlerweile ausgewachsene Adler nach vielen Versuchen das Fliegen verwirklicht und der Sonne (!) entgegenfliegt.

MR1805: 3D illustration with sea eagle. Stock 121774692

Den Weg vom „Huhn“ zum Adler vollzieht Neo im Film „Matrix I“, den Weg von Kleinganoven zum Auserwählten. Diese Art von Weg sind alle spirituellen Lehrer, Trainer, Meister, Heiler, usw. zu ihren Bestimmungen gegangen, gegenwärtig solche Autoren wie Tolle, Walsch und viele andere. Dieses Potenzial ist in jedem Menschen angelegt, unabhängig davon, in wie vielen unzähligen Etappen bzw. Reinkarnationen er diesen Weg zurücklegt.

Der spirituelle Weg befreit von der negativen Egosteuerung, erzeugt eine wesentlich erhöhte Frustrationstoleranz und bringt Selbstachtung hervor, ein bislang nicht gekanntes Selbstwertgefühl. Man wird dann zum Ausdruck derjenigen Instanz, die man eigentlich schon ist, die aber „aktiviert“ werden muss: „Werde, der du bist.“ (Pindar)

3 Gedanken zu “3. Äußere Verschiedenheit und innere Einheit aller Menschen”

  1. Dieser Beitrag löst gerade in mir ein Bild aus und zwar Menschen die sich von ihren Fesseln lösen und sich aufrichten und ins Licht schauen und strahlen.

  2. Ich kann hier die Geschichte vom hässlichen Entlein beisteuern.
    Da gibt es diese Stelle, als es immer noch glaubt, nur ein hässliches Entlein zu sein:
    „… Und vorn aus dem Dickicht kamen drei prächtige, weiße Schwäne; sie brausten mit den Federn und schwammen so leicht auf dem Wasser. Das Entlein kannte die prächtigen Thiere und wurde von einer eigenthümlichen Traurigkeit befangen. „Ich will zu ihnen hinfliegen, zu den königlichen Vögeln! … Diese erblickten es und schossen mit brausenden Federn auf dasselbe los. … Es neigte seinen Kopf der Wasserfläche zu und erwartete den Tod. – Aber was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, das kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr, häßlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war…“

    Ich will damit sagen, dass man manchmal „Schwäne“ braucht, die einem spiegeln, wer man eigentlich ist.

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