Nun, dies sind bislang alles nur Annahmen, Behauptungen, Meinungen, Aussagen und Sichtweisen von mehr oder weniger weisen Menschen. Aber – Pilatusfrage – was ist Wahrheit? Sind die obigen Auffassungen wahr?

Wie ist die objektive Wahrheit der Grundfragen des Lebens zu erkennen: Die einen sagen, die Erderwärmung sei menschengemacht, die anderen das Gegenteil; wieder andere behaupten, das Verhältnis sein etwa 50:50. Die einen sagen, die nationalen Grenzen müssen für Zuwanderer geschlossen werden, die anderen sagen, sie müssen geöffnet werden, wieder andere sagen, sie müssen für den Familiennachzug oder für diese und jene geöffnet bleiben oder eben geschlossen werden. Für alle ist ihre Sicht der „Wahrheit“ nicht vom Allgemeinwohl, sondern von ihren eigenen Ansichten bzw. Interessen geleitet. Wo ist auf dieser Skala objektive Wahrheit zu finden?

Don Quijote hält Windmühlenflügel für böse Riesen, der Sozialist hat andere Wahrheiten als der Kapitalist und der Demokrat andere als der Rechtspopulist. Jeder der Zeugen vor Gericht hat seine Version, die sich von den anderen unterscheidet. Wer Impfungen für Implantierungen von Chips durch dunkle Mächte hält, glaubt auch, dass Windmühlenflügel böse Riesen sind. Besonders deutlich wird der Umgang mit „Wahrheit“ in jeder Talkshow oder Gerichtsverhandlung, in jedem Nachbarschaftsstreit, in jeder Parlamentsdebatte, bei jeder Wahl, die für gestohlen erklärt wird und bei jeder Schiedsrichterentscheidung, ob das Foul nun elfmeterreif war oder nicht.

Weiterhin können wir die Gesamtheit der Welt nur bruchstückhaft erfassen und sehen diese dann auch noch unter unterschiedlich gewichtigen persönlichen Schwerpunkten, unter sozialen, wirtschaftlichen, nationalen, familiären, politischen, militärischen, usw. Es können dann integrative oder ausgrenzende sein: Bergpredigt, Mein Kampf, Das Kapital, usw. Jeder ist individuell ein Stück weit Don Quijote.

Die südasiatische Weisheit, hier als Beispiel aus dem buddhistischen Pali-Kanon (Udana VI.4) prangert unsere subjektiven „Wahrheiten“ und Blindheiten so an:

Einst lebte in Savatthi ein Maharadscha. Er befahl: Geht und wo ihr einige von Geburt an (!) Blinde findet, lasst sie alle hier zusammenkommen und ihnen einen Elefanten vorführen. Einer wurde zum Ohr geführt, einer zum Stoßzahn, einer zum Bein, einer zur Schwanzquaste, usw. Dann befahl der Herrscher den Blindgeborenen: „Sagt mir, was ist ein Elefant!“ Da antwortete der, der den Stoßzahn zu fassen bekommen hatte: „Ein Elefant ist eine Art Hakenpflug.“ Der das Bein berührt hatte, antwortete: „Ein Elefant ist wie ein Baumstamm.“ Der mit der Schwanzquaste erklärte, dass ein Elefant ein Besen sei, usw. Dann prügelten sie aufeinander ein. Darauf sagte der Maharadscha: „Ebenso sind alle Pilger unterschiedlicher Schulen, blind, augenlos, sehen nicht, was Sinn macht und was Unsinn, was Wahrheit ist und was Unwahrheit. Deshalb sind sie in Streit und verletzen einander.“ (Wikipedia: Die blinden Männer und der Elefant)     

Blind men and an elephant. Mittelalterlicher Jain-Tempel. Anekantavada Doktrin artwork.jpg
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Tatsächlich sehen die Menschen erst einmal nur Bruchstücke der objektiven Wahrheit. Vor allem aber biegen sie diese Bruchstücke dann so lange zurecht, bis sie in ihre Vorstellungswelt hineinpassen, egal, ob es sich um politische, ökologische, soziale oder ökonomische handelt. Das klassische Beispiel ist eben Don Quijote, der die Flügel einer Windmühle zu bösen Riesen erklärt und sie im Galopp mit angelegter Lanze angreift. Ein klassisches Beispiel ist das Foto der Amtseinführung von Donald Trump 2017, das eine im Vergleich zu dem der Obama-Inauguration weitaus geringere Teilnehmerzahl zeigt und die er als überwältigende Mehrheit bezeichnete – was seine damalige Sprecherin zur Erfindung des Wortes „alternative Fakten“ bewog.
Man benötigt aber weder Don Quijote noch Donald Trump, um das individuelle Finden von „Wahrheit“ zu beschreiben. Da genügt ein Blick auf die alltägliche Praxis, die erst einmal zeigt, dass die individuelle Wahrheit eben immer vom unterschwelligen Einfluss der jeweiligen Form der Selbsterhaltung abhängt; die Wahrheiten des Unternehmers sind andere als die des Gewerkschafters. Und das ist noch nicht alles, denn zu all diesen Schwierigkeiten, sich der Gesamtwahrheit und/oder objektiven Wahrheit annähern zu können, kommt ja auch noch die Unkenntnis der übergeordneten geistigen Wahrheit hinzu; der Elefant bildet ja nur die stoffliche Oberflächenwelt ab und nicht den spirituellen Überbau (siehe Platons Höhlengleichnis).

Das berühmte Gedicht von John Saxe (The Blind Men and the Elephant) endet mit den Worten (in freier Übersetzung; siehe Wikipedia):

„Häufig im Krieg der Theologen    
bekämpfen sich Koryphäen. 
Was der eine als Wahrheit hat erkannt,     
die anderen als Lüge schmähen,     
und plappern über ´nen Elefant,    
den keiner hat je gesehen!“

Wer sich bei Wikipedia einmal unter dem Stichwort „Theodizee“ also zu der Frage, warum es das Leid auf der Welt gibt, die Antworten der einzelnen Theologen anschaut, der erkennt, dass es „bei 50 zur Verfügung stehenden Vorgaben 51 Antworten gibt.“   
Unsere Probleme mit der Wahrheit sind auf jedem Parteitag, in jeder Konferenz und in jedem Familienkrach zu besichtigen. Wir sind zunächst einmal weit davon entfernt, Anspruch auf die „Wahrheit“, auf das Verständnis des „Elefanten“ erheben zu können.
Zum Erkennen objektiver Wahrheit bemerkt Zhuangzi (Dschuang Dsi), ein taoistischer Weisheitslehrer vor über zweitausend Jahren in seinem „Wahren Buch vom südlichen Blütenland“ (II , 10):

„Angenommen, ich diskutiere mit dir; du besiegst mich, und ich besiege dich nicht. Hast du nun wirklich recht? Habe ich nun wirklich unrecht? Oder aber ich besiege dich, und du besiegst mich nicht. Habe ich nun wirklich Recht, und du wirklich Unrecht? Hat einer von uns Recht und einer Unrecht, oder haben wir beide Recht oder beide Unrecht? Ich und du, wir können das nicht wissen. Wenn die Menschen aber in einer solchen Unklarheit sind, wen sollen sie rufen, um zu entscheiden? Sollen wir einen rufen, der mit dir übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit dir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Ober sollen wir jemanden herbeiholen, der der mit mir übereinstimmt? Da er doch mit mir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Sollen wir jemand heranziehen, der von uns beiden abweicht, um zu entscheiden? Da er doch von uns beiden abweicht, wie kann er entscheiden? Oder sollen wir einen beauftragen, der mit uns beiden übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit uns beiden übereinstimmt, wie kann er entscheiden? So können also ich und du und die anderen nicht miteinander übereinkommen, und da sollen wir uns von etwas, das außer uns ist, abhängig machen? … Vergiss die Meinungen, Ansichten und Standpunkte. Erhebe dich in Grenzenlose! Und wohne im Grenzenlosen!“

Der Unterschied zwischen dem Leben auf Basis der subjektiven Ansichten, Standpunkte und Überzeugungen – wobei demokratische Mehrheiten, also die Sichtweise der Masse – ebenfalls nicht grundsätzlich weiterhelfen – und der Lebensführung durch das geistig „Grenzenlose“ besteht wie gesagt darin, dass im Gegensatz zum „Grenzenlosen“ die Wahrheiten der Alltagsmenschen, also der Don Quijotes dieser Welt, aus Annahmen und Ansichten bestehen und eben keinesfalls aus dem Tiefblick, also der Erkenntnis und der Führung durch die innere Stimme. Damit sind nicht objektiv gültige mathematische Funktionen oder physikalische Gesetzmäßigkeiten gemeint, sondern die Überzeugungen in Bezug auf alle Bestandteile der Lebensführung, von der Haushaltung, der Eheführung, dem Karriereverhalten, der Kindererziehung usw. bis hin zu ethischen, religiösen und politischen Grundsatzfragen. Wenn all diese Lebensbereiche von Wahrheit von innen geprägt wären, gäbe es keine unterschiedlichen Ansichten und zum Beispiel überhaupt weder politischen Parteien noch unterschiedliche Konfessionen. Aber vor allem in Religion und Politik hat jeder seine Wahrheit und glaubt, es wäre die eigentliche Wahrheit. Insofern dürften ca. 99 % aller Überzeugungen kaum und schon gar nicht umfassend wahr sein.

Die Wahrheiten des spirituellen Menschen hingegen beruhen auf geistigen Impulsen, wie neben Krishna und vielen anderen auch Jesus das gezeigt hat: Die drei Versuchungen in der Wüste (Mk. 1, 1-12 ff.) zeigen, dass und wie der bewusste (!) Umgang mit den Einflüsterungen der Triebseele funktioniert: Der Versucher „trat“ zu ihm, verlangte, „angebetet“ zu werden und versprach dafür „alle Reiche dieser (!) Welt und ihre Herrlichkeit.“ Und Jesus antwortete, dass Gott allein (!) anzubeten sei, dass ihm allein zu dienen sei (Mt. 4,10), dass also bei der Wahl zwischen Materie und Geist die Verlockung der Materie, z. B. Verführung (Sex, Lotterie, Rausch) oder Vergeltung zu verwerfen sei. Aber die Menschen kennen diese Wahl ja nicht einmal, weil sie ausschließlich nach irdisch-materiellen Impulsen (Anreize, Ängste) handeln und die katastrophalen Folgen (Zerfall der Familie, Suchtprobleme, usw.) höchstens eigener Schwäche zuordnen, zumeist absolut nichts daraus lernen (Rachsucht) und in keinem Fall mit dem Fehlen geistiger Führung in Verbindung bringen. 
Was die Angstimpulse auf überindividueller Ebene betrifft, so sind die Risiken und ihre Desaster gigantisch. Das zeigen solche Beispiele wie die Angst vor religiöser oder politischer Konkurrenz durch die Jahrhunderte wie die Korea- und Vietnamkriege oder gegenwärtig die Krisen in Nahost zwischen Christen und Muslimen, Sunniten und Schiiten oder Israel mit sowohl schiitischen als auch sunnitischen Ländern.
Ebenso stehen hinter dem russischen Einfall in die Ukraine neben der Gier nach Wiederherstellung der UdSSR-Territorien vor allem die Angst vor demokratischer Konkurrenz durch eine unabhängige Ukraine in direkter Nachbarschaft.

Die Alternativen für die Überwindung dieser Verlockungen von Vergeltung, Gewinnsucht, Triebbefriedigung, Machtstreben, Bereicherung und vor allem die Überwindung von Ängsten (siehe Jesus im Garten Gethsemane) kennt über die Religionen jeder, aber es befolgt sie kaum jemand: Erst einmal sind konkrete Beispiele selten wie etwa versöhnliche und verständnisvolle Behebung von Ehekrisen oder auf kollektiver Ebene wie die gewaltfreie Befreiung eines ganzen Volkes von kolonialer Gewaltherrschaft durch Gandhi. Es ist der Ego-Schleier, der über dem Bewusstsein der Menschen liegt und den die Hindu-Weisheit Maya nennt: Maya versperrt mit dem Praktizieren äußeren Christentums (Befolgen von Ritualen) und krassem Gegensatz zwischen Glaubensbrille und egozentrischer Lebens-führung den Zugang zu innerem Christentum: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“     
Das kann man erkennen, wenn die evangelikalen Christen in den USA die weitaus größte Gruppe mit selbstverständlichem Waffentragen darstellen und andererseits jede weibliche Selbstbestimmung in Bezug auf Abtreibungen militant bekämpfen.

Die Alternative also zur persönlich-irdischen Wahrheit liegt darin, die Definition von Wahrheit auf die eigene innere Stimme zu übertragen und zunehmend praktische Resultate innerer Eingebungen zu sammeln. Dann lernt der Mensch, dass seine Wahrheiten bestenfalls Teilwahrheiten sind. Seine Entscheidungen, die auf den besagten Eingebungen bzw. Bauchgefühl des Grenzenlosen beruhen, sind so gut wie immer erfolgreich, wenn man die Ideen von „oben“ und „unten“ deutlich genug unterscheiden konnte. Sie sind an ihren Früchten zu erkennen, die immer den Eigennutz hintanstellen und immer das Gesamtwohl berücksichtigen. Sie übertragen bewusst die Verantwortung für das entsprechende Handeln der inneren Führung. Man sieht eben nur mit dem „Herzen“ gut. Ein typisches Beispiel für die innere Führung:

Meine Planungen für die Schüleraustauschfahrt sind in vollem Gang. Es handelt sich nun um meine Lieblingsklasse, und für alle Beteiligten ist es eine Herzensangelegenheit, auch weil es sich um die Abschlussfahrt handelt. Dann bekomme ich in der Meditation sehr deutlich gesagt: „Nein.“ Aber auch nach mehrmaligem sehnlichem Nachfragen: „Nein!“ Es geht nicht um eine Absage der Fahrt, sondern nur um die meiner Teilnahme. Schwer enttäuscht kümmere ich mich um Ersatz für die Fahrtleitung, und ein Kollege steht auch sofort bereit.
Die Fahrt wird wie geplant angetreten und verläuft, wie später berichtet, erst einmal außerordentlich harmonisch und erfolgreich. Der Verlauf des Rückreisetages enthält dann den folgenden Ablauf: Frühmorgens sind alle Koffer gepackt, der Bus zum Flughafen steht vor der Hoteltür. Dann ein Anruf der Fluggesellschaft: Sämtlich Flüge seien gecancelt, weil die Asche des isländischen Vulkanausbruchs die Atmosphäre über Mittel- und Nordeuropa erreicht hätte, sodass kein Flugbetrieb mehr möglich sei. Es beginnt für die Reisegruppe und insbesondere deren Leiter eine Extremphase der Belastungen: Die Visa gelten nur noch für diesen Tag, die für einen solchen Fall überforderten Passbehörden machen Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, das Hotel muss Notlösungen der Unterbringung einrichten und fordert penetrant die Barbezahlung der zusätzlichen Zimmerkosten, die Telefondrähte zwischen Hotel, Konsulat, heimischem Reisebüro und heimischer Schule laufen heiß, alle hängen vor dem Fernseher, zudem muss eine Gruppe munterer Zehntklässler beschäftigt, beaufsichtigt, belehrt und im Griff gehalten werden. Zudem nagt die Ungewissheit über die Dauer dieser Wetterunbilden an der Geduld der Verantwortlichen und der Eltern zu Hause. Nach geschlagenen sechs weiteren nervenzerfetzenden Tagen mit wildem Hin und Her kommt die Gruppe vollzählig zu Hause an, aber psychisch vollständig erschöpft und an der Grenze der Belastbarkeit angekommen.

Wer solche Erfahrungen mit spiritueller innerer Führung und Fürsorge immer wieder macht, unterscheidet zwischen Glauben und Wissen, zwischen Annahme und Gewissheit, zwischen unendlicher Textexegese und praktischer Erfahrung : Wer ein Dutzend Bücher über Tennis gelesen hat, kann deswegen noch lange nicht Tennis spielen.

Der großartigste faktische Beweis für die Wahrheit der Feindesliebe ist Gandhis Befreiung der 300 Millionen Inder von der kolonialen Gewaltherrschaft des British Empire auf der Basis eben der Feindesliebe (siehe Kap. 9). Sein Erfolg wird zumeist in der Gewaltlosigkeit gesehen, wobei aber der eigentliche Grund hierfür in der Feindesliebe zu sehen ist. Weiterhin ist umfassend sichtbar, dass deren Gegenteil in Form von Ablehnung, Verachtung, Hass, Streit, Verletzung, Totschlag und Mord seit Jahrtausenden die Hauptursache für das Leid in der Welt waren und sind. Auf individueller Ebene wie auch auf kollektiver zeigt sich flächendeckend, wie der Hass zerstörerisch funktioniert, deutlich sichtbar am Beispiel der Brudervölker Israel und Palästina oder der Republikaner und Demokraten, der Sunniten und Schiiten, der Nazis und Demokraten.  
Konkrete Beispiele für die erlösende Funktion der Fremden- und Feindesliebe sind rar, weil kaum jemand auf die Idee kommt, sie anzuwenden. Dennoch gibt es sie überall und immer wieder, siehe solche Beispiele wie Janusz Korczak, Mutter Teresa, Martin Luther King, Pfarrer Lapsley oder Nelson Mandela (siehe die Kapitel zur Liebe). Fremden- bzw. Feindesliebe ist „wahr“, weil sie beweisbar ist und bewiesen wurde und wird.

Das verstandesgelenkte Handeln des Menschen ist grundsätzlich egozentrisch strukturiert, bleibt im Bereich von Gut und Böse und geht deshalb prinzipiell mal und gut und mal schlecht aus. Der Intellekt kann nicht entscheiden, was Wahrheit ist und was nicht: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts von der Wahrheit“, (1. Kor. 2,14). Jesu Aussage, die Welt überwunden zu haben (Joh. 16,33) zeigt unter anderem, dass er das Grundproblem der Wahrheitsfindung gelöst hat, dass er also die Beschränkung auf die materiell-intellektuelle Welt und damit das Unterdrücken der Ebenbildlichkeit durchdrungen hat: „Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (Mt. 16,17). Die rein emotional-intellektuelle Steuerung des Lebens ohne das Verständnis ihrer egozentrischer Hintergrundführung (Selbsterhaltungstrieb) – auch ohne das Wissen um die alternative Lebensführung (Bauchgefühl) durch die Intuition – hat im persönlichen und kollektiven Leben das unendliche Leiden der Menschen zur Folge, und dies uneingeschränkt seit Bestehen der Menschheit.

Die rational geführte Diskussion, die auf dem Austausch von Argumenten beruht, ist kein Mittel der Wahrheitsfindung. Dazu soll Dschuang Dsi noch einmal zu Wort kommen:
Der spirituelle Mensch hat die Wahrheit als innere Überzeugung, die Früchte trägt, die Menschen der Masse hingegen suchen sie zu beweisen durch den Versuch, die anderen argumentativ auszustechen.“

Man braucht sich nur umzuschauen, unter anderem in den Parlamentsdebatten mit ihren vielen und grundsätzlich gegensätzlichen Ansprüchen auf die „Wahrheit.“ Natürlich kennt die Politik das menschliche Dilemma um die Wahrheit. Sie bekennt, dass aus der scheinbaren Unlösbarkeit – weltlich tatsächlich unlösbar – heraus die Antwort der demokratischen Politik auf die Wahrheitsfrage die absurde Lösung die der Mehrheit ist, eine der egozentrischen Menschheit. Die meisten Menschen weltweit wählen tatsächlich nur nach wirtschaftlichen Aussichten: „It‘s the economy, stupid!“ Und wenn es dann Nazis sind, die wirtschaftliche Verbesserung versprechen, dann wählen sie eben Nazis.

Das weisheitsbasierte Leben ist zwar nicht störungs-, aber leidfrei. Um dem Einwand zu begegnen, dies sei ebenfalls nichts weiter als eine Meinung, genügt ein Blick auf die Erfahrungen derjenigen, die diesen Weg eingeschlagen und beschrieben haben sowie selbst die Probe aufs Exempel zu machen. Wer sich also daran macht, die Aufforderung der Bergpredigt zur Feindesliebe umzusetzen und dabei die Grundlage dafür beachtet, also den Hindurchblick, erlebt Wunder über Wunder. Allerdings fallen einem diese Früchte, an denen dieser Weg erkannt wird, nicht in den Schoß. Vielmehr ist ein gehöriges Maß an Geduld, Standfestigkeit und Trainingsaufwand erforderlich. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass einem gerade die Anfänge schwer gemacht werden, denn das eigene Ego merkt sofort, dass es ihm gewaltig an den Kragen geht und beginnt sofort wie wahnsinnig dagegen zu kämpfen, um sich zu retten.

Das Egoprogramm im Menschen hat aber nicht nur die Strategie, den Weg in die Selbstlosigkeit zu bekämpfen, sondern versucht auch, den Weg ins komplett egozentrische Leben zu beschleunigen, wie Goethe das am Beispiel Faust zeigt. Dabei ist es egal, ob es sich um Konkurrenzverhalten im Büro, um Drogengenuss, Einstieg ins Glücksspiel, Dominanzkonflikte in der Partnerschaft, Raserverhalten, usw. handelt. Die Mephisto-Regel lautet: „Der Teufel lässt einen immer erst gewinnen.“

Da die Menschen ihr wenn auch leiderfülltes Leben auf Grundlage ihrer persönlichen Standpunkte nicht aufgeben wollen, im Extremfall wie Reichsbürger, Nazis, Sektenanhänger, usw., beharren sie unerschütterlich wie Don Quijote darauf, dass Windflügel eben böse Riesen seien und Kommunisten eben böse für Kapitalisten – oder eben umgekehrt.

Unsere individuellen triebgesteuerten Gedankenwelten der Selbsterhaltung von „unten“ weichen ab von der geistigen Wahrheit der Intuition von „oben“-innen. Die wenigsten Menschen gestehen sich ein, dass das, was sie für die Wahrheit halten, in Wirklichkeit ihre Interpretation der Wahrheit ist. Und dieser Interpretation liegen im Regelfall die eigenen Wünsche zugrunde. Das gilt für Migranten, Parteienzugehörigkeit, Einstellung zur Klimakrise, zum Krieg, für eben alles. Dabei ist ein wichtiger Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Wahrheit, inwieweit die Wahrnehmung wie gesagt ausschließlich vom Verstand und seiner unbewussten und weitestgehenden Ausrichtung auf Selbsterhaltung geleitet wird oder aber seelengeführt ist, also auf der Anleitung durch das „Grenzenlosen“ beruht. Dazu betont Jesus, „in die Welt gekommen [zu sein], um Zeugnis (!) für die Wahrheit“ abzulegen.“

Wahrheit muss bewiesen werden können und erlebbar sein. Eine physikalische Gesetzmäßigkeit muss handfest demonstriert werden können, eine politische Ideologie muss sich bewähren oder wird durch ihr Scheitern wie die der Gewaltherrschaft – trotz Ausnahmen – durch unzählige Beispiele in der Geschichte des widerlegt. Die Fragen des Atomstroms, der Abtreibung, des Zölibats, der Schulbildung, usw. werden von Land zu Land, von Gruppe zu Gruppe und von Person zu Person so unterschiedlich beantwortet, dass sie die Frage nach Wahrheit nicht verlässlich lösen können, denn sie ist so gut wie immer von Interessen geleitet. Deshalb greifen die demokratischen Personengruppen immer zur Notlösung der Feststellung irdischer Wahrheit durch Mehrheit mittels Abstimmung. Ansonsten wird gleich zum Mittel der Gewaltanwendung gegriffen, in der Vorstufe durch Manipulation, Lüge, Unterwanderung des Rechtssystems, usw. Dies ist derzeit bei weit mehr als der Hälfte der Völker bei Einbeziehung der Hybridsysteme – der Fall.

Das Individuum ist darauf angewiesen, seine Entscheidungen aufgrund seiner Vorinformationen, seiner Interessen, seiner Gefühle und seines Verstandes zu treffen und die gemachten persönlichen und kollektiven Erfahrungen auszuwerten – was es aber allzu häufig nicht macht – siehe „Drittes Reich“ und Rassisten – und sie oft unbewusst den Gegebenheiten wie sozialer Herkunft, Elternhaus usw. überlässt.

Die Alternative ist eine spirituelle Lebensführung, die darauf abzielt, den Dialog mit der inneren Stimme zu erreichen. Diese liefert subjektive Wahrheiten sowie individuelle Ratschläge und Führung. Dabei offenbart sie nicht nur allgemeingültige Wahrheiten wie etwa Feindesliebe, sondern auf die fragende Person zugeschnittene Führung, etwa wie: Soll ich diese Wohnung mieten? Soll ich mich beschweren? Soll ich den Job in der Nähe oder den viel besser bezahlten, aber weiter entfernten annehmen? Sie gibt keine Antwort zum Beispiel auf die Frage, ob Abtreibung gut oder schlecht ist oder überwiegend gut oder schlecht oder ob diese sich überhaupt in einer göttlichen Wertung befindet. Hier antwortet sie individuell.

Wenn die einen Kirchen praktizierte Homosexualität tolerieren und die anderen sie verurteilen, dann ergibt sich automatisch, dass viele Organisationen von der Wahrheit, also göttlichem Willen entfernt sind, egal, welche es sind. Denn alle gehen vom Mantra aus: „Gott will es!“ und sie wollen natürlich diejenigen sein, die im Gegensatz zu den anderen wissen, welche Wahrheit es ist.

Was allgemeine Wahrheiten betrifft, so haben die Religionsstifter sich darauf konzentriert, die wichtigsten für die der Menschen zu benennen. Jesus etwa hat die teilweise Scheinwahrheit des physischen Todes, verstanden als Ende des persönlichen Lebens, entlarvt.  Vielmehr hat er ihn als Metamorphose zur Höherentwicklung der „Raupe“ zum „Schmetterling“ demonstriert (siehe auch Lazarus). Weiterhin bestand sein Auftrag darin – wie ebenfalls bei Krishna, Buddha und Lao Tse –, dem Menschen am Beispiel seiner Person auch deren Göttlichkeit („Ihr werdet noch größere Taten als ich vollbringen.“ Mt. … ) im Innern zu zeigen (den „Christus in ihnen“, wie Paulus das formuliert; 2. Kor. 13,5): Diesen Auftrag hat er durch seine Lehre, sein Verhalten und durch seine Taten (!) unablässig erfüllt – wie vor ihm auch Zarathustra, Lao Tse, Krishna, Mahavira und Buddha sowie nach ihm auch Mohammed, Nanak oder Bahai’ullah. Insgesamt hat Jesus den Lösungsweg aus dem Jammertal des unendlichen Leidens der Gut-Böse-Welt mit ihren „Wahrheiten“ gezeigt.

Jesu Lehre „Ihr seid alle Götter“ in Bezug auf jeden Menschen haben die Kirchen durch ihren Personenkult um Jesus bislang erfolgreich untergraben. Sie haben ihn nicht etwa als nur als Person mit vollentfaltetem innerem Christus dargestellt, als Vorbild für spirituelles Wachstum und beispielhafte Reife. Vielmehr propagierten und propagieren sie ihn als einzigen Gottessohn, indem sie seine hohe spirituelle Quantität seiner inneren Stimme als einzige Qualität hochstilisieren. Dabei treten sie sie den besagten Christus, den „Vater in mir“, die Intuition in jedem Menschen mit Füßen.

Um die Wahrheiten der Schöpfung zu erkennen, ist es in vielen Fällen unumgänglich, die Hinweise der Weisheitstexte auszulegen. Wer legt aus? Luther hat die lächerliche Lösung gefunden, dass es die Bibel selbst sei, die die Interpretationen ihrer Aussagen zu leisten hätte: Sola scriptura! Also die Auslegung der Zitate geschieht durch die Bibel selbst, also durch andere Zitate, die natürlich von irgendjemand (?) ausgelegt werden müssen. Durch dieses Manöver, dass die Auslegung menschlich ausgelegt werden muss, kann man also nichts mehr falsch machen. Einen rustikalen Weg der Definierung von Wahrheit beschreitet die katholische Kirche, die die Interpretation der Bibel dem kirchlichen Lehramt zuweist. Eine wieder etwas andere Spielart von Wahrheit vertritt die orthodoxe Kirche, bei der es bei ihrer Ablehnung von Sola scriptura die kirchlichen Traditionen sein sollen, die immer die Wahrheit kennen und vertreten: Wahrheit ist also, was ihre Kirche schon immer gemacht hatte. Damit gehören Anbetung der Marienbilder, das Monopol männlicher Priester oder die Ablehnung homosexueller Partnerschaften zur Definition göttlichen Willens.

In Bezug auf Sanktionierung der Abtreibung in den Bundesstaaten der USA gibt es die unterschiedlichsten Varianten von fast ausnahmsloser Bestrafung bis zur vollständigen Freigabe sogar ohne Fristen. In der frühen Sowjetunion wurde 1920 die Abtreibung vollständig und kostenlos legalisiert, dann im Stalinismus verboten („Wir haben nicht genug Leute und so viel zu tun.“), später nach dem Krieg wieder legalisiert und in der Chruschtschow-Ära sogar kostenlos in Kliniken durchgeführt; durch den Mangel an Verhütungsmittel führte das zur Abtreibung als Geburtenkontrolle. War das der „Wille Gottes“? Es gibt in den heiligen Schriften keine Anhaltspunkte, und auch Jesus hat sich diesbezüglich nicht dazu geäußert. Weiterhin zeigt die extrem unterschiedliche Willkür der staatlichen Eingriffe, dass deren Handhabung je nach Schärfe der Einmischung in die Entscheidung der Mutter offensichtlich nicht viel mit Wahrheit zu tun haben kann, weil sie nicht geistig begründet ist, sondern von Verstand, Emotion und Kontrollsucht. Eine Entscheidung in Bezug auf Austragung oder nicht kann niemals durch Gesetze geregelt werden – weil diese wie gesagt auf mind (Ego) beruhen und nicht auf soul – und die Wahrheit der individuellen Schwangerschaft nicht kennen können.
Nur, falls die werdende Mutter den spirituellen Dialog haben sollte, kann in genau diesem Einzelfall die Empfehlung bzw. Führung durch die innere Göttlichkeit erfolgen, denn diese kennt die Hintergründe und Bestimmungen der Betroffenen. Dabei greift die innere Stimme nicht in den freien Willen mit seinen Abwägungen ein. Die Entscheidung für oder gegen Abtreibung kann nie von einer anderen Instanz kommen als von der Entscheidung der werdenden Mutter. Ob diese wiederum ihre Entscheidung von der geistigen oder von der animalischen Seite aus trifft, ist ebenfalls ihre Angelegenheit und ist mit karmischen Konsequenzen verbunden.

Für die Menschen ist ihre Wahrheit die Wahrheit, obwohl das Kriterium für Wahrheit ist, dass sie geistig geführt und praktisch erfolgreich ist: Sie kann bewiesen werden und ist durch den Verzicht auf Eigennutz und die unbedingte Beachtung des Gesamtwohls gekennzeichnet ist. Was die Bestätigung betrifft, so ist es fast der Regelfall,  dass Menschen einen Grad von Vernagelung jeglicher Einsicht erreichen, dass sie ungeachtet sogar permanenter Widerlegungen bei ihrer Wahrheit bleiben. Bei Don Quijote und den Prügeln, die er wieder und wieder bezieht, kann man das deutlich sehen. Genauso verhält es sich auch mit den rechten rechtsextremen, faschistischen und nazistischen Vorstellungen in den Köpfen der Menschen. Die weltweit verbreitete absolute Unwilligkeit zur Einsicht ist sehr deutlich bei der Migrantenfrage: „They aren‘t people, they are animals“ zu besichtigen und zeigt die gewaltige Kraft der Egozentrik, die aus der  ursächlichen Bedrohungsangst herrührt.

Jeder Mensch weiß, dass er eine irgendwie geartete sanfte Führung hat, ein intuitives Drängen, die innere Stimme eben. Der Nazarener zeigt, dass diese der Gottessohn ist, der Träger der Wahrheit, der „Vater in mir“, das „Grenzenlose.“ Es ist diejenige intuitive Instanz, die die Geschicke des Menschen leitet. Wenn der Mensch es zulässt, auf seine Intuition zu hören und nicht auf eigene Faust handelt, also lernt, auf diese leise, sanfte Stimme (1. Kö. 19, 12) zu hören, kennt er zwar die ganze Wahrheit des materiellen und geistigen Lebens (materieller und spiritueller „Elefant“) nicht, kann aber seiner Intuition Schritt für Schritt folgen. Dadurch umschifft er ungefährdet alle Klippen, die im alltäglichen Leben ständig auftauchen. Denn er erfasst dann den für ihn wichtigen Teil der objektiven Wahrheit, der sich hinter der Oberfläche verbirgt. Wenn er seinem Gewissen vernimmt, gelernt hat, ihm zu vertrauen – weil seine Führung sich bewährt – und ihr gehorcht („Dein Wille geschehe!“), kann er eigentlich nichts mehr falsch machen; man sieht eben „nur mit dem Herzen gut“ (Saint-Exupéry: Der Kleine Prinz).

Aber so einfach ist es dann aber doch nicht. Es gibt nichts zum Nulltarif. Er hat gewaltige Eigenleistungen zu erbringen, und diese Bereitschaft muss als Kampf gegen das Ego entwickelt werden. Die Notwendigkeit dieser Eigenleistung – die Arbeit am Mischventil sozusagen – unterstreicht Lessing in seinem „Nathan der Weise“, indem er den Richter sagen lässt, dass für die sorgenfreie Lebenswahrheit die Kraft des Ringes zu demonstrieren sei. Dies besteht daraus, die Anweisungen „Fürchtet euch nicht!“ und „Sorge dich nicht!“ ernst zu nehmen und sich mühsam an sie heran zu trainieren. Auf dem spirituellen Weg erfährt er dann mehr und mehr Wahrheit und kann so ein sorge- und angstfreies Leben führen, durch Lebenserfahrung und -erfolg unter Beweis gestellt. Wer den Dialog mit dem „Vater in mir“ erreichen will und sich hingegen etwa immer noch um seine Altersversorgung bangt, macht etwas falsch.

Für den Alltagsmenschen ist ein intuitiv geführtes Leben Humbug, denn er wurde nie dazu erzogen. Ihm fehlt die Erfahrung göttlichen Einwirkens. Und die Kirchen haben schon immer nichts unversucht gelassen, die Wege zur individuellen und direkten Selbsterfahrung des Gotteserlebens zu verhindern. Um das Göttliche in uns zu bestreiten, wenden sie sich nicht selten direkt gegen Jesus: Neben dem Beispiel (s. o.) „Ihr seid alle Götter“ umgehen sie auch „… ihr werdet noch größere Werke tun, als ich sie tue… .“ (Joh. 14,12)

Wahrheit ist immer konkret und in jedem Fall dann wahr, wenn sie erstens auf innerer Anleitung beruht (siehe bei Johanna zum direkten Draht) und sich zweitens im realen Leben als individuelles Wohl zeigt und immer vereinbar mit dem Gesamtwohl ist.   
Deshalb ist es weise, die Lehren der heiligen Schriften als Hypothesen zu begreifen und sie als Ansatz zu verwenden, um die Praktikabilität dieser Wahrheiten unter Beweis zu stellen, dass zum Beispiel Feindesliebe erfolgreich ist ebenso wie der Verzicht aufs Heimzahlen im Sinn von „Auge um Auge.“

Die Weisheitsaussagen in den Schriften der Weltreligionen sind nicht als Versuch gedacht, die Menschen mit Drohungen auf den rechten Weg zu zwingen – wie es die Konfessionen taten. Vielmehr sind ihre Mahnungen Anlässe, auf Grund dieser Aussagen entsprechende Erfahrungen zu machen, die im Fall individueller Bewahrheitung den Ausweg aus dem Leid zeigen. Wissenschaftsmethodisch betrachtet gelten ihre Gebote als eine Art deduktiver Imperative („Liebet euere Feinde…“), die logisch konkret abzuleiten sind: Soll der Militärarzt den verwundeten Feind ebenfalls versorgen? Sie soll dann zu entsprechenden individuellen Erfahrungen führen: Was passiert, wenn ich beim bösen Nachbarn auf Vergeltung verzichte? So gelangt man schließlich induktiv entweder zur Widerlegung oder Bestätigung des Ausgangsgebots.

Auf diesem Weg nähert man sich der Wahrheit an, dass z. B. Feindesliebe erfolgreich ist. Werde ich also mit einem solchen Imperativ konfrontiert, probiere ich aus, wie das funktionieren kann. Wenn das dann erfolgreich war, habe ich einen wichtigen Schritt gemacht, mein Leben von jeglichem Feind zu befreien. Das Verfahren der Feindesliebe, wie es sämtliche Weisheitslehren aller Kulturen gebieten – ein „Sollensanspruch“ (Kant) sozusagen –, ist eine der essenziellen Methoden für ein erfülltes Leben (siehe Kapitel “Liebe“, Abschnitt Feindesliebe). Man muss einfach die Probe aufs Exempel machen, ob und wie es geht.

Ich hätte diese Zeilen nicht schreiben können, wenn ich nicht – geführt durch meine Intuition – versucht hätte, diese Selbstüberwindung in Form eben dieser Feindesliebe zu praktizieren und nicht immer wieder die Bestätigungen gehabt hätte, dass Feinde aus meinem Leben (ver)schwinden.

Glaube an Gott bringt nichts, nur Erfahrung mit Gott. Meine Wahrheit ist dann das, was ich durch meine Beschäftigung mit den geistigen Lehren kennengelernt und persönlich durch meine Lebensführung in der Praxis bestätigt gefunden habe und was ständig funktioniert. Wenn ich also auf Prinzipien wie das der Feindesliebe stoße, sie anwende und die Ergebnisse sich immer wieder bestätigen, also sich bewahrheiten, kann man von Wahrheiten zu sprechen.

„Das Schöne, das Wahre,    
es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,   
es ist in dir, du bringst es hervor.“ 
(Friedrich Schiller: Theosophie des Julius)

Glauben ist nicht Wissen. Glaube ist eine nicht beweisbare Annahme bzw. Überzeugung; Glaube ist die Übernahme von etwas Gesagtem ohne Belege und ohne praktische Evidenz. Wer bloß glaubt, irrt und sieht die Welt, wie er die Welt sehen will. Wer aber sich spirituelles Wissen aneignet, danach ständig mit den „Wahrheiten“ der selbsterhaltenden Lebensführung kollidiert und danach aber aus persönlicher stetiger Erfahrung der Hingabe erfolgreich Gewissheit gewonnen hat, ist vor Irrtum weitgehend sicher. Die Konfessionen streiten sich deshalb ohne Ende, weil sie glauben, d. h. nicht wissen. Sie ersetzen die eine Deutung durch eine andere, nämlich ihre. Glaube bedeutet überhaupt nichts, es ist eine Einstellung, durch die der Mensch die Möglichkeit hat, aus Selbstschutz vermeintlich sicherer zu leben, und zwar nach einem bestimmten Muster, das ihm eingebläut wurde. Der blinde Glaube ist übrigens weniger einer an eine Lehre wie z. B. Feindesliebe, sondern überwiegend ein solcher an eine Person oder ein Buch; dann ist man unverzüglich vom Besitz der Wahrheit überzeugt. Bleiben aber Zweifel und will man weiter nach Wahrheit forschen, stellen die Kirchen das Haupthindernis dar, denn anstatt zu lehren, wie man mit Gott redet, sprechen sie nur über Gott. Das führt dann dazu, dass sie endlos über Gottes Barmherzigkeit reden, die die Öffentlichkeit sucht und nicht findet: Wer zehn Bücher über Honig liest oder auch noch schreibt, weiß deswegen noch lange nicht, wie Honig schmeckt.

Heute glaube ich nur noch, was ich von meiner inneren Stimme und durch die folgenden handfesten Ergebnisse weiß. Echter Glaube ist bewiesene Gewissheit, alles andere sind Vermutungen, Annahmen, nichts Beweisbares. Der spirituelle Sucher aber will die Wahrheit und findet ihren Ort in seiner Intuition und deren positiven Bilanzen, er sieht mit dem „Herzen“:

„Truth is within ourselves;“In uns selber ist die Wahrheit
it takes no rise from outward things,        sie entspringt nicht äußeren Dingen,
whatever you may believe.was immer ihr auch glaubt.
There is an inmost centre in us all,Es gibt einen Kern in uns allen,
where truth abides in fullness;wo Wahrheit in Fülle weilt; 
but around wall upon wall,doch ringsum lauter Wälle,
the gross flesh hems it in.das grobe Fleisch schließt uns ein.
To know consists in opening a way,Wissen ist, dass man den Weg öffnet,
where the imprisoned splendor may escape.“durch den der gefangene Glanz frei werden kann.“

      (Robert Browning: Paracelsus. Paracelsus aspires)

Es gibt nur wenige gesellschaftliche Fragen, um die erbitterter gestritten wurde als die Abtreibung, die Nutzung der Atomkraft oder die Steuerung des Zustroms an Migranten, Asylbewerbern, Flüchtlingen. Für den französischen Staat zum Beispiel ist es eine Wahrheit, dass Atomkraft (56 AKW) schon seit den 70er Jahren ein probates, verantwortbares und seit Verschärfung der Klimakrise unverzichtbares Mittel der Energiegewinnung ist; in anderen Gesellschaften hingegen ist sie umstritten oder ganz abgeschafft. Dort hält man das Gegenteil für wahr, allerdings in letzter Konsequenz erst seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima. Welcher „Wahrheit“ ist nun zu folgen? Dazu kommt, dass die Atommächte seit den 50er Jahren Atom-U-Boote einsetzen, gegenwärtig geschätzte 100 an der Zahl.

Ist Abtreibung böse oder nicht? Die Kirchen haben darauf eine ebenso klare wie abstruse Antwort: Sie ist Sünde. Woher die Kirchen das wissen, bleibt ihr Geheimnis. Genauso fällt die Antwort auf die Frage nach der Nutzung des Atomstroms aus: Die einen wissen, dass er primär nützlich ist wie in Frankreich, die anderen „wissen“, dass er primär einfach zu risikoreich ist wie in Deutschland. Auch hier gibt es weltweit die unterschiedlichsten Wahrheiten. Die Abtreibung könnte eine erlösende wertfreie Angelegenheit sein, wie es viele Frauen sehen. Von staatlicher Seite gab und gibt es diesbezüglich unterschiedliche „Wahrheiten“ bzw. Regelungen, von kompromisshaften Fristenregelungen, mit denen Wahlen gewonnen werden konnten, bis hin zu völliger Freigabe. Die Auffassungen schwangerer Frauen fallen ebenfalls sehr unterschiedlich aus. In jedem Fall gibt es also viele Wahrheiten und meist sogar gegensätzliche, ob nun ein Abbruch etwas Böses ist oder aber auch nicht; denn sie könnte ja auch eine individuelle Angelegenheit der betroffenen Frau sein. Dabei gibt es natürlich auch Zwischenformen, bei denen die Schwangeren sich in einem inneren Konflikt zwischen Gewissen und äußeren Zwängen sehen, entweder austragen zu wollen, aber glauben, es nicht verantworten zu können oder unbedingt abbrechen zu wollen, aber gesetzliche Strafen fürchten. Wo ist also die Wahrheit der Abtreibung: Ist sie nun gut oder böse?

Jede/r hat eine andere Antwort, weil sie auf der irdischen Ebene nicht zu finden ist, jedoch auf der geistigen. Dazu haben die großen Weisheitslehrer unisono eine klare Auskunft gegeben, wenn auch nicht konkret, aber prinzipiell: Jesus führt das idealtypisch in der Speisung der Fünftausend vor. Hier stand er ebenfalls vor einem großen Problem: Seine Lösung, seine Wahrheitsfindung, wie zu speisen sei, war erfolgreich, wie dann zu sehen war. Sie bestand darin, sich nach innen zu wenden, an „den Vater in mir“, der „die Werke tut.“ Andere Evangelisten entschieden sich für die Wortwahl „schaute nach oben.“ (Ob sie dort den alten Mann mit dem weißen Bart auf der Wolke im Sinn hatten, ist mehr als fraglich.) Damit ist aber auch die Antwort auf das Problem des Schwangerschaftsabbruchs gegeben. Es kann geistig gelöst werden, indem die betroffene Frau sich an ihre innere Stimme wendet und in diesem Dialog – was die Kirchen nicht gerne hören werden – die Führung findet. Und diese Lösung  kann ja nach Lage sehr unterschiedlich ausfallen. In jedem Fall aber übergibt sie die Verantwortung an ihre eigene Gottessohnschaft und versucht nicht mehr, als Person das Problem selbst zu lösen, worauf Jesus hinweist: „Ich kann von mir aus nichts tunder Vater in mir tut die Werke.“

Dabei ist allerdings von Wichtigkeit, dass sie auch unterscheiden kann, ob ihre Frage nach innen, also an ihr „Bauchgefühl“, tatsächlich auch von der Geistseele „von oben“ beantwortet wird oder nicht vielmehr von „unten“, von den Ängsten des Ego und der Selbsterhaltung überlagert wird.

Da die absolute Mehrheit der Frauen den geistigen Weg nicht kennt, muss diese Mehrheit notgedrungen auf der Gut-Böse-Ebene bleiben und dort sehen, wie sie es mit deren Mitteln löst, was ja gut oder eben auch böse ausgehen kann. In jedem Fall aber ist die Frage des Abbruchs eine individuelle und vor allem eigentlich geistige Angelegenheit, in der Staat und Kirche nichts zu suchen haben: „Dein Wille geschehe!“ (Dass Abtreibung weder gut noch böse ist und warum, kann dem Kapitel „Wozu das Böse“ entnommen werden.) Die Wahrheit jedes Problems ist geistig innerlich zu finden.

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Eva sagt:

Dezember 28, 2020 um 19:35 Uhr

Ich habe mit 11 aufgehört an Gott zu glauben. Mit 47 hab ich ihn „erfahren“. Seitdem weiß ich etwas, auch wenn ich es nicht verstehe. Ich muss nicht mehr an etwas oder jemanden „glauben“.
Ich glaube außerdem nicht, dass es überhaupt eine objektive Wahrheit zwischen all den subjektiven gibt. In der Quantenphysik hat man herausgefunden, dass sich Teilchen schon anders verhalten als sie es sonst täten, sobald jemand sie beobachtet. So hab ich jedenfalls diese unfassbare Entdeckung verstanden. Wie könnte es da eine objektive Wahrheit geben? Es gibt meines Erachtens überhaupt nur und ausschließlich subjektive Wahrheiten.

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