Es gibt nichts im Leben der Menschen, das so häufig erlitten, besprochen, beschrieben, bejubelt und besungen wird wie die Liebe.
Es gibt nichts im Leben der Menschen, was so gründlich, so nachhaltig, so grundsätzlich falsch, miss- und unverstanden ist wie die Liebe.
Die Zahl der Trennungen und Ehescheidungen ist dafür ein Indiz, was Enttäuschungen und Fehleinschätzungen betrifft. Das gilt aber auch für den Zustand der bestehenden Partnerschaften. Wer diese in seiner unmittelbaren Umgebung betrachtet, kann schon stutzig werden, was Stadien und Endzustand der einstigen „Liebe“ betrifft. Ist das, was die Partner zusammenhält, Liebe? Wo ist der Zustand geblieben, in dem er buchstäblich alles für sie getan hätte – und wo beide unendlich ineinander verschossen waren? Was jeder sieht und wovor alle Brautpaare die Augen verschließen, ist, dass die Aufopferung füreinander allenfalls einige Monate dauert (vor allem bei Männern). Dann lebt man miteinander die Jahre hindurch, durchaus voller Sympathie und Vertraulichkeit, im Laufe der Zeit aber mehr und mehr nebeneinander. Das Strohfeuer ist sowieso erloschen, das Feuer aber auch. Die einstige Anziehungskraft ist zum Überdruss verkommen. Und schließlich, wenn es dann ungünstig läuft – und das ist überwältigend oft der Fall -, leben sie gegeneinander. Knapp 50 % der Ehen werden ohnehin geschieden, und gefühlte 40 % weitere sind zumindest innerlich gescheitert. Man braucht sich nur in der eigenen sozialen Umgebung umzuschauen. Das ist die Falle für die jungen Paare, die einen Tunnelblick nur für ihre eigene Altersgruppe haben. Eine bittere Beschreibung dieser Alltagserfahrung findet sich bei Leo Tolstoj in der Erzählung „Kreuzersonate“, Kap. 17, im Filmdrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ oder im Theaterstück „Der Gott des Gemetzels.“ Wo ist die Liebe geblieben?
Auch die Brüchigkeit von tiefen Freundschaften, wenn es harte Bewährungsproben geht, zeigt, dass es mit der „Liebe“ nicht so einfach ist. Eine alte Redewendung sagt: „Freunde in der Not / gehen Tausend auf ein Lot.“ Da die alte Masseeinheit Lot nur einige wenige Gramm ausmachte, kann man leicht skeptisch sein, was die Verlässlichkeit von Freunden in eigenen richtigen Notlagen betrifft. Und wer dann solche Erfahrungen gemacht hat, weiß, dass diese Skepsis in der Realität des Alltagslebens nur allzu berechtigt ist. Der Volksmund sagt rundheraus: „Bei Geld hört die Freundschaft auf.“
Menschliche Liebe
Allen bisher beschriebenen Varianten der Liebe ist eines gemeinsam: Es sind die rein menschlich, irdisch, weltlich gelebten Formen. Von Liebe, wie unsere Geistseele sie sieht, ist keine Rede. Da hilft es erst einmal ein Stück weiter, wenn der Urvater des Christentums Paulus sie u. a. wie folgt beschreibt:
„… die Liebe ist nicht eifersüchtig,
sie prahlt nicht und bläht sich nicht auf. …
sie sucht nicht den eigenen Vorteil,
sie lässt sich nicht provozieren,
sie trägt keinem etwas nach. …
sie duldet alles.“
(1. Kor. 13)
Paulus beschreibt nur und erklärt nicht, zudem zählt er nur auf, was sie nicht ist. In jedem Fall aber deutet er Bestandteile eines Gegenmodells zu den beschriebenen Formen der menschlichen Liebe an.
Aber auch schon diese sehen außerordentlich weltfremd aus, denn kaum ein Mensch duldet alles und unterlässt es, sich wichtig zu machen und lebt für andere und opfert seine Habe und vergibt immer und alles. Aber genau das ist Liebe, jedoch nicht unsere menschliche, sondern die der göttlichen Seele in uns.
Letztere ist hat zwar – von Ausnahmen abgesehen – wenig gegenwärtige Auftritte, umreißt aber, was Sinn und Ziel des menschlichen Lebens ausmacht.
Jeder weiß, dass der Alltagsmensch sich sehr wohl wichtigmachen will und dass er nicht von seiner Habe opfert und nicht teilen will, was man an der Flüchtlingsfrage gerade europaweit sehen kann. Und schließlich ist jedem klar, dass er ganz und gar nicht vergeben will, sondern bedingungslos nach Rache und Vergeltung dürstet.
Aber gerade dies ist die Ursache des Leids auf unserem Planeten. Die alleinige Ursache für all diese Qualen durch Krankheiten, Arbeitsplatzverluste, Ängste vor Terroranschlägen, Gefahren im Straßenverkehr, Sorgen um das Wohlergehen der Kinder, die physischen und psychischen Schmerzen durch Karriereeinbrüche, Trennungen, Scheidungsprozesse, Minderwertigkeitskomplexe, die ständigen Sorgen durch Ungleichbehandlung, die Klimagefahren, die Explosion des Fremdenhasses, der Leistungsdruck im Beruf, ist der Egoinstinkt der Selbsterhaltung, der uns unbewusst zu all diesen – man muss es so deutlich sagen – tierischen Verhaltensweisen und zu deren Konsequenzen führt. Menschliche Liebe liebt unentwegt, aber nur sich selbst, dies auch in Form der Liebe zu den Kindern. Sie ist Liebe zur Form, zur Oberfläche, zum Sichtbaren und auch nur in der unmittelbaren emotionalen Umgebung. Platon bezeichnet in seinem Höhlengleichnis (siehe Kapitel 8) den physischen Menschen als Schatten – also im Dunkeln stehend – seiner Seele.
Ein Vogel, der flach über dem Boden fliegt, wirft einen Schatten. Wenn nun eine Katze diesen Vogelschatten jagt – oder den Leuchtkegel einer Taschenlampe an der Wand -, bildet dies das menschliche Verhalten ab. Es beschäftigt sich mit einer Erscheinung, die seiner Perspektive entspricht anstatt mit dem Ursprung. Goethe sagt unfreundlich dazu: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst!“
Das wird besonders deutlich an der Liebe zum weiblichen Körper. Diejenige Liebesinstanz, die diesen Körper und das Programm der Liebe zu ihm erschaffen hat, ist den Menschen unbekannt. Denn diese sieht über Äußeres hinweg („Die Schöne und das Biest“). Wahre Liebe ist seelenbezogen in Form von Nächstenliebe, und zwar zu allen Nächsten.
Menschliche Liebe ist personenbezogen und beschränkt sich auch noch auf diejenigen, die sie erwidern, was reines Eigeninteresse ist.
Bissig beschreibt Leo N. Tolstoj den menschlichen Begriff von Liebe:
„Aber was versteht man denn unter wahrer Liebe? …
Jeder weiß, was Liebe ist. … Das ist doch sehr einfach:
Liebe ist die ausschließliche Bevorzugung eines oder einer anderen vor allen anderen.“
(Kreuzersonate. Kapitel 2)
Menschliche Liebe ist Bevorzugungsliebe, ist Freundesliebe. Sie ist triebbasiert, also erotisch und darauf aufbauend sympathisch gefühlsbedingt. Sie enthält die Ausweitung der Egozentrierung auf die Umgebung mit Partnern, Kindern, Eltern, Freunden, usw. Diese rein menschliche Liebe mit Eros und Philia beschränkt Liebe auf Gefühle und beachtet die Goldene Regel nicht. Der Mensch kann allerdings auch nicht von sich aus wahre Liebe zum Ausdruck bringen, denn es ist nur die Geistseele in ihm, die das durch ihn vollbringen kann. Solange er ihr keinen Einfluss gewährt, sie nicht zur Kenntnis nimmt, kann er – ausgehend von der begrenzten Stufe der bevorzugenden Gefühle – nicht noch einen Schritt weiter und höher gehen. Ohne den nächsten Erhebungssschritt von der irdischen auf die geistige Stufe, ohne die Ausweitung von der bevorzugenden auf die unterschiedslose Allesliebe ist Erfüllung im Leben ausgeschlossen; ohne dieses Bewusstsein ist eine Überwindung von Leid und Bösem in unserer Gut-Böse-Welt nicht möglich, weder zwischen den Völkern noch zwischen den Hautfarben noch zwischen den ökonomischen Konkurrenten noch zwischen Arbeitsgebern und Arbeitnehmern noch zwischen Nachbarn und vor allem nicht zwischen den Ehepartnern. Die geistige Art der Liebe (agape), das dritte Drittel sozusagen, hat mit Gefühlen nichts zu tun, sie ist eine Qualität des intellektuellen Verständnisses, der Einsicht und deren vor allem praktischer Umsetzung.
Dieses Gegenteil, die Liebe des geistigen Teils der Seele zu dem der anderen, ist – siehe Paulus – weder nachtragend noch eifersüchtig, macht keine Unterschiede (denn die Schöpfung ist „sehr gut“ und zwar ausnahmslos, siehe die Funktion des Bösen), duldet alles und ist deshalb Alles- und damit auch Feindesliebe. Sie ist wie gesagt ein rein intellektueller Akt, weil sie die Oberfläche durchdringt und zum Wesen des Menschen vorstößt, zum geistigen Kern, und deshalb alles vergeben und verstehen kann: Das zeigt Jesus überdeutlich, indem er keine Groll hegt gegen die Folterer, die ihn ans Kreuz nageln: „… sie wissen nicht, was sie tun.“ Während die menschliche Bevorzugungsliebe Grenzen errichtet, ist die dritte und höchste Art der Liebe eine der Grenzüberwindung, unterschiedslos und unpersönlich.
Das ist der Grund, warum geistige Lehrer des Altertums sie auch „göttliche“ Liebe genannt haben, denn diese ist eben die Allesliebe. Dann taucht natürlich sofort der Einwand auf, wie man denn liebend wie Gott sein kann bei diesem furchtbaren Leid, das auf der Erde herrscht, nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern in jeder Ehe. Den Grund haben schon die Weisheitslehrer genannt, von Lao Tse über Buddha, Jesus, Meister Eckhart, Rumi, Baudelaire oder Goethe, die das Leid als ultimatives Instrument des Universums erkannt haben, den Menschen von seinem Ego-Kurs abzubringen und auf den der Liebe zurückzuführen, auf den zum geistigen Selbst in einem selbst und zu dem im anderen, in jedem anderen.
Solange die Menschen die Abtrennung voneinander aufrechterhalten und auf der selbstischen Ebene bleiben, ist das die perfekte Desintegration in Bezug auf die Einheit allen Seins.
„Willst du die falsche Lieb
von wahrer unterscheiden,
so schau, sie sucht sich selbst
und höret auf in Leiden.“
(Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch V, 303)
Deutlich wird das am Scheitern der meisten Ehen: Sie können deshalb nicht glücklich sein, weil Selbstlosigkeit und geistige Selbsterkenntnis fehlen. Die Partner glauben erstmal beide, dass der jeweils andere sie glücklich machen soll, obwohl es nur genau umgekehrt funktionieren kann, dass man nämlich selbst den anderen glücklich macht. Zudem sind beide davon überzeugt, dass im Fall des Auseinanderlebens es immer der andere war, der den einen unglücklich gemacht hat. Aber das lag daran, dass die Partner sich gegenseitig nur als Person auffassen; dann ist das Gesetz von Gut und Böse wirksam und führt zu den entsprechenden Höhen und vor allem Tiefen der Beziehung. Nur wenn der eine Partner dem anderen bei Verhaltensweisen wie z. B. Fremdgehen trotzdem mit un(!)persönlichem Tiefenverständnis begegnen würde, wäre eine Voraussetzung für den harmonischen Bestand der Beziehung gegeben.
„Dass du nicht Menschen liebst,
das tust du recht und wohl,
das menschlich‘ Wesen ists,
das man im Menschen lieben soll.“
(Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch I, 163)
Außerdem fällt wahre Liebe keine (negativen) Urteile über Menschen, weil sie nämlich in ihnen die wehrlosen Opfer des Selbsterhaltungsprogramms erkennt. Sie bevorzugt niemanden, weil sie die Einheit der Geistseelen hinter der Oberfläche der Vielfalt sieht. Die Erkenntnis der Einheit der Vielfalt führt dann zur ganzheitlichen Vollkommenheit.
Dem Alltagsmenschen ist es nicht möglich, einen beliebigen Nächsten zu lieben und ihm zu vergeben, denn die Voraussetzung wäre das Trachten: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes …, so wird euch alles andere zufallen.“ Nur das Durchlassen der Seelenkraft kann den Menschen so umwandeln, dass sein animalisches Programm und dessen Ausformungen „täglich sterben.“
Ein Prinzip der Liebe ist, anderen das zu tun, wovon wir möchten, dass es uns getan wird – wenn wir in deren Situation wären. Die Goldene Regel wirft dadurch ein Schlaglicht auf das Verhalten der Ausgrenzer, Asylantenhasser und derjenigen, die Flüchtlinge hetzen. Deren Verhalten bringt jedoch unverstellt den generellen Charakter der menschlichen Zivilisation zum Ausdruck, wenn auch quantitativ in ihrer exzessivsten Form.
Formen der Liebe
Aus dem antiken Griechenland stammt folgende differenzierte Definition von Liebe: Eros, Philia und Agape:
Eros:

Agnolo Bronzino: Allegorie des Triumphes der Venus (Detail) 1540 Gemeinfrei, Public domain. nationalgallery.org.uk
Eros steht für die sinnliche Liebe, das erotische Begehren. Sie enthält als Kern Sexualität, geht aber darüber hinaus. Ihre Kraft der Anziehung umfasst alle visuellen, auditiven, taktilen, usw. Interaktionen.
Philia:

Pierre Auguste Cot: Le Printemps. (Ausschnitt) 1873 Appleton Museum of Art. Public Domain. Wikimedia Commons. |
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Sympathie, partnerschaftliche Liebe, Wertschätzung, freundschaftliche Gemeinsamkeit, vertrauensvolle gegenseitige Zuwendung. (Bezieht sich im Prinzip nicht nur auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern, sondern auch auf Gegenstandsbereiche wie Hobby, Sportclub, Ehrenamt, Wissenschaft, usw.)
Agape:

Pelican-in-her-piety
Relief mit der Darstellung eines Pelikan, der sich seine Brust aufreißt, um mit seinem Blut seine Jungen zu füttern.
Cimetière-Notre-Dame-des-Neiges, Montreal.
GNU Free Documentation License. Public Domain. Wikimedia Commons.
Agape ist selbstlos, also ohne Ego, dann unterschiedslos, also alle betreffend, weiterhin ohne Gefühlsbindung und daher rein verständnismäßig und schließlich geistig und daher durch die Erscheinung hindurchschauend. Agape ist die Liebe im Sinn des Strebens zur Einheit (einer Einheit wie die der Finger an einer Hand) und insofern die Liebe zu allen „Nächsten.“
Demzufolge ist das obige Pelikan-Beispiel alles andere als agape, denn das Verhalten des Pelikans ist zwar selbstlos, aber zum einen bevorzugend und nicht etwa unterschiedslos auf alle Pelikanjungen bezogen. Zudem ist es eine Handlung, die instinktiv und nicht bewusst ist, auf der materiellen Oberfläche verbleibt und keineswegs hindurchschauend und geistig verstanden werden kann. Eine Handlungsmaxime von Verständnis und Vergebung wie „… weil sie nicht wissen, was sie tun“ ist schon dazu ausgeschlossen, weil es auch noch um eine tierische Bewusstseinsgrenze handelt.
Gandhi hat in seinem Kampf gegen die koloniale Gewaltherrschaft der Briten absolut selbstlos gehandelt, unterschiedslos jegliche Feindbilder – in Bezug auf diese wie auch auf seine islamischen Konkurrenten – vermieden, die Soldaten des Empire trotz aller unmenschlicher gewalttätiger Vorgehensweisen als zumindest im Prinzip ebenbildliche Schöpfungsbestandteile erkannt und sich jeglicher Rachsucht enthalten.
Ein etwas konstruiertes Gegenwartsbeispiel könnte etwa sein, als Privatperson einen irakischen oder syrischen islamischen Flüchtling (Entfernt ähnlich wie ukrainische Flüchtlinge) im Haus aufzunehmen, ohne auf seine Glaubensrichtung zu achten, sich dessen göttlicher Ebenbildlichkeit wie seiner eigenen (Mt. 22,29: „liebe … wie dich selbst“) bewusst zu sein und, nachdem er, sagen wir mal, Gegenstände aus dem Haus gestohlen hätte, ihm das zu vergeben (was nicht etwa mit einem Verzicht auf Strafverfolgung verbunden wäre).
Die Unterscheidung zwischen materieller und geistiger Liebe macht bereits deutlich, welch prinzipieller Unterschied zwischen Eros und Philia einerseits und Agape andererseits besteht: Die beiden ersten Formen – ungeachtet weiterer möglicher Differenzierungen wie platonischer Liebe, Manie, Verehrung, usw. – sind Formen der Hinwendung aus irdisch-menschlicher Perspektive, Teile davon rein tierisch. Außerdem enthalten sie einen Nutzenfaktor für das persönliche Ego.
Die Liebe in der Partnerschaft (sexuelle und emotional-freundschaftlich-partnerschaftliche Gemeinschaft) ist keine Hingabe an das Du, sondern trotz aller Verliebtheit nichts anderes als eine erweiterte Selbstliebe. Die Mein-Dein-Struktur wird nicht aufgehoben, außer vielleicht in den ersten zwölf Wochen der Verliebtheit, in der die Verliebten alles, aber auch alles von sich opfern würden, weil das Ich-Du-Bewusstsein einen Moment aufgebrochen ist und einer gewissen Selbstlosigkeit Platz gemacht hat. Aber der Teufel (das Ego) lässt einen immer erst gewinnen.
Bezeichnend für den Charakter einer Ehe oder Partnerschaft ist der Tausch der Ringe: Es geht keineswegs primär um Hingabe an den Anderen, sondern um ein Zweckbündnis zu beiderseitigem Vorteil. Der Haken ist, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten, die dabei entstehen, mit der Zeit mehr und mehr dominieren. Tiefe und Umfang der gegenseitigen Sympathie sind meist sekundär. Eros und Philia beziehen sich auf das Ego. Und fast jeder Mensch macht im Laufe der Zeit die Erfahrung, dass trotz Eros und Philia irgendetwas fehlt, dass sich die Gemeinsamkeiten aufbrauchen. Dahinter steckt, dass das Sehnen nach Einheit und Vervollkommnung („bessere Hälfte“) langsam aber sicher durch den Wunsch nach Autonomie (um einmal ein anderes Wort für Ego zu verwenden) und Selbstverwirklichung – gerne auf Kosten des Partners – aufgefressen wird. Die menschliche „Liebe“ ist eine Art Strohfeuer, sie lässt nach, führt dann zum Überdruss und endet schließlich, wie sie beklemmend Tolstoj in der „Kreuzersonate“ im 17. Kapitel beschreibt und noch heute vor jedem Scheidungsrichter zu besichtigen ist:
„So lebten wir also. Das Verhältnis wurde immer gespannter, die Feindseligkeit wuchs, und endlich waren wir so weit, dass die Feindseligkeit nicht durch die Meinungsverschiedenheiten geweckt wurde, sondern dass die Feindseligkeit zu Meinungsverschieden-heiten führte. Was sie auch sagen mochte, ich war schon im Voraus nicht mit ihr einverstanden, und genauso ging es ihr. … Es kam zu Zusammenstößen und Hassausbrüchen wegen des Kaffees, des Tischtuchs, des Wagens, einer falsch ausgespielten Karte beim Bridge – lauter Dinge, die weder für den einen noch für den anderen irgendwelche Bedeutung hatten. … Ich sah manchmal, wie sie sich Tee eingoss, mit dem Fuß wippte, den Löffel an den Mund setzte, die Flüssigkeit einschlürfte, und ich hasste sie dafür wie für das schlimmste Verbrechen. … Es wäre entsetzlich gewesen, so zu leben, wenn wir unsere Lage begriffen hätten; aber wir begriffen und sahen sie nicht.
So lebten wir in einem ewigen Nebel, ohne die Lage zu erkennen, in der wir uns befanden. Und wenn das nicht gekommen wäre, was schließlich gekommen ist, so hätte ich bis in mein hohes Alter so weitergelebt und noch auf meinem Sterbebett gedacht, ich hätte ein gutes Leben hinter mir, zwar nicht durchweg gut, aber auch nicht schlecht, ein Leben, wie es alle leben. Ich hätte den Abgrund von Unglück und schändlicher Liebe, in dem ich zappelte, nie erkannt. Wir waren zwei Sträflinge, die an eine Kette geschmiedet sind, einander hassen, sich gegenseitig das Leben vergiften und sich bemühen, das nicht zu sehen. Ich wusste damals noch nicht, dass von hundert Ehepaaren neunundneunzig in der gleichen Hölle lebten wie ich, und dass es nicht anders sein konnte.“
Wie zeitlos, modern und aktuell diese Beschreibung ist, kann man an solchen Bearbeitungen wie am Polanski-Film „Der Gott des Gemetzels“ oder an der französischen Produktion „Die Ökonomie der Liebe“ besichtigen. Das Thema ist so universell, dass Tolstoj fast der Drehbuchautor dieser Filme hätte sein können.
Dazu kommt die Falle der gegenseitigen Abhängigkeiten, was Rumi so beschreibt: „Binde zwei Vögel fest zusammen: Sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben.“
Die Menschen lieben falsch, weil sie sich auf Eros und Philia beschränken und ohne Agape leben. Deshalb führen die Ehen und Liebesbeziehungen nach einer Zeit, individuell sehr unterschiedlich, zu Leere, Verödung, Abstumpfung und allzu oft zu Streit, Ablehnung und Trennung. Die Weltliteratur ist voll von Beschreibungen, in welches Leid die menschlich verstandene Liebe sich immer wieder verwickelt. Klassiker sind Lolita, Madame Bovary, Anna Karenina, Die Liebe in den Zeiten der Cholera, u. v. a. m. In der Filmgeschichte zeigen dies Filme wie „Der letzte Tango in Paris“, „Lady Chatterley“ oder „Doktor Shiwago.“ Eine gewisse Ausnahme stellt „Casablanca“ dar auf Grund der selbstlosen Entscheidung des Protagonisten. Gegenwärtig sind es die endlosen Seifenopern von „Dallas“ bis „Sturm der Liebe“, die das ewig leidvolle Auf und vor allem Ab der sogenannten Liebe zeigen. Dazu sagt der Volksmund: „Pack schlägt sich und Pack verträgt sich.“ Aber allzu oft verträgt es sich eben dann nicht mehr. Spirituell geprägte Liebe kennt dieses Wechselbad von An- und Entspannung, Streit, Missverständnis und Versöhnung mit zusammengebissenen Zähnen nicht, und sie kennt auch kein Pack.
Im Gegensatz zu diesen Formen von Liebe ist Agape etwas anderes. Sie ist die Liebe der göttlichen Seele im Menschen – herabgestiegen ins Bewusstsein des betreffenden Suchers – und zwar zur Geistseele im Gegenüber, in jedem Gegenüber. Sie hat nichts mit Hinwendung, Verständnis und Sympathie für die Person, den äußeren Menschen zu tun, sondern richtet sich ausschließlich an den göttlichen Kern in ihr: „Gott sieht die Person nicht an“ ( Rö 2,11; Apg 10,34; Jak 2,1).
Sie geht nicht an der materiellen Liebe vorbei, sondern verbindet sich mit ihr und veredelt sie, weil sie keine Ego-Inhalte enthält, daher selbstlos ist und in erster Linie für den anderen da ist. Einiges davon wurde in der ersten Zeit der Flüchtlingswelle 2015 im Ansatz sichtbar. Wenn zur selbstlosen Liebe die hindurchschauende hinzukommt, dominiert die geistige Liebe, ohne den Zauber der erotischen und partnerschaftlichen Liebe zu verlieren. Im Gegenteil greift sie diese menschlichen Erfahrungsbereiche auf und verändert sie im Sinne einer Verfeinerung und Erfüllung. Das Bewusstsein wird erweitert, indem sich Mann und Frau ihre Einheit bewusster machen. Je mehr die Gegensätze abbröckeln, desto mehr tritt die Liebe hervor, die eben keine Bevorzugung kennt, weil sie alles liebt in dem Sinn, dass sie hinter allem das Göttliche erkennt.
Wahre Liebe
Man kann auf zweierlei Art und Weise essen: Man kann „zu sich hin“ essen, also Hunger stillen und dabei sich vor allem dem selbstbezogenen Genuss widmen. Man kann aber auch buchstäblich bei jedem Bissen dankbar essen, also gewissermaßen „von sich weg“, den Bezug zur Seele öffnend. Die Entfernung der Ich-Bezogenheit ist die Transformation des materiellen Essens hin auf die geistige Ebene. Das ist auch der Unterschied des Menschen zum Tier.
Man kann die Auswirkungen von Agape entfernt erahnen, wenn man während eines schmackhaften Essens die Speise im Mund genießt und parallel dazu dankbar an sie als göttliche Gabe denkt: Dann stellt man fest, dass der Geschmack einerseits an Intensität verliert, sich anderseits zugleich als Empfindung tieferer Freude durch die liebevolle Versorgung durch die Seele manifestiert.
Beim Sex ist es im Prinzip genauso: Man kann die orgiastische eigene Befriedigung suchen oder aber den Akt als Hinführung zur Verbindung der göttlichen Seelen verstehen. Letzteres ist so gemeint, dass man die animalische Seite des Aktes nach oben erweitert und ihn so versteht, dass er den Himmel auf Erden sichtbar macht. Das geschieht dadurch, dass man sich während der Liebkosungen bei der göttlichen Seele im Partner bedankt. Dann geschieht das, was Paulus im Römerbrief 11 andeutet, dass nämlich, wenn der Anfang heilig ist, das Ganze heilig ist. Das Christentum nennt diesen Zusammenhang an vielen Stellen den „Erstling.“
Sex ist nicht nur Praxis, sondern auch Symbol. Der ganze Genitalbereich, die Liebkosungen und die leidenschaftliche Vereinigung sind ja auch Konzepte der Schöpfung und weisen auf die Vereinigung mit dem Schöpfer – im anderen – hin. Das gleiche gilt für die partnerschaftliche Beziehung und die Ehe. Insofern kann physikalischer Sex ein Abbild für die Vereinigung auf höherer Ebene sein, nämlich die der Seelen. Sex kann durch die Lust an ihm zur Erkenntnis seines Wesens führen, zum Schöpfer der Lust, also zur Antwort auf die Frage, warum es überhaupt diese wunderbare Lust für den Menschen gibt, die die Tiere nicht kennen. Aber die Selbstsucht verhindert, die wahre Liebe auch im Sex zu finden.
Das zerstörerische Potenzial der ausschließlich physischen Version kann man sowohl beim Essen als auch beim Sex überall sehen. Eine krasse filmische Darstellung dieses Sachverhalts findet sich im Film „Das große Fressen“: In der Schlussszene liegt der Protagonist auf einem Tisch, wird masturbiert und gleichzeitig mit Torte vollgestopft und stirbt dabei. Der Hinweis auf die zum Tode führende Praktizierung von Sex oder Essen auf animalische Art und Weise ist deutlich. Die Unzahl von Kochshows, Flatrate-Bordellen, die explodierende Fettleibigkeit und Aids lassen grüßen.
Ein weiteres wesentliches Merkmal der Liebe, wie sie im Sinn der großen Weisheitsschriften gemeint ist, ist das Hinwegsehen über die äußere Erscheinung. Dies ist nicht im ursprünglichen altgriechischen Konzept von Agape enthalten! Es bedeutet, dass sich aus der Sicht der Seele diese wahre Liebe auch an die Seele der anderen Person richtet, nicht nur an den Körper als Träger dieser Seele. Es ist nicht die Liebe des äußeren (Hüllen-)Menschen zur Hülle des anderen (Hüllen-)Menschen, sondern die Liebe der Person zur Seele und die der Seele zur anderen Seele hinter der Schale gerichtet. Deswegen ist menschliche Liebe emotional, während die Liebe der Seele intellektuell ist, ein Erkenntnisprozess ist, nicht emotional. Die wahre Liebe der Seele bedeutet nicht, zu Feinden Sympathie aufzubauen, sondern „nur“, sie geistig zu erkennen.
Die entpersönlichte Kommunikationsaufnahme der Geistseele führt immer zu Harmonie. Sie bleibt aber nicht isoliert auf dieser Ebene, sondern strahlt auf die beiden anderen Bereiche der Philia und der Erotik (Triebseele) aus, bezieht sie mit ein und erhöht sie. Insofern schaut diese Liebe über alles Negative der Persönlichkeit hinweg – was das Trennende zwischen den Menschen ist – und konzentriert sich auf das Eigentliche und Verbindende in ihnen.
„Hört auf, menschliche Liebe … zu fordern,
und das Gewisssein des Einsseins wird gefördert.“
(Tao Te King, 19)
Das Hinwegschauen kann tatsächlich auch ein Element der rein weltlichen Liebe sein. Das weiß jedes jungverheiratete Paar. Da aber die geistige Dimension fehlt, dauert sie jedoch auch nicht allzu lange.
Ein Sinnbild für die entpersonalisierte Liebe ist die Geschichte „Die Schöne und das Biest“ („La belle et la bȇte“), in der die Schöne das Monster beginnt zu lieben, weil sie durch ihre Intuition spürt, dass die abstoßende Oberfläche nicht das ist, was diese Erscheinung glauben macht. Sie liebt nicht das Äußere, sondern sieht darüber hinweg und erfühlt das Eigentliche, das hinter der Fassade ausstrahlt.
Auch das Märchen zeigt diese Symbolik durch das Küssen der Kröte, die Überwindung der Oberflächenfixierung. Dadurch werden die Gegensätzlichkeiten und Barrieren aufgehoben, es gibt keinen essentiellen (!) Unterschied mehr zwischen Ich und Du, mir und dir und zwischen mein und dein, zwischen meinem Gesicht und dem der Kröte. Das ist der Einstieg in die Bestimmung des Menschen bzw. sein Lernziel: Es wird der Egozentrismus durchdrungen, die Nächstenliebe auf der höheren geistigen Ebene eröffnet und das Nehmen durch das Geben ersetzt. Es ist der Ausstieg aus unserem heillos erscheinenden Leben und Lieben im Jammertal. Solche Versuche lassen sich schon einige Male in der Menschheitsgeschichte beobachten wie z. B. bei den Katharern oder den ursprünglichen Quäkern.
Die Liebesbeziehung z. B. einer herkömmlichen Ehe ist alles andere ist als wahre, also geistige Liebe, weil sie weder selbstlos ist noch von der Oberflächenebene der Person ablässt. Sie ist ein Tausch, der auf Gegenleistung beruht. Das ausschließlich selbstische Prinzip wird durch ein gemeinsames selbstisches ersetzt, verzichtet nicht auf Mein und Dein und frisst durch die Expansivität und Unersättlichkeit des Ego („I can’t get no satisfaction“) auf Dauer den anderen auf. Außerdem versuchen die Partner ständig, sich gegenseitig zu dominieren oder zu benutzen bzw. eben das zu verhindern.
Jede Art von Gemeinsamkeit gefährdet das Ego mit seinem unbewussten Konzept der Abgetrenntheit und eigenständigen Individualität. Deshalb befindet es sich in einer Paarbeziehung immer in der Zerrissenheit zwischen einmal der Suche nach Vollständigkeit, die jeder Partner im anderen sucht, und zum anderen seiner Selbstbehauptung.
Das rechthaberische (meist männliche) Ego will triumphieren, es will zudem profitieren, anstatt sich zu opfern. Das sind die Gründe für Enttäuschung, Leere und die unendlichen und unzähligen Missverständnisse, Feindseligkeiten, Auseinanderentwicklungen und sonstigen Unglücke in dieser Art von Liebe: Die beiden prinzipiellen Merkmale der wahren Liebe – Selbstlosigkeit und Hindurchschau – werden durch die Herrschaft des Ego verdrängt. Und die Macht der allgemeinen Trance, in einer nur materiellen Welt zu leben, die die eigentliche Welt des göttlichen Bewusstseins und seiner Wirkungsmöglichkeiten nicht kennt (siehe Kapitel 8), reicht so weit, dass man auch in einer zweiten, dritten, vierten oder bei manchen sogar achten Ehe nichts dazulernt. Alle Verbesserungsversuche auf nicht-spiritueller Ebene sind nicht nachhaltig und bleiben erfolglos. Die Beziehungen scheitern regelmäßig am Überdruss, weil Mann und Frau sich nur als Mann und Frau auffassen, anstatt hinter die Oberfläche zu schauen und dadurch die Entfaltung der Seelenkräfte zu ermöglichen. Ohne geistiges Bewusstsein gewinnt das Ego.
Alle wollen geliebt werden, aber wenige wollen lieben. Und von denjenigen, die lieben, tun es viele deshalb, damit sie geliebt werden. Es ist für sie – unbewusst – ein Deal. Und es funktioniert übrigens auch nicht. Es gilt das Prinzip von Aussaat und Ernte. Wer die Liebe nicht zuerst aussät, muss sich nicht wundern, wenn es keine Ernte gibt. Die Menschen warten auf Liebe und wundern sich, dass keine kommt. Sie müssen ewig warten, weil Liebe das ist, was man selber als erstes einbringt. Hierbei muss die Frau dem Mann den Weg zeigen. Die Menschen wollen ernten, ohne ausgesät zu haben. Gandhi hat sein Volk geliebt, was man daran sehen kann, dass er nichts für sich getan hat und alles für die Menschen. Die haben Tag für Tag gesehen, dass und wie sehr er für sie gelitten und auch seine Existenz eingesetzt hat, und deshalb haben sie wiederum ihn geliebt: „Bapu“ (Vater).
Das zweite Merkmal der wahren Liebe neben der Hindurchschau, die Selbstlosigkeit, kommt in der Mutterliebe zum Ausdruck. Sie führt dicht an das gemeinte Ziel, weil sie zwar nicht von der persönlichen Ebene absieht, aber meist selbstverleugnend ist, weil sie das eigene Wohl dem des Kindes unterordnet.
Trotzdem ist der größte Teil der Mutterliebe immer noch Bevorzugungsliebe, weil das Bewusstsein der geistigen Einheit aller Kinder nicht da ist.
Es kommt auch häufig vor, dass die Mutterliebe ihre übertriebene Fürsorglichkeit für Liebe hält, obwohl sie letztlich nur der Selbstverwirklichung dient und keineswegs selbstlos ist. Vor allem in den bürgerlichen Gesellschaftsschichten ersetzt Fürsorge die Liebe. Dort wollen die Mütter selbst im und durch das Kind zur Geltung kommen und fürchten in schweren Krisen des Kindes mehr um das eigene Ansehen als um das Kind: Die Tochter vom Chefarzt bleibt in der sechsten Klasse sitzen? Das darf nicht sein, und deshalb wird sie ohne Rücksicht auf ihr Wohl, sehr wohl aber mit viel Rücksicht auf das Ansehen und damit Wohlbefinden der Eltern, auf ein Internat abgeschoben. Dasselbe gilt für die sogenannten Helikoptereltern, die durch ihr überdrehtes Fürsorgeverhalten scheinbar ihr Kind, in Wirklichkeit jedoch sich selbst, ihr Credo, im Kind verwirklichen wollen.
Aus der scheinbaren Unmöglichkeit einer entpersönlichten und selbstlosen Liebe resultiert für manche Philosophen, Heiler und auch Theologen, dass das Streben nach dieser Lebensform, speziell das Praktizieren von Feindesliebe, so weit entfernt von unserem menschlichen Fassungsvermögen sei, dass dies dem lieben Gott abzutreten wäre und man die Finger davon zu lassen hätte. Für sie ist es nicht vorstellbar, dass ein Feldgeistlicher in Afghanistan die Versammelten dazu einladen könnte, auch für die Taliban zu beten, wenn er denn das Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt beherzigte.
Die scheinbare Unerreichbarkeit kann man beginnen aufzulösen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass diese Art der Liebe mit Emotionen, Gefühlen und Sympathien nichts zu tun hat. Sie ist wie gesagt eine intellektuelle Erkenntnis folgender Sachverhalte:
(a) Die Feindlichkeit des „Feindes“ ist Produkt der – unbewussten – biologischen Urtriebe der Selbsterhaltung und damit des Revierverteidigens und der Fremdenfurcht. Der Mensch ist nichts anderes als das praktisch wehrlose Opfer dieser Triebe, seines animalischen Erbes. Er kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht anders, und er weiß somit auch nicht, was er tut.
(b) Die eigene göttliche Identität ist abgesehen von ihrer individuellen Ausformung identisch mit der des „Feindes.“
(c) Mich verbindet mit ihm (und allen anderen „Nächsten“) die geistige Einheit der Seelen, auch wenn mein Bewusstsein eine andere Kontur hat als die seine. Die gemeinsame Essenz der beiden Seelen ist dieselbe so wie die verschiedenen Finger der Hand vom selben Blutstrom belebt sind.
Das Erkennen dieser gleichen Essenz im anderen ist die wahre Liebe, die der geistigen Seele: Es gibt jede Menge Äpfel am Baum, aber nur ein Leben. Es gibt kein echtes Du, nur ein oberflächliches. Dazu sagt die hinduistische Weisheit:
„Denn wer den Lebenssinn begreift
als den, der allem innewohnt,
schmäht nicht sein Selbst im anderen Selbst.
Er wandelt so den Pfad zur Höh‘.“
(Bhagavad Gita XIII, 28)
In der islamischen Sufi-Weisheit erzählt Rumi dies auf seine unnachahmliche poetische Art:
Jemand klopft an die Tür eines Freundes. Durch die Tür fragte der Freund, wer da sei. Der Mann antwortete: „Ich bin es.“ Der Freund wies ihn mit den Worten ab: „Verschwinde! In meinem Haus ist kein Platz für Barbaren.“
Der Mann ging fort und blieb ein Jahr weg. In ihm brannte der Schmerz der Trennung. Er wurde durch dieses Feuer geläutert. Schließlich kam er zurück und klopfte erneut. Sein Freund fragte wieder: „Wer ist da?“ Der Mann antwortete: „Du bist es, der vor der Tür steht!“ Der Freund öffnete: „Da du ich bist, komm herein!“
(Mesnevi I, 3065-3075)
Das Christentum bringt es kurz und bündig auf den Punkt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wenn jeder jeden anderen so bedingungslos lieben würde wie er es bei sich selbst tut, wäre die Welt sofort gerettet. Die wahre Nächstenliebe bedeutet, in jedem anderen dessen Seele zu sehen, und zwar im Bewusstsein seiner eigenen. Im Märchen wird diese Form der Goldenen Regel mit der Metapher des „Küssens der Kröte“ ausgedrückt. Hinter der Oberfläche steckt der Prinz. Wenn man durch das Äußere hindurchschaut und in ihr Gott erkennt, wird dadurch Unvollkommenheit, also jede Feindschaft verdrängt.
Deshalb gibt es nicht „die“ Liebe. Es gibt zwei, die Freundesliebe und die Feindesliebe. Wie Tolstoi es sarkastisch betont, ist die Freundesliebe eine Bevorzugung und enthält damit Ausgrenzungen, während die geistige Liebe das Gegenteil tut und integrativ alle liebt. Die menschliche Liebe ist die ausgrenzende Freundesliebe, die spirituelle Liebe ist die vereinende Feindesliebe. Diese macht keine Unterschiede, was das Wesen der Menschen betrifft.
Geschlechterliebe
Was ist der Sinn der Liebe zwischen den Geschlechtern? Die Menschen denken, dass sie dazu da ist, das Glück zu finden und glücklich zu sein. Es ist aber genau umgekehrt. Der Sinn der Geschlechterliebe ist dazu da, glücklich zu machen. Nur die wenigsten (Männer) haben die Erfahrung gemacht, dass sie genau erst über diesen „Umweg“ glücklich werden.
Eros und Philia sind die Treppenstufen, die wir brauchen, um an ihnen Vergeistigung, d. h. Höherentwicklung des Bewusstseins, zu erlernen und zugleich die Freude, die mit ihnen verbunden ist, erst recht zu genießen.
Was ist der Sinn eines gemeinsam gestalteten Zusammenlebens, wenn es unter dem Primat des Ego verbleibt und es, solange es die Menschheit gibt, keine substantiellen Veränderungen an den ewigen Missverständnissen, Auseinandersetzungen, Krisen und Rosenkriegen zu sehen sind. Primat des Ego bedeutet, dass alles immer nur auf der Ebene der Personen bleibt. Und zwischen Personen kann es keine wahre Liebe geben, sondern vorwiegend Kräche, Streitereien, Reibereien, Eifersucht, Besitzenwollen und immerwährende Kämpfe, in günstigen Fällen von friedlichen und harmonischen Phasen unterbrochen.
Ohne spirituelles „Gnothi se auton“ verbleibt die Partnerliebe auf der Ego-Ebene und ist unbeständig, weil die Liebe in die eigene Richtung dominiert. In der Egowelt kann es keine nachhaltige Liebe in die Richtung von sich weg zum Partner geben: Ein liebendes Paar auf der Ego-Ebene geht den Weg der Ego-Liebe, die wie gesagt vom Füreinander über das Miteinander und Nebeneinander zum Gegeneinander führt.
Der Sinn des liebevollen Zusammenlebens besteht darin, dass das menschliche Ego, das nur um sich kreist und ausschließlich aus Selbstorientierung besteht, die Chance erhält, aus der Begrenzung auf das Ich hinauszutreten und dem Partner Bedeutung zuzuerkennen. Eine solche Erweiterung des Bewusstseins geht einher mit zunehmender Überwindung der scheinbaren Dualität. Es dürften eher selten Partnerschaften bestehen, von denen der eine mit Fug und Recht sagen kann, dass das Wohl des Partners für ihn primär ist und er sein eigenes hintanstellt. Dann könnte es z. B. keine Eifersucht mehr geben, weil sie ja durch Toleranz und der Orientierung am Wohl des anderen ausgeschlossen ist. Die Voraussetzung ist aber eine spirituelle Grundlage, ohne die diese Art der Überwindung der Egobeschränkung nicht möglich wäre.
Zum „Ebenbild Gottes“, zu dem jeder Mensch geschaffen worden ist, gehört Vollkommenheit. Diese enthält die Vereinigung von männlicher und weiblicher Charakteristik. Das hat zunächst mit Mann und Frau nichts zu tun. „Männlich“ und „weiblich“ sind Definitionen, die ihren Ursprung im altchinesischen Taoismus haben. Als „männlich“ werden Merkmale wie Aktivität oder Risikobereitschaft, als „weiblich“ Zurückhaltung oder Kommunikationsfähigkeit bezeichnet, was prinzipiell sowohl bei Männern wie auch bei Frauen vorkommt, wenn auch eher konzentriert beim betreffenden Geschlecht. Unberührt davon bleibt, dass es zunächst um die männlichen und weiblichen Seiten innerhalb der eigenen Person geht.
Das heißt nicht, dass Frauen keine Weisheit und Männer keine Liebe hätten. Es geht vielmehr um die Verteilung der einzelnen Qualitäten erst auf die beiden eigenen Pole der Person in ihrer Androgynität (Gen. 1,27) und dann um die gegenseitige Inspiration.
Der Sonnenstrahl bringt Licht und Wärme. Ohne das Licht kann pflanzliches, tierisches und menschliches Leben sich nicht entwickeln, egal, wie günstig die Temperaturen sind. Ohne Wärme kann auch beim hellsten Licht kein Leben sein. Erst aus beiden Faktoren zusammen gedeiht Leben. Wenn das Individuum diese beiden grundlegenden Seiten des Menschen im Individuum ungefähr gleichermaßen entfaltet, befindet es sich auf dem Weg zu individueller Vollkommenheit. Das bedeutet, dass die Frau ihre männlichen Anlagen wie entschlossene Aktivität und spirituelle Weisheit weiterentwickelt und der Mann seine weiblichen wie Empfänglichkeit, Hingabe- und Liebesfähigkeit. Dann reifen der Mann mit entwickelten weiblichen Anlagen und die Frau mit entwickelten männlichen zu einer gemeinsamen Ganzheit heran – wobei die Frauen immer mehr weibliche Anteile und Männer immer mehr männliche behalten.
Die Verbindung dieser beiden unvollständigen Potenziale kann durch wechselseitiges Vorleben sich immer weiter in Richtung Komplettierung entwickeln, so, wie sich die Verbindung von Elektrizität (♂) und Magnetismus (♀) zur dann großen Kraft des Elektromagnetismus entfaltet. Damit beginnt die Wiederherstellung des vollständigen „Abbildes.“
Feindesliebe
Wenn ich es schaffe, mir den Sachverhalt des Kröteküssens zu vergegenwärtigen, während der „Feind“ mit rotem Kopf vor Wut vor mir steht und mir hasserfüllte Kränkungen an den Kopf wirft, geschieht ein Wunder. Wenn ich ruhig bleibe und mich einer aufbrausenden Gegenreaktion auf seine Provokation mit einem inneren milden Lächeln (des Verständnisses meiner und seiner geistigen (!) Ebenbildlichkeit) enthalte, setzt seine Aggression – wenn auch langsam – aus und er wendet sich ab. Es (ver)schwindet die ego-normale Reaktion der Rache und des Heimzahlens. Die Ebenbildlichkeit wird durch die Vernunft erkannt, also durch das Verständnis unserer geistigen Einheit wie die der Finger der Hand) und durch die Anwendung dieses Strebens nach Einheit, Liebe genannt, verwirklicht. Dabei reicht die Einseitigkeit! Das ist der tiefe Sinn der Märchen mit dem Küssen der Kröte oder des Monsterbiests, weil durch den Kuss der „Prinz“ erscheint, sichtbar wird, also das eigentliche innere Wesen des Menschen.
Mit Fremden- oder gar Feindesliebe ist nicht gemeint, zum Gegner emotionale Bindungen oder Freundschaft aufzubauen. Der verstandesgemäße Vorgang bezieht sich auf die geistige Sicht, den Blick auf seinen spirituellen Wesenskern – durch die äußere Erscheinung hindurch bzw. über sie hinweg. Dies und nur dies und erst dann führt zur Fähigkeit der immerwährenden Vergebung. Die Voraussetzung ist, sich selbst als dieses Wesen im Innern erkannt zu haben, also sich der Göttlichkeit im eigenen Innern bewusst zu werden. Die jüdische Weisheit nennt das „Ebenbildlichkeit“ (Genesis 1,27). Alles Weitere kommt dann „von selbst“, besser: vom Selbst.
Das Hinwegsehen über die Oberfläche ist nicht so wirklichkeitsfremd, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr kennt es sogar jeder: In den ersten Monaten neuer Liebe ist jeder der Partner nur allzu bereit, über alle befremdlichen Eigenarten des anderen hinwegzusehen. Es ist tatsächlich die Liebe, die blind für negative Aspekte macht, wie das in „Die Schöne und das Biest“ verarbeitet ist. Allerdings bleibt dieses Übersehen noch auf der horizontalen Ebene und ist noch kein geistiger Tiefblick durch die Materie hindurch. Aber es ist ein Schritt, der den Transfer auf die tiefere spirituelle Dimension begreiflich macht.
Die Feindesliebe ist ursprünglich keine Eigenschaft der Person, es ist der Durchbruch der Seelenkraft. Der persönliche Anteil ist aber auch da. Die Leistung der Person besteht daraus, die auf rationaler Erkenntnis gegründete Entscheidung am „Mischerhebel“ immerhin getroffen zu haben, sie bewusst durchzulassen, den hochkommenden Ego-Impuls zu erkennen und zu blockieren und das durchzuhalten. Das kann nur geschehen, wenn wir die Voraussetzungen durch Meditation geschaffen hatten, wodurch der Kanal geöffnet wurde.
Dabei muss es gelingen, in dieser emotionalen Nagelprobe die Kontrolle über die Hass-Gedanken zu behalten und die Reaktion im obigen Sinn steuern zu können. Das geht nicht aus dem Stand heraus, sondern geschieht erst auf einem bestimmten Level der spirituellen Entwicklung, Der Zeitpunkt lässt sich leicht erkennen: Er ist dann da, wenn eine wie oben beschriebene Situation gemeistert werden muss. Dies wiederum tritt erst dann ein, wenn a) eine entsprechende meditative Kompetenz durch geduldiges Üben erreicht ist und b) dadurch eine erste wie auch immer geartete Gotteserfahrung vorliegt. Dann ist es gelungen, die Sperre der Ablenkung durch die irdischen Ego-Verhaltensmuster der Retourkutsche zu durchbrechen. Dann ergießt sich der Strom der befreiten Seelenkraft in mein Leben.
Ein „Feind“ ist in Wirklichkeit ein Prüfer, der auftritt, um meinen spirituellen Zustand oder Fortschritt, meine Liebesfähigkeit auszulösen, voranzubringen und zugleich auch die des „Feindes“ auszutesten: Dabei kommt es allerdings vor, dass die Person des „Feindes“ derart verstockt ist, dass die Liebe, also meine Nicht-Reaktion auf seinen Hass, seine Ego-Barriere nicht durchdringt. Dann geschieht etwas anderes: Er verschwindet irgendwann demnächst aus meinem persönlichen Umkreis. Bis es soweit ist, gibt es möglicherweise noch die eine oder andere Konfrontation dieser Art – aus Gründen der Chancen und Weiterentwicklung für beide -, bis er im Fall seiner Beton-Resistenz irgendwann weg ist.
Feindesliebe heißt nicht, die Missetaten der Feinde zu entschuldigen, zu übersehen oder zu tolerieren. Feindesliebe besteht aus Tiefenerkenntnis und -verständnis. Alles Weitere im konkreten Umgang mit den Feinden ist eine andere Sache, und zwar die meiner inneren Führung.
Daraus folgert, dass Kant mit seiner Auffassung, dass das „Ding an sich“ unmöglich zu erkennen sei, im Irrtum war. Aber das ist nun mal das Schicksal der Philosophen, die die Probleme ausschließlich mit dem Verstand lösen wollen und scheitern, weil sie den Verstand komplett missverstehen, nämlich als autonome und maßgebliche Entscheidungsinstanz des mündigen Menschen. Tatsächlich aber ist er nichts anderes als ein Instrument, ein williger Diener zunächst ausschließlich des verborgenen Selbsterhaltungstriebes des Menschen, seines Ego. Aber für die Philosophen wäre es allzu peinlich, ihren „Gott“, die Vernunft, als bloßes Mittel zum Zweck des kollektiven und individuellen Überlebens zuerkennen. Deshalb machen sie auch einen großen Bogen um einen jeden Versuch, Kants „Ding an sich“, das geistige Wesen des Menschen, seine Ebenbildlichkeit, irgendwie analysieren oder gar verstehen zu wollen. Erschwerend für das Erkennen des Charakters des Verstands ist allerdings, dass er natürlich ebenso ein unverzichtbares Umsetzungsmittel der geistig-intuitiven Führung ist, die ja ihrerseits meist nur Entscheidung und Richtung vermittelt, aber oft nicht die konkrete Umsetzung, wofür Verstand und Vernunft unerlässlich sind.
Wer die Feindesliebe erreicht hat, hat die Vereinigung von äußerem und inneren Menschen verwirklicht. Es ist die Expedition des Verstandes zur Seele, das Thema der Odyssee. Die Odyssee ist im Übrigen alles andere ist als eine Irrfahrt, sondern vielmehr ein ausgeklügelter spiritueller Lehrgang mit Stationen, die alle relevanten Faktoren des täglichen Ego-Sterbens erfassen.
Der Bewusstseinszustand der Feindesliebe stellt sich nicht unvermittelt ein. Erst durch langes Training und viele Erfahrungen baut er sich langsam auf. Einen ersten Schritt zur Feindesliebe beschreibt Remarque in seinem Weltkriegsroman „Im Westen nichts Neues“: An der Westfront im Ersten Weltkrieg landet der deutsche Romanheld während eines Sturmangriffs in einem Granatrichter, in den kurz darauf beim Gegenangriff auch ein französischer Soldat hineinspringt. Im Nahkampf sticht der Deutsche dem Franzosen das Bajonett in den Leib. Während dessen Todeskampfes über zwei Tage erkennt Paul Bäumer aus dessen Fotos und Heimatbriefen, dass er nicht einen Feind, sondern einen Menschen wie er selbst getötet hat. Zwar berührt das Geschehnis noch nicht die spirituelle Ebene, es ist aber trotzdem ein einschneidender Schritt in Richtung Aufbrechen der menschlichen Ordnung der bevorzugenden Freundesliebe und der irrigen Vorstellung vom Feind. Er bringt Licht ins Bewusstsein. Es ist folglich kein Wunder, dass das Werk durch die Nazis in der Bücherverbrennung gelandet ist.
Wenn jede Art von menschlicher Liebe in Wirklichkeit verkappte Selbstliebe und ein Tauschgeschäft ist, dann ist die diejenige Art von Liebe, die Buddha, Jesus, Lao Tse und viele andere lehren, die einzig wahre Liebe, weil nur sie den eigentlichen Sinngehalt des Wortes wiedergibt, nämlich das Streben nach Vereinigung und Einheit mit allen und allem, mit Freunden und Feinden, mit der Schöpfung insgesamt, auch mit dem „Bösen“ und deshalb ohne Ausnahme (siehe Gen. 1,31 sowie Kap. 3). Sie bewirkt durch spirituelle Selbsterkenntnis die zunehmende Aufhebung der Gegensätze zwischen „Ich“ und „Du“ und das Erkennen der Einheit (!) der scheinbar entgegengesetzten Pole. Eine Batterie besteht ebenfalls aus nicht nur unterschiedlichen, sondern sogar entgegengesetzten Polen und ist doch eine Einheit. Es ist dann das wirkliche und nicht nur oberflächliche Interesse am Wohlergehen des Du (siehe Gandhi in Kapitel 11 in seinem Umgang mit den südafrikanischen Feinden in der Regierung). Die Quelle allen Übels, der Selbsterhaltungsinstinkt, wird dadurch aufgehoben. Deshalb geißelt der Buddha auch das Auge-um-Auge-Prinzip, dem die Menschen aber nach wie vor automatisch und bedingungslos folgen.
„Nie wird in dieser Welt
Feindschaft durch Feindschaft abgestellt,
Feindschaft kommt durch Feindschaft zustande,
durch Nichtfeindsein hört Feindschaft auf.“ (Buddha: Dhammapada, 5)
Daraus ergibt sich, dass spirituelle Liebe auch unbedingte und umfassende Vergebung bedingt. Mit denjenigen Arten von Liebe, die die Menschen handhaben, wird alles Leid, was wir auf unserem Planeten haben, erzeugt und nur noch zementiert. Der einzige Sinn der Weisheitsschriften von Platon, Plotin, Epiktet, Johannes, Shankara, Nanak, Mohammed, Maimonides, Rumi, Meister Eckhart, Angelus Silesius und vielen anderen besteht darin, zum Gegenteil von dem aufzurufen, was die Menschen jeden Tag tun: Sie missachten nämlich alles, was sie aus dem Hamsterrad des generellen Leids herausführen würde, nämlich alles, was Nicht-Einheit zum Ausdruck bringt. Dabei wäre es ein großes Missverständnis, zum Beispiel die Vorkämpfer von Nicht-Einheit, also die Verfechter von Nationalismus und Faschismus mit deren Begriffe wie „Untermenschen“, „Kanaken“, „Alis“, „Remigration“, usw., usw. als Gegenpol zur Feindesliebe aufzufassen: Denn jeder ist Vertreter von irgendeiner Art von Gegenpol und Widersacher, egal, ob in der Politik, in den Kirchen, in der Arbeitswelt oder vor allem in der Nachbarschaft und bei der/dem bösen Ex. Im Verhältnis zu den Nazis gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied, es ist „nur“ eine Frage der Quantität. Deshalb versucht Jesus, uns die Augenklappen herunterzureißen, wenn er davon spricht, dass wir erstmal den Balken aus dem eigenen Außen reißen sollen, bevor wir uns um die Splitter in den Augen der anderen (Nachbar, Ex, Nazi, Konkurrent, usw.) kümmern. Mit dieser Art von Liebe verbleiben wir wie in den bisherigen Jahrtausenden in unserem Tal der Tränen. Deshalb dürfte es noch den Dritten Weltkrieg, den Vierten und Fünften geben sowie die weitere Verschärfung der Verbrennung von Kohle und Öl sowie aller anderen Missetaten, die wir unserem Planeten antun, bis wir den Balken in uns selbst erkennen.
Insofern gibt es kaum wahre Liebe auf diesem Planeten. Es gibt nur diejenige, die die Menschen dafür halten, und die sieht weder von der Person ab noch ist sie selbstlos. Das gesamte menschliche Leben ist ein Widerspruch gegen das eigentliche Lieben: Die Menschen lieben eben „die Finsternis mehr als das Licht.“ (Joh. 3,19)
Der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard konkretisiert das so: Wenn der Liebende sähe, dass er von ihr geliebt wird und zugleich erkennte, dass ihr Lieben für sie schädlich wäre, könnte er das Opfer nicht bringen, diese Beziehung ihretwegen aufzulösen. Und wenn die Geliebte sähe, dass die Beziehung der Ruin des Liebenden wäre, indem sie seine Eigentümlichkeit zerstörte, hätte ihre Liebe (Philia) nicht die Kraft, dieses Opfer zu bringen (Kierkegaard: Der Liebe Tun, II,4). Nur die wahre, nämlich aufopferungsvolle Liebe könnte dieses Opfer bringen. Ein Beispiel hierfür findet man im Libretto der Verdi-Oper „La Traviata“ („Die vom Weg Abgekommene“) im – bedingt – selbstlosen Verzicht der Prostituierten Violetta. Aber es gibt auch genügend irdisch-konkrete Beispiele hingebungsvollen Verhaltens wie das der Jungfrau von Orléans, von Gandhi, Mandela, Martin L. King, Geschwister Scholl, usw., usw., von den unzähligen Beispiele aufopferungsvoller Entwicklungshelfer, Flüchtlingsretter, Feuerwehrleute, Katastrophen- und Unfallhelfer, usw. Diese von wahrer Liebe – wenn auch meist unbewusst – geleiteten Menschen sind das gegenspiel zu denjenigen, die – ebenso unbewusst vom Selbsterhaltungstrieb geleiteten – Menschen, die zu Hunderten an einem am Straßenrand liegenden scheinbar Verunfallten vorbeifahren oder die über die vor einem Geldautomaten liegenden Bewusstlosen hinwegsteigen, anstatt sich um ihn zu kümmern. Deshalb gibt es im Christentum das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, dass für die heutigen Christen keine Rolle spielt und ihren Weg in die nächsten Flutkatastrophen, Flächenbrände, Massaker und Weltkriege vorzeichnet.
Die eigentliche Liebe, die sich ja nur in Hinwendung zu einem „Nächsten“ äußern kann, ist alles andere als überfordernd. Sie ist im Gegenteil sehr wohl zu realisieren und vor allem essentiell für die Befreiung des Menschen aus dem Teufelskreis von Stolz, Eifersucht, Geiz, Bosheit, Angst, Hass, Aggression, Gier und Sorge, weil sie das Ego überwindet. Die eigentliche Liebe, das Credo der geistigen Einheit, ist der Tod fürs Ego, denn damit würde dessen Credo der Getrenntheit („Asylant“, „Blödmann“, der böse Nachbar, und tausende anderer abwertender Schimpfwörter) vernichtet. Deswegen ist der Splitter im Auge des anderen fürs Ego so existenziell wichtig, denn ohne diesen Splitter könnte das Ego seine eigenen Balken nirgendwohin abladen. Es hätte keine Ausreden für die eigenen Schwächen und Fehler und damit keine Möglichkeit der Projektion auf „andere“ mehr.
Aussagekräftig ist das Gebet Abraham Lincolns, dass „… nicht Gott auf unserer Seite sei, sondern wir auf seiner.“ Damit beschreibt er den Standort unserer menschlichen Liebe und die Richtung, in die unsere Weiterentwicklung zu gehen hat. Nur wenn wir unsere Liebe zu Partner und Partnerin, zu Vater und Mutter, zu Brüdern und Schwestern und zu guten Freunden als Formen von Selbstliebe erkennen, weil sie von menschlichen Sympathien, Nutzungserwägungen und Gewissensbissen besetzt sind, und wenn wir dann die Feindesliebe mit einschließen, können wir den Weg aus dem Leid gehen. Erst dann ändert sich unsere Welt. Die zuerst intellektuelle Überwindung der tierischen Ego-Instinkte durch das Verständnis der Funktion der Selbstlosigkeit (einzige echte und garantierte Selbsterhaltung) führt dazu, dass die materiellen Formen Philia und Eros geistig ergänzt und veredelt werden und durch sie die wahre Liebe vervollständigt, erhöht, vergeistigt und erfüllt wird.
Dass diese wahre Liebe von vielen Seiten und ganz prominent von den religiösen Organisationen als unerreichbar disqualifiziert wird, hat einen einfachen Grund: Für das Ego im Menschen würde durch diese Art Liebe die Ebenbildlichkeit (Gen. 1,27) hervortreten. Würde die gebende, verstehende (in Bezug etwa auf Wohnungseinbrecher, Flüchtlinge, Menschen mit anderer Hautfarbe), vergebende und uneigennützige, nicht fordernde Liebe eingeübt und in praktisches Handeln überführt, würde das den Tod des internen Egoprogramms und den Sieg des internen Liebesprogramms bedeuten, außerdem den der kirchlichen Organisationen. Damit würden Intoleranz, grenzenlose Gier, Aggression und Existenzangst beseitigt. Das wäre die Überwindung unseres tierischen Erbes der Egozentrik, zugleich wahre Selbsterhaltung und die Erfüllung unseres Menschheitsauftrages, die Sinngebung unserer Existenz, die göttliche Selbsterkenntnis mit der unterschiedslose Liebe (Mt. 22 f.)
Der russische Schriftsteller F. M. Dostojewskij deutet die Überwindung des Ego-Würgegriffs an, indem er schreibt:
„Brüder, …, liebet den Nächsten auch in seiner Sünde,
denn nur eine solche Liebe wäre ein Abbild der Liebe Gottes,
denn solches ist schon der Liebe Gottes ähnlich
und steht über der Liebe auf Erden.
Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das ganze Weltall
wie jedes Sandkörnchen auf Erden. …
Erst wenn du jedes Ding lieben wirst,
wirst du das göttliche Geheimnis in den Dingen erfassen.“
(Die Brüder Karamasov. VI,3)
Die hinduistische Weisheit betont Jahrhunderte vor dem Evangelium in der Bhagavad Gita:
„Und wer dabei beherrschten Sinns
gleichgütig allen Wesen naht
und sich um aller Wohl bemüht …
wer keinem Wesen Böses will,
wer mitleidig und liebevoll,
von Selbstsucht und vom Ichwahn frei, …
wer gleich sich bleibt bei Freund und Feind,
gleichmütig gegen Ruhm und Schmach, …
dem werde ich zum Retter bald. …“
(12. Gesang, 4,7,13,18)
Kierkegaard bringt zumindest schon mal die eine Hälfte des Sachverhalts auf die einprägsame Formel:
„Die Liebe sucht nicht ihr Eigenes.“
(Der Liebe Tun, Band 2, 4. Rede)
Da solche abstrakten Zusammenfassungen immer Konkretisierungen brauchen, um nachvollziehbar sein zu können, beschreibt er diese eine Seite der Selbstlosigkeit der Liebe folgendermaßen: Die Liebe äußere sich am liebsten so, dass ihre Gabe so aussieht, als wäre sie das Eigentum des Empfängers. Denn die größte Wohltat sei, einem anderen zum Alleinstehen zu verhelfen. Die wahre Liebe mache sich unsichtbar. Der Helfer müsse sich verbergen können. Der Liebende sei damit Gottes Mitarbeiter geworden, wie es nach der Bestimmung sei. Würde die Liebestat bemerkt werden, hätte der Helfer nicht richtig geholfen. Seine Begründung dafür stellt der Autor dabei nicht deutlich heraus. Unsichtbar zu bleiben bedeutet aber zumindest, die Aufmerksamkeit und Anerkennung der anderen nach Möglichkeit bewusst zu vermeiden und damit dem Ego seine Nahrung vorzuenthalten. Beispiele für diesen ganz und gar nicht unrealistischen Zusammenhang zeigt der Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“.
Bei Kierkegaard ist aber nicht zu finden, dass die Fähigkeit, „das Eigene nicht zu suchen“ einer Voraussetzung bedarf: Ohne die Hindurchschau bleibt seine richtige Einsicht folgenlos, weil Begründung und Einsicht fehlen, warum man denn auf das Eigene verzichten sollte. Aber so sind sie nun mal, die Philosophen, die das Wesen von Verstand und Intuition nicht kennen und alles ausschließlich mit Vernunft lösen wollen.
Ein verlässliches Messinstrument für wahre Liebe ist, wenn wir mit anderen, mit allen anderen, so umgehen, wie wir möchten, dass mit uns so umgegangen wird, wenn wir an ihrer Stelle wären. Diese Goldene Regel findet sich in allen Kulturen zu allen Zeiten als zentrale ethische Formel festgehalten. Wenn wir selbst es wären, die als Kriegsflüchtlinge vor Panzern, Artillerie, Bombardierung, Folter, Vergewaltigung, Mord und Krieg fliehen mussten, möchten wir dann abgewiesen oder bedroht und verfolgt werden? 14 Millionen Deutsche befanden sich in dieser Lage 1944/45, die das Buch „Kalte Heimat“ wissenschaftlich nüchtern beschreibt.
Ein in besonderem Maß aussagekräftiges Sinnbild – wenn auch allzu abstrakt – für die unterschiedslose Sichtweise auf alle Menschen, das vor allem Rumi verwendet hat, ist die Sonne:
(1) Sie bescheint alle Menschen gleich. Sie macht keine Unterschiede und scheint nicht etwa nur auf den Garten des einen und nicht zugleich auf den des Nachbarn. Sie macht keinen Unterschied zwischen guten und bösen Menschen, zwischen schwarzen und weißen, zwischen Juden und Palästinensern, zwischen Kriegsflüchtlingen und Neonazis.
(2) Man kann sie nur durch einen Filter direkt anschauen, aber durch diesen Schleier (!) der Erscheinung kann man hindurchschauen und sie erfassen.
(3) Sie legt bei ihrer Ausstrahlung keinen Wert auf Erwiderung. Das entspricht der Fähigkeit der unerwiderten Liebe.
(4) Sie spendet Licht und Wärme. Auf der zwischenmenschlichen Ebene entspricht das der Erkenntnis und der Liebe. Wahre Liebe ist ohne Erkenntnis nicht möglich. Man kann nur lieben, was man kennt.
Wahre Liebe strömt vom Menschen aus – weil sie in ihm ist – und nicht zu ihm hin. Wenn ein Mann von seiner Frau, die er über alles liebt, verlassen wird und sein hauptsächliches Liebesverhalten daraus besteht, dass er möchte, dass es ihr so gut wie möglich geht und sie freigibt, ist das wahre Liebe. Jeder weiß, dass das grundsätzliche Verhalten der Menschen in einem solchen Fall aus dem ziemlich genauen Gegenteil besteht.
Wer die geistige Liebe praktiziert, lernt, sie über die irdischen Gesetze zu stellen. Das heißt nicht, die Verkehrszeichen zu missachten oder keine Steuern zu bezahlen. Aber so, wie der Rettungswagen über die rote Ampel brettert, verliert man den Respekt vor den Egogesetzen. Man setzt sich als Schwarzer auf eine Bank, die Weißen vorbehalten ist, man versteckt jüdische Mitbürger vor dem KZ, man schützt Flüchtlinge vor administrativer Willkür, sofern die innere Stimme das sagt, usw.
Ein weiteres zentrales Element des wahren Liebens ist die besagte Vergebung. Vergebung ist Liebe. Vergebung versteht, dass das Leid, das mir angetan wurde, aus den Taten eines Gegenübers kommt, der seinerseits wehrloses Opfer seiner übermächtigen Selbsterhaltungstriebe war und ist. Vergebung versteht, dass der Täter nicht Verursacher des Leids ist, das er mir zugefügt hat, sondern Überbringer des Übels, das aus unserer gemeinsamen universellen Egostruktur entspringt.
Liebe als Vergebung klingt unendlich schwer und hat auch einen Grund: Ein Alltagsmensch kann nicht lieben und kann nicht vergeben, d. h. der tierisch-materielle Teil seiner Identität kann es nicht. Das Programm lässt es nicht zu, es verordnet unbedingtes Zurückschlagen. Es ist nur die Liebe der göttlichen Identität in uns, die lieben kann. In dem Maß, in dem wir ihr den Weg freigemacht haben, können wir selbstlos lieben. Das zeigt Jesus am Kreuz durch sein Verhalten den Soldaten gegenüber, die ihn gefoltert und ans Kreuz genagelt haben: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Obwohl wir durch Vergeben im menschlichen Sinn einen Verlust erlitten haben, macht jeder, der diese Selbst-Überwindung, genauer: Ich-Überwindung, gemeistert hat, die Erfahrung, dass erst dann die Fülle der Liebe richtig beginnt zu fließen und erst dann die idealen Partner für diese Lebensphase ins Leben treten. Denn dann ist der Egoismus der Vergeltung abgedrängt und muss zunehmend „täglich sterben.“ Auseinandersetzungen haben durch die Fähigkeit zur grundsätzlichen Vergebung dann keine Folgen mehr. Wer freigegeben hat, wird selbst befreit von Missbilligung, Tadel und Ablehnung.
Wer nicht vergeben kann, z. B. den Seitensprung des Partners, kann nicht lieben bzw. nur sich selbst. Wie viele Frauen haben ihr Leben lang unter diesem typischen Fehler gelitten und ihn später unendlich bereut.
Auch sich selbst vergeben zu können, ist wichtig. Dabei spielt die Einsicht die entscheidende Rolle, dass ich zum betreffenden Zeitpunkt nicht wusste, was ich tat, sondern unbewusstes Opfer des (Selbsterhaltungs-)Triebes war. Dazu kommt die Bedingung der Reue, also der Vorsatz zur Besserung. Dies bringt symbolisch der Verbrecher rechterhand des Kreuzes zum Ausdruck.
Vergeben heißt nicht, Unrecht zu rechtfertigen oder es durchgehen zu lassen, es besteht vielmehr „nur“ aus Verstehen.
Vergebende Liebe ist das Gegenteil zur Partnerschaft ohne geistiges Bewusstsein, in der es kein Bewusstsein der eigenen göttlichen Identität gibt und damit der Egoismus regiert, der verlangt und nicht schenkt – und wenn doch, dann als Investition. Demgegenüber steht die Liebe, die immer schenkt und nie fordert und auch nicht investiert. Sie lässt sich auch ausnutzen, erträgt und übergibt die Lösung dieser Situation ihrer Seele.
Fremden- und Feindesliebe sind vom rein menschlichen Bewusstsein der Freundesliebe her nicht möglich, weil unser tierisches Erbe im Gegensatz zu wahrer Liebe gebunden ist an Selbsterhalt, an Gefühle und an Gut und Böse, an die Vorzüge und vor allem Fehler der Mitmenschen und der Partner. Deshalb gibt es in allen Religionen die Aufforderung zur „Buße“. Mit diesem Begriff scheint es sich meist um Wiedergutmachung, Strafe, Bekehrung oder Reue zu handeln; es müsste aber verstanden werden als Richtungsumkehr ohne alle Bewertung, eine Kursänderung ähnlich wie beim Navi. Es ist ein Umsteuern im Sinn von „Neuberechnung“, also in Richtung Nicht-Selbsterhalt, was Hingabe bedeutet. (Die wörtliche Übersetzung der Aufforderung zur Buße aus dem Griechischen ‚Metanoeite!‘ lautet: Kehrt um!).
Einstein hat einmal bemerkt: „Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ Allerdings macht er nicht klar, wo die Neuorientierung des Denkens ansetzen soll. Dabei wäre es erst einmal formal leicht zu definieren: Es geht darum, meist das genaue Gegenteil von dem zu tun, was das Alltagsbewusstsein uns sagt, weil es fast ausschließlich der Selbsterhaltung folgt.
Wenn beide Partner die Hindurchschau erlangt haben, werden innere und äußere Harmonie vervollkommnet. Es gibt kein Interesse an Gegenleistung oder Anerkennung mehr, über die menschliche Eigenart der Orientierung an Äußerlichkeiten wird hinweggesehen, und der Interaktionsbereich von Eros, Philia und Agape ist von Erfüllung geprägt. Ohne spirituelles Bewusstsein beiderPartner – und mindestens bei einem der Tiefblick – ist es nicht gerade einfach, eine umfassend harmonische Beziehung zu führen, aber wenn das Licht in dem einen stark genug ist, müssen die Ego-Anteile im anderen schwinden.
Ein Beispiel für menschliche Hingabe: Eine Bekannte, die engagiert eine Jugendfreizeit durchgeführt hatte, kam nach einer anstrengenden Woche erschöpft zurück. Das Projekt war erfolgreich und harmonisch verlaufen. Nachdem die Kinder von den Eltern abgeholt worden waren, beklagte sie sich bitterlich darüber, dass sie kein Wort des Dankes erhalten hatte. Sie hatte dadurch zugelassen, dass das Ego mit dem unablässigen Streben nach Anerkennung die selbstlose Hingabe überlagern konnte und dadurch der Einfluss der Seele abgewehrt wurde. Für sie war Hingabe immer noch ein Deal. (Wahres Lieben ist Geben ohne Erwartung von Gegenleistung, denn es richtet sich nur oberflächlich an die Personen. Es ist in Wirklichkeit ein Erkenntnisakt der Seele und damit immer wieder nur eine Annäherung an die Einheit mit Gott (im Innern) und den Menschen. Das ist der Unterschied zwischen horizontaler und vertikaler Richtung der Liebe.) Ihre Reaktion überraschte nicht, war sie doch ein Mensch, der an Egoismus nicht übertroffen werden konnte, wobei sie selbst der Überzeugung war, der hingebungs- und aufopferungsvollste Mensch weit und breit zu sein. Sie verstand nicht, dass ihre Hingebung z. B. in Bezug auf ihre Partnerschaft nicht ein Opfer war, sondern Investition, um ihren attraktiven Partner an sich zu binden bzw. zu halten. Es kam demzufolge auch dazu, dass sie später von ihm verlassen wurde. Und was die fehlenden Dankesworte betrifft, so braucht ein spiritueller Mensch sie nicht, denn er weiß, dass Honorierung von der Seele kommt, ihr (!) zusteht und von größerer Fülle ist als äußere Rückkopplung.
In dem Maß, in dem wir menschlich lieben, unterliegen wir dem Prinzip von Gut und Böse, etwa in unserer Partnerschaft. Was zum Leid führt, ist die Trennung der fehlgeleiteten Liebe weg von der Ebenbildlichkeit. Im Maß unserer Hindurchschau aber – und das heißt Vollkommenheitsbewusstsein – gibt es nichts Böses mehr, kann es nicht geben. Da wir immer nur auf dem Weg sind, unterliegt man immer noch Versuchungen und Niederlagen. Aber bereits der Einstieg in die geistige Dimension beschert dem Sucher durch die ersten Erfahrungen eine klare Vorstellung von der Befreiung vom Ego und der Süße des spirituellen Lebens. Auch wenn der Preis durch die Prüfungen hoch ist. Aber der Preis für das Alltagsleben ist ebenfalls hoch, hingegen ohne jegliche Perspektive.
„Gott kann nur durch Liebe gefunden werden, nicht durch irdische Liebe, sondern durch göttliche.“
(Mahatma Gandhi: Die Religion der Wahrheit. S. 202)
Die geistige Liebe, die uneigennützige und spirituelle auf die Ebenbildlichkeit, ist das sichere Mittel, um Misere, ständige Sorge und Bedürftigkeit auszuschließen, Was von uns ausströmt, wird entsprechend beantwortet. Dann brauchen wir keinem Ziel, keiner Sehnsucht und keiner Hoffnung mehr hinterherzujagen, denn es liegt ja alles in der Hand unseres eigenen Bewusstseins.
Das Prinzip Liebe
Alles lebendige Geschehen geschieht aus Liebe und ist Liebe. Das klingt auf Grund der Grausamkeiten und des Hasses in der Welt ziemlich abenteuerlich. Aber wenn der Mensch sich entschieden hat, anderen Vorwürfe zu machen, sie zu verurteilen, zu verachten, sie zu hassen, dann tut er das ja nur aus falsch verstandener und falsch gerichteter Liebe, nämlich der zu sich selbst, zu seinem Hass und zu seiner Gewalt, usw., aber prinzipiell aus Liebe als dem Streben nach Vereinigung mit ihrem Gegenstand, in diesem Fall dem Ego.
Die persönliche Unvollständigkeit sucht immer eine Art von Vollkommenheit durch Vereinigung. Liebe ist Hinwendungs- und Vereinigungsenergie, und die Grausamkeiten – auch die Gutmenschen-Wohltaten – geschehen aus der Liebe zur Selbstbezogenheit: Mein Ich sucht auch die Einheit, aber die mit meinem Körper, meiner Ideologie, meinen Heldentaten. Die Nationalisten wollen störungsfreie reine Vollkommenheit ihres Volks“körpers“, Hindus und Muslime wollen Vereinheitlichung und Einheit innerhalb ihrer Gruppe, weil sie glauben, durch diese Art von „Reinheit“ Harmonie erzeugen zu können. Aber schon Sunniten können nicht mit Schiiten, Protestanten nicht mit Katholiken und Hindus nicht mit Muslimen. Und der Ehepartner strebt gegenseitige Hinwendung und Einheit unter seiner Lesart an.
Wenn die Entscheidung für die echte Nächstenliebe gefallen ist, ist das die Liebe nicht der Triebseele, sondern der Geistseele. Wenn sie in die andere Richtung für den Hass gefallen ist, ist das die Liebe des Selbsterhaltungs-Ego, des Ich-Bewusstseins, das seinen Verstand liebt und dessen Eigenschaften, für deren Erhalt es alles tut. Die Menschen haben nicht die Wahl, zu lieben oder nicht zu lieben, sondern nur diejenige, ob sie sich dem Einfluss von innen-oben öffnen oder nicht. Es ist die Wahl zwischen Zerstörung innen-unten (Triebseele) und Vervollkommnung (Geistseele). Deutlich kann man das an der Zerstörung der Lebensgrundlagen, an (Bürger-)Kriegen und auf der individuellen Ebene am Umgang miteinander in Ehen bzw. Partnerschaften sehen. Die Verhältnisse auf dem „Lernplaneten Erde“ sind dazu da, wahrhaft lieben zu lernen.