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Für die Sexualität in unserem Leben führt ihr rein materielles Verständnis – ihre Verkürzung – letztlich so gut wie immer in ein Desaster. Die Ausblendung ihres geistigen Teils ist die Ursache für das Leid, das sich früher oder später einstellt.
Der unbewusste Hintergrund für den Drang zum anderen Geschlecht ist erst einmal, was die erotische Stufe betrifft, der Trieb, der beim Menschen lustbetont ist. Falls dieser vorherrscht, was oft genug vorkommt, also ohne Zärtlichkeit, Geborgenheit, Gefühle des Angenommenseins und Zuneigung, dann ist Sex animalisch und beseitigt lediglich den libidinösen Druck. Sehr derbe und sehr treffend drückt der islamische Weisheitslehrer Rumi das so aus: „Unsere Ehegatten verrichten in unsere Scheide nur ihre Notdurft.“ (Das Matnavi V, 3392). Sex wird dann als ausschließliches Naturgeschehen aufgefasst und als Genussmoment; die generelle Wortwahl ist „Spaß.“ Deutlicher kann man die menschliche Egozentrik nicht zum Ausdruck bringen.
Sex ist jedoch auch und vor allem ein kosmisches Geschehen und insofern nicht nur Libido-Ziel. Sex ist auch Instrument für eine geistige Zielsetzung, und zwar als Sinnbild für Vereinigung auf dem Weg zur Einheit und insofern eben nicht nur in körperlicher und nicht nur in emotionaler Form:
Mit Einheit ist die Existenzform unseres Lebens gemeint, die hinter der äußeren Unterschiedlichkeit wie etwa die der Finger an einer Hand ihre tieferliegende tatsächliche Einheit erkennt. Die Getrenntheit der Finger auf der Oberfläche verdeckt (siehe Maya im späteren Kapitel 23) ihre existenzielle Einheit, denn ohne den gemeinsamen Blutstrom gäbe es die Finger überhaupt nicht und auch nicht den Organismus insgesamt. Damit ist das Thema der Einheit allen Seins angerissen, was den meisten Menschen unbekannt ist. Der Zusammenhang zwischen Fingern und Blutstrom für den Begriff Einheit enthält zwar eine Ungenauigkeit, als er beide auf derselben materiellen Ebene abbildet: Andererseits aber zeigt er deutlich genug die betreffende geistige Wahrheit.
Auf die Frage, warum es überhaupt den wunderbaren Aspekt der gefühlsbetonten Zuneigungsliebe (Philia) des menschlichen Lebens gibt, den die Tiere nicht kennen, lautet eine vorläufige Antwort, dass der Orgasmus wahrhaft ein Götterfunken ist und über die weltlich Ebene hinausweist.
Die nach Libido (Eros) nächsthöhere Stufe der Liebe, die Ebene der sympathischen Anziehung zwischen den Partnern (Philia), ist die emotionale Verbindungsenergie zwischen zwei Individuen, die sich gegenseitig als Unterstützung, Ergänzung, Bereicherung und gegebenenfalls Reifung suchen, einmal für Arbeitsteilung, Kindererziehung usw. und weiterhin vor allem Befriedigung sexueller, intellektueller und emotionaler Bedürfnisse. Das Streben nach Verbindung mit dem passenden Gegenüber und deren Verwirklichung ist dasjenige Phänomen, das gemeinhin als die Liebe bezeichnet wird.
Diese Philia-Stufe der Liebe verbleibt aber auf der irdischen Ebene, nach „oben“ auf die geistige Stufe (Agape) geht es nicht, also nicht auf diejenige, die „einander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 15,12). Jesus unterscheidet damit deutlich zwischen der „Bevorzugungsliebe“ (siehe unten: Leo Tolstoj) in Bezug auf die Partner, Kinder, Eltern, Freunde usw. und andererseits seiner unterschiedslosen Liebe; diese wird im Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder in seiner Vergebung den Folterknechten gegenüber während seiner Kreuzigung verdeutlicht. Letztere ist deshalb schwer zu finden, weil das menschliche Ego weitgehend verhindert, dass diese, also Agape (siehe Kap. 17), ins menschliche Bewusstsein einzieht.
Die Erfahrungen der Menschen mit ihrer halbierten Liebe sind flächendeckend desaströs. Im Alltagsleben wird die Trieb-Sexualität, die überhaupt keinen spirituellen Bezug hat, überwiegend zum Zweck der selbstischen Befriedigung, oft als „Nummer“ praktiziert. Der (weibliche) Körper wird nicht verehrt, sondern überwiegend benutzt. Rein erotischer Sex ist im Grunde gegenseitige Selbstbefriedigung. Die höhere hingebungsvolle Erweiterung wird überwiegend von der Frau gelebt.
Die Menschen lieben unvollständig und falsch orientiert. Sie wollen nicht geben, sondern haben. Bei jeder Berührung lieben sie nicht primär den Partner, sondern in erster Linie ihre eigenen Gefühle dabei. Die gegenseitige Selbstbefriedigung besingen die Beatles unbefangen egozentriert: „And when I (!) touch you, I (!) feel happy – inside.“ Und Georg Christoph Lichtenberg ätzt:
„„Wir fühlen nur für uns. …Man liebt weder Vater noch Mutter, noch Frau noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen…“ (Über äußere Gegenstände)
Die meisten Menschen erleben das Scheitern dieser Stufe der Liebe, sowohl an sich als auch an den anderen. Sie reagieren aber nicht mit der Suche nach einem Ausweg, obwohl es naheliegend wäre und obwohl die Weisheitstexte aller Religionen ihn zeigen.
Auch die alltägliche Erfahrung des Orgasmus legt eigentlich das Suchen nach mehr nahe. Die orgiastische Glückseligkeit, der für diesen kurzen Moment umfassende Frieden und das ebenso kurzfristige Fehlen von Bösem in unserer sonst Gut-Böse-Welt enthält, zeigt das „Reich Gottes“ – christlich formuliert. Es ist der Moment eines Bewusstseins, das dem buddhistischen Nirwana, also der Abwesenheit des irdischen Gut-Böse-Bewusstseins gleicht.
Partnerschaft auch mit gutem Sex endet normalerweise in Routine und Verödung. Denn auf der materiellen Ego-Ebene führt die Dominanz des Habenwollens zur Verstärkung des Mangelgefühls, das ja erst zum Habenwollen geführt hat. Vor allem aber kann diese Partnerliebe nicht die unbewusste Suche nach Vervollkommnung, nach Einheit erfüllen, die nur geistig erreicht werden kann.
Was Vereinigung mit dem Ziel der Einheit betrifft, so ist es in der physikalischen Welt nicht möglich, dass zwei Körper sich auf ein und demselben Ort befinden können. Aber alle Paare unternehmen unbewusst zumindest die Schritte in diese Richtung, die zunehmend enger werden: Erst gibt es die Annäherung über Augen und die Stimme, dann Berührung über Händchenhalten, Umarmung und Küssen. Diese Verbindungsaufnahmen am Körper kann dann nur noch über die im Körper gesteigert werden. Diese auf der materiellen Stufe größtmögliche Vereinigung zweier Individuen über den Geschlechtsverkehr enthält außerdem im Orgasmus den einzigen Moment geistigen Erlebens, also außerhalb von Gut und Böse – auch wenn er nur individuell erlebbar bleibt.
Eine Vervollständigung der Einheit, wie sie in der ersten Schöpfungsgeschichte gezeigt wird, also die Geschichte mit der Rippe, gibt es erst auf der geistigen Stufe. Das fängt an zu funktionieren, wenn erst mal einer der Partner während der sexuellen Begegnung sein Bewusstsein auf die eigene geistige Identität (Ebenbildlichkeit) richtet und zugleich auf diejenige des Gegenübers.
Bei der Frage „Willst du geben oder haben?“ gewinnt das Haben. Deshalb ist unsere Umwelt so überfüllt von sexualisierten Inhalten wie Werbung, Filmen, zotigen Witzen, Aneinanderreihung von One-Night-Stands, von abnormer werdender Pornographie usw. Insofern ist die Liebe des Ego zu sich selbst die effektive Realisierung von Anti-Einheit, die die Ursache restlos aller Leiden auf unserem Planeten ist. Sie kann aber durch wahre – darunter auch die sexuelle – Liebe auf der geistigen Stufe überwunden werden.
Die konkreten Folgen der menschlichen Version von Liebe, auch über den Triebdruck hinaus, kennt jeder Mensch, der in Partnerschaft(en) war. Es sind Abstumpfung, schleichend gestörtes Sexualverhalten, Seitensprünge, Eifersucht, Verlassensangst, Unterdrückung, Besitzdenken, Vereinnahmung, gegenseitige Abhängigkeit, Kontrollsucht usw. (Wenn das bloß die noch verliebten Brautpaare wüssten.) Die hohen Scheidungsquoten sind aussagekräftig genug. Aber auch in den noch bestehenden Ehen oder Partnerschaften herrscht früher oder später das, was jeder kennt und fast jeder erfährt, also sexuelle Leere, das epidemische Fremdgehen oder dann natürlich die zerstörerischen Trennungskriege. Ein weiteres Merkmal für die verbreitete pathogene Sexualität sieht man auch am Schürzenjäger, am Womanizer, der nicht die Frau sucht, sondern die Liebe, die nämlich gebend ist, die er aber durch seine nur nehmenden Egoprogramme nicht finden kann. Ähnliches gilt für Frauen dann, wenn sie den Sex instrumentell handhaben, indem sie den Partner durch Hingabe nur zufriedenstellen oder ihn an sich binden wollen.
Die Leiden der Menschen unter diesen Erscheinungsformen sind unendlich. Natürlich versuchen sie, sich ihnen zu entziehen oder sie erbittert zu bekämpfen. Aber sie kommen nicht einmal im Traum auf die Idee, Sinn und Zweck dieses flächendeckenden Leidens im Geschlechterkrieg zu hinterfragen (siehe Kapitel 13). Natürlich gibt es genügend Beispiele dafür, dass zum Beispiel ein Mann nach seiner dritten Scheidung zu der Einsicht gelangt, dass er wohl dies oder jenes für seine nächste Beziehung zu unterlassen hätte; aber vermutlich ist die Zahl der Uneinsichtigkeiten höher. In jedem Fall aber kennen zwar alle Menschen diese Dramen, aber nicht einmal die geringste grundsätzliche Konsequenz wird aus diesen Problemen gezogen. Damit ist natürlich der Weg zur nachhaltigen Befreiung aus diesem Leid gemeint.
Die Menschen stellen nur die Fragen, warum ihnen das passiert ist oder warum das ausgerechnet ihnen passiert ist oder warum es speziell mit diesem Partner bzw. dieser Partnerin geschehen ist. Kein Mensch stellt die Frage hinter diesen Fragen, wieso es überhaupt diese zutiefst leidvollen Erscheinungsformen des menschlichen Lebens gibt und wo die Lösung ist. Das Leid wird gewissermaßen als naturgegeben aufgefasst, obwohl ausnahmslos jede Weisheitslehre die Menschen dazu bringen will, den Ausweg aus diesem Leid einzuschlagen – und darüber hinaus ihn auch noch mehr oder weniger detailliert beschreibt. Während Jesus zum Beispiel in der Bergpredigt fast alle maßgeblichen Bedingungen aufzählt, besteht Buddhas gesamte Lehre sogar nur diesem einem großen Ziel, die Leidfreiheit zu erreichen.
Der Grund für diese unfassbare Blindheit – manche Weisheitslehrer bezeichnen sie als Schlafwandeln – ist weder Dummheit noch Unwille. Vielmehr handelt es sich um eine spezielle Blockade, die die hinduistische Weisheit Maya nennt, die Göttin der Verschleierung. (Ausführlich dazu siehe späteres Kapitel 25.)
Maya ist kurzgefasst ein Unterprogramm des Selbsterhaltungstriebes, das erfolgreich verhindert, dass die Menschen nach dem Auslöser für die Ursachen ihres Leidens fragen; demzufolge können sie es auch nicht abstellen. Wenn zum Beispiel in einem Kriminalfall ein Mordopfer aufgefunden wird, dann gehen die Ermittler anhand der Spuren dem Täter nach. Außerdem forschen sie nach dessen Motiv. Ob es sich dabei um Eifersucht gehandelt hat oder um Rache oder um Raub, in jedem Fall spielen solche Antriebe vor Gericht dann nur noch für das Strafmaß eine Rolle, aber eine Ursache wiederum für die betreffenden Antriebe bleibt grundsätzlich unhinterfragt. Wie selbstverständlich kommt nicht zur Sprache und bleibt völlig außerhalb des Bewusstseins sämtlicher Beteiligter, dass es der Selbsterhaltungstrieb ist, die Egozentrik der Triebseele, die der Motor jeder beliebigen Untat ist. Wäre ihr direkter Gegensatz, die Erhaltung aller anderen der Antrieb menschlichen Verhaltens, gäbe es keine Untaten mehr. Dies ist der Grund, warum Jesus in krasser Formulierung von Feindesliebe spricht und auch alle anderen großen Propheten und Religionsstifter nichts anderes zeigen als die Befreiung von all diesem unendlichen Leid.
Ein weiteres Merkmal der Maya ist die Täuschung des Bewusstseins der Menschen derart, dass sie erfolgreich suggeriert, dass die Erscheinung, also die Oberfläche die Wahrheit sei. Maya erklärt die irdische Person zum Menschen als solchem. Maya erklärt die Triebseele des Menschen mit ihrem Selbsterhaltungsprogramm zum gesamten Wesen des Menschen und versucht außerordentlich effektiv, die Existenz der Geistseele im Innern – als Gewissen, Bauchgefühl, Intuition usw. – zu verschleiern.
Ein klassisches Beispiel für die Handlungsweise dieser Software ist Mephisto in Goethes Faust, der alles versucht, Fausts Bemühungen der Gottsuche so weit wie möglich zu sabotieren. Dies macht er mit dem Mittel der Verführung zu sinnlichen Genüssen und den damit auch verbundenen rücksichtslosen, betrügerischen, verlogenen und verführerischen Methoden. Homer hat versucht, diese Malware mit dem Bild vom Trojanischen Pferd zu aufzudecken – auch wenn in diesem Fall umgekehrt das Innere die negative Seite ist.
Eine treffende Darstellung (siehe obiges Bild) für das menschliche Drama und die Methode, es zu besiegen – erst recht in der Sexualität – ist das Märchen „Die Schöne und das Biest“ (La Belle et la Bête):
Die Schöne entscheidet sich bewusst, sich für das Leben ihres Vaters aufzuopfern, und zwar trotz der Klarheit darüber, ihr eigenes zu verlieren, also gegen ihre Selbsterhaltung, gegen ihr Ego.
Sie wird zum Schloss (reichhaltige Ausstattung des Planeten Erde) geführt, in dem ein Ungeheuer regiert, ein zweibeiniges Geschöpf mit Tierkopf und Hauern (die menschliche Ego-Tierseele: „tierischer als jedes Tier“; Goethes Faust, Auerbachs Keller).
Dort verbringt sie aber aufgrund ihres bescheidenen und liebevollen Wesens (Einfluss ihrer Geistseele) eine angenehme und freudvolle Zeit und verliebt sich in das Ungeheuer. Denn sie erkennt das göttliche Wesen hinter der grässlichen Oberfläche und ihre Einheit mit ihm. (Die Darstellung des menschlichen Ego als Ungeheuer ist ebenfalls bei Homer in der Odyssee als Zyklop Polyphem zu finden.)
Durch ihre geistige Ausstrahlung liegt das Ungeheuer im Sterben. Ihre geistige (!) Liebe zerstört sein Ego.
Die Schöne küsst (!) es sogar: Damit zeigt das Märchen exemplarisch, wie die Forderung Jesu, seine Feinde zu lieben, (Bergpredigt) zu verstehen ist: Der irdische Mensch käme nie im Leben auf die Idee – aufgrund seiner Lebenserfahrungen und der damit verbundenen verstandesgemäßen und emotionalen Folgerungen – seine Folterer etwa zu umarmen und zu küssen. Das hat auch Jesus nicht gemacht. (Lk. 23,33) Vielmehr hat er für die Kriegsknechte, die ihn ans Kreuz schlugen, seine Kleider verlosten, verteilten und ihn verhöhnten (Lk. 23,34), um Vergebung gebeten.
Küssen ist ein Symbol für die Einheit zweier Individuen oder zumindest den Weg zur Vereinigung. Es gab natürlich keinerlei irdische Einheit zwischen dem Gekreuzigten und seinen Folterknechten ebenso wenig wie zwischen der Schönen und dem Ungeheuer, aber sehr wohl auf der geistigen Ebene, also zwischen ihren Geistseelen hinter der Oberfläche der Personen. Die Schöne hat die innere Verbindung der Finger der Hand erkannt, deren gemeinsame Substanz.
Feindesliebe hat mit dem Begriff „Liebe“, wie er umgangssprachlich verstanden wird, nichts zu tun, vor allem nicht mit Gefühlen der emotionalen Ebene. Es ist nackte Erkenntnis. Die Folgen im praktischen Alltagsleben sind eminent. Wer auf seine Feinde geistig blickt und sich entsprechend zurückhaltend und korrekt verhält, erlebt Wunder über Wunder. So hat Gandhi sich in Indien verhalten, voller Verständnis und Vergebung – ähnlich wie auch Mandela in Südafrika. In der sexuellen Begegnung ist zwar von Feinden keine Rede, aber das Prinzip ist dasselbe: Die geistige Sicht auf den Partner führt zu einer substanziellen Höherentwicklung mit ihren weltlich unglaublich harmonischen Folgen.
Sie verwirklicht die Vereinigung und befolgt darüber hinaus konsequent Jesu Mahnung: „Widerstrebt dem Übel nicht“.
Daraufhin verwandelt sich das Biest in den Prinzen (Geistseele, innere Stimme) zurück, der in ihm steckte, mit dem sie in eine erfüllte materielle Zukunft geht. Sie ist nun selbst geadelt als Königstochter: König = Geistseele = „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Das ist die Station aller Wagemutigen, die den spirituellen Weg eingeschlagen haben. Damit widerlegt sie die Vertröstungen der Kirchen auf die Erlösung vom Leid immer erst im Jenseits.
Ausdrucksstärker kann man das nun hervortretende Wesen des Menschen als Hand im Handschuh kaum darstellen. Zudem werden die beiden zentralen Merkmale des Menschen gezeigt wie einmal sein Ego als Person mit ihrem tierischen Merkmal des Überlebensinstinktes und zum anderen eben auch sein geistiger Wesensanteil als „Prinz“, als Intuition, die das Tier nicht hat.
Während Jesus die Zerstörung des Ego durch seinen Lebensweg und den Kreuzestod zum Ausdruck gebracht hat, hat Gandhi zum Beispiel durch sein zweimaliges, spirituell ausgelöstes Fasten bis an den Rand seines Todes das gegenseitige Morden zwischen Hindus und Moslems nach der Unabhängigkeit Indiens von der britischen Gewaltherrschaft beendet.
Die beiden Pole der Trieb- und der Geistseele – zwischen denen Jesus im Garten Gethsemane hin und her schwankt – gelten für das menschliche Leben generell und für dessen Bereich der Sexualität erst recht. Für alle Probleme, die es im Zusammenhang mit Sex gibt, ist das Fehlen der dritten Stufe, das Fehlen des geistigen Teils der Sexualität verantwortlich. Eine noch so wundervolle Erotik, eine noch so liebevolle Zuneigung und Verbundenheit, sie sind zeitlich begrenzt und bleiben vor allem auf der Oberfläche der materiellen Welt. Deshalb sind sie der irdischen Begrenzung, also Maya, der Egozentrik schutzlos ausgeliefert (auch wenn gerade Frauen sich oft von ihrem Bauchgefühl und damit von geistigem Einfluss führen lassen). Fast jede noch so tiefe menschliche Liebe wird zu Routine und führt zum Abstumpfen, zu zunehmender Gereiztheit im Zusammenleben und dann zum typischen Auseinanderleben – zumindest innerlich. Maya sorgt zuverlässig dafür, dass kein Mann auf die Idee kommt, dass die Probleme beim Sex auf das Selbsterhaltungsprogramm, auf sein Ego zurückzuführen sind. Würde er sein gesamtes sexuelles Verhalten darauf ausrichten, alles für das Wohlergehen seiner Partnerin zu tun, wäre der Weg zur Problemlösung zumindest schon einmal eingeschlagen. (Dasselbe gilt natürlich auch für die Frau, allerdings in weit geringerem Maß.)
Aber dann fehlt noch der zweite Schritt, um zu nachhaltiger sexueller Leidfreiheit bzw. Erfüllung zu kommen, denn solange auch ein Anti-Ego-Kurs auf der irdisch-materiellen Ebene bleibt, wird er früher oder später von Maya unauffällig wieder einkassiert werden. Deshalb ist es existenziell wichtig, während der sexuellen Begegnung das Bewusstsein auf die spirituelle Ebene zu heben. Das ist sehr schwer, weil Maya nun alle ihre Kräfte entfaltet, den im Menschen nun mal tief und fest angelegten Überlebenstrieb, das Ego, das sich nun unter Beschuss befindet, zu bewahren.
Es gibt aber keine Alternative: Das Geheimnis besteht darin, sich seine eigene göttliche Identität (siehe Kapitel 1) bewusst zu machen und dann auch die des Partners bzw. der Partnerin. Das ist der Todesstoß für Maya, aber diese Initialzündung muss nun Monate und Jahre eingeübt werden, um Erfüllung und Leidfreiheit zu erreichen. Denn Maya gibt nie auf, auch wenn sie schwächer und schwächer wird.
Die Knebelung des tierischen Ego-Verhaltensprogramms ist das zentrale Thema des Evangeliums, es ist das Thema der Ego-Hingabe. Das gilt mehr oder weniger für alle Weisheitsschriften: „Das Opfer ist des All’s Gesetz.“ (Bhagavad Gita III, 15) Mit dieser Opferung (siehe Jesus) ist gemeint, den tierischen Instinkt der Selbsterhaltung Schritt für Schritt aufzugeben in Richtung „DEIN Wille geschehe“ zugunsten der Alle-Erhaltung. Es geht darum, diese Überlebenssoftware der Egozentrik auf ihr Mindestmaß zu reduzieren – soweit es gesundheitlich, beruflich, familiär usw. noch erforderlich ist – und alle intellektuellen und intuitiven Kräfte auf die Erhaltung aller zu richten. Aber die Wirklichkeit auf unserem Planeten ist eine andere und wird von Leo Tolstoi folgendermaßen beschrieben:
„Wie in einem jeden Menschen lebten auch in Nechljudov zwei Menschen, der moralische Mensch, der sein Wohl im Wohl der anderen suchte und der tierische Mensch, der nur sein eigenes Wohl suchte und diesem Wohl die ganze Welt zu opfern bereit war …“
(Leo N. Tolstoi: Auferstehung; Band I, Kap. 14)
Es erklärt sich von selbst, dass für den Fall, dass bei den Menschen nicht mehr „Dein Wille“ mit Füßen getreten würde und die entsprechende Kehrtwende im Bewusstsein stattfände, dass also sie „ihr Wohl in dem der anderen suchten“, dass prompt alles Böse und alle Leiden im menschlichen Leben beendet wären. Deshalb gibt es die Weisheitsschriften in allen Religionen, deren Lehren nichts anderes als genau diese Umkehrung (Feindesliebe) anmahnen. Zwar wäre es derzeit utopisch, diese kollektiv zu erwarten, aber individuell ist das sehr wohl realistisch. Wie schwer das aber ist, weil das Ego in uns so tief verankert ist, lässt sich zum Beispiel beim Sex schnell und drastisch feststellen.
Was die Suche nach dem „Wohl der anderen“ betrifft, so ist sie nur auf geistiger Grundlage möglich (Stichwort Feindesliebe in der Bergpredigt). Für viele Menschen ist die Reichweite ihrer Liebe auf die mehr oder weniger unmittelbare Umgebung begrenzt, auf die berufliche Umgebung oder die Nachbarschaft, vor allem auch im Bereich der Familie. Aber schon hier befinden sich Schwerpunkte egozentrischen Verhaltens in Bezug auf den bösen Nachbarn, üblen Chef, intriganten Kollegen, untreuen Ehepartner und die eigenen Entgleisungen. Und erst recht gilt dies für die sexuelle Begegnung mit ihren oben beschriebenen tiefgreifenden Problemen.
Was das Opfern betrifft, so sind Opfer z. B. in Form von finanziellen Spenden etwa für Hilfsorganisationen usw. segensreich – auch karmisch -, aber wichtiger ist das gezielte Verlieren von irdischen Bewusstseinsinhalten, das Aufgeben von Wut, Neid und Angst bzw. das Verlieren von allen möglichen Regungen und Handlungen, die in irgendeiner Form mit Ich-Bezogenheit in Verbindung stehen. Jesus hat das exemplarisch vorgeführt. Dieses Ranking benennt die hinduistische Weisheit sehr deutlich und lässt Gott Krishna sprechen:
„Höher als das Opfern irdischen Guts
gilt deines Herzens Opfer, Held.
Weih‘ mir Gedanken, Will’n, Gemüt,
das ist die höchste Opfertat!“
(Bhagavad Gita, IV, 33)
Der Grund für diese Gewichtung liegt auf der Hand: Während materielle Aufopferung – auch ohne versteckte Investitionsmotive – auf der horizontal-materiellen Ebene bleiben, bewirken nur die gezielt aufgebrachten Verluste an Ego eine zunehmende Befreiung vom Leiden. Das gesamte Evangelium zeigt nichts anderes als das Weggeben der Eigenschaften, die dem Ego dienen. Das gilt ebenso für die Sexualität:
1.) Der erste Punkt und damit ihre spirituelle Stufe ist die Aufopferung des Habenwollens, des Ego. Es geht darum, die eigene egoistische Triebbefriedigung zurückzufahren und das Bewusstsein für das Wohl des Sexualpartners aufzubringen.
Es sind im Besonderen viele Frauen, die das längst können, aber da diese Richtung des Energieaufwands auf der materiellen Stufe verbleibt, hat diese Qualität ihre Grenzen von Kraft und Zeit.
2.) Deshalb geht es zugleich um den zweiten Punkt: Zu der Bereitschaft des Opferns des eigenen Ego-Wohls – das im Gegenteil, zu ungeahnter Fülle führt (siehe Kapitel 12) – kommt die Fähigkeit der geistigen Sicht (siehe Kapitel 6), also den Blick durch die Oberfläche der Person (Materie) hindurch auf den göttlichen Kern (Geist), auf die Geistseele (siehe Kapitel 1).

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Diese Bewusstseinserweiterung führt zwar zu einer Reduzierung des genitalen Genusses, aber das kann erstens für Männer ein Vorteil sein und ist vor allem einigermaßen steuerbar. Deshalb ist diese wechselseitige Handlungsweise ein letztlich entscheidender Schritt in Richtung Höherentwicklung – eben auch mit körperlicher Befriedigung. Der islamische Sufi-Mystiker Ibn Arabi schreibt dazu:
„Wenn der Mann im Weibe Gott erschaut, dann … erschaut er ihn in seinem eigenen Selbst … und aus seinem Ich heraus, denn niemals kann man Gott losgelöst von sinnlicher Materie erschauen. … Die Anschauung Gottes in den Frauen ist die wirksamste und vollkommenste, … [denn] die innere Wesenheit ist Gott.“ (Die Weisheit der Propheten II. Kapitel: Mohammed)
In einer weiteren Sufi-Weisheit beschreibt Rumi die geistige Verschmelzung auf seine unnachahmlich poetische Art:
Jemand klopft an die Tür eines Freundes. Durch die Tür fragte der Freund, wer da sei. Der Mann antwortete: „Ich bin es.“ Der Freund wies ihn mit den Worten ab: „Verschwinde! In meinem Haus ist kein Platz für rohe Kerle.“ Der Mann ging fort und blieb ein Jahr weg. In ihm brannte der Schmerz der Trennung. Er wurde durch dieses Feuer geläutert.
Schließlich kam er zurück und klopfte erneut. Sein Freund fragte wieder: „Wer ist da?“ Der Mann antwortete: „Du bist es, der vor der Tür steht!“ Der Freund öffnete: „Da du ich bist, komm herein!“ (Mesnevi I, 3065-3075)
Das Erkennen (!) derselben eigenen Essenz im anderen (Ebenbildlichkeit) ist Liebe in Vollendung, es ist diejenige der Geistseele (siehe Kap.1). Dieser geistige dritte Teil ist ihr höchster Teil und gilt natürlich ebenfalls für die Sexualität. Es ist das Bewusstsein der Einheit wie die der Finger an einer Hand. Irdischer Sex mit Eros und Philia ist nur die maximale Stufe materieller, also irdischer Vereinigung; deshalb bleibt das eine Individuum getrennt vom anderen; und anschließend erschleicht sich das Ego bei ihnen wieder die Oberhand. Demgegenüber erreicht die geistige Stufe einen Grad von Verschmelzung, der durch die besagte Einheit der Finger verdeutlicht werden kann: Denn es ist der gemeinsame „Blut“strom, der das Leben der einzelnen Individuen überhaupt ermöglicht und darüber hinaus ihre ursächliche Einheit zeigt. Das Erreichen dieser Dimension des Bewusstseins – zumeist erst bei einem Partner – versetzt im Alltagsleben Berge. Diesen Zusammenhang versucht Jesus mit dem zugegeben etwas gewagten Vergleich von Senfkorn und Berg zu verdeutlichen (Mt. 17, 20). Aber solche Beispiele gibt es nicht zu knapp und müssen durchaus nicht nur eine solch weltumspannende Dimension haben wie Gandhi, der dreihundert Millionen Inder in die Befreiung von der kolonialen Gewaltherrschaft des britischen Empires geführt hat.
Geistiges Einheitsbewusstsein in der Zweierbeziehung breitet sich aus und geht erst auf die Umgebung und dann auf Fremde über. Wenn ich dann im Bewusstsein keine Feinde mehr kenne – denn ich erkenne ihre Triebseelensteuerung, der sie ausgeliefert sind -, habe ich um mich herum auch keine mehr, kann keine mehr haben.
Es ist direkt möglich, dies sofort durch den folgenden Zweierschritt im Alltagsleben ausprobieren: Man macht sich klar, dass der böseste Nachbar oder der übelste Chef am gleichen geistigen Blutstrom hängt wie ich selbst und dieser Blutstrom nichts anderes ist als die göttliche Lebensenergie als der Selbsterkenntnis meiner inneren Ebenbildlichkeit. Die Praxis entscheidet eben immer über das, was Wahrheit ist, und die Praxis ist ihr Beleg.
Beim Sex kann das so gehen, dass man sich während der Liebkosungen bei den beiden göttlichen Seelen für die Einung bedankt. Es bedeutet, die Fundamente von trieborientiertem Eros und liebevoller Philia mit dem entscheidenden Element der hindurchblickenden Agape zu ergänzen, also den Aufstieg der Liebe empor zur geistigen Stufe zu vollenden; letztere besteht aus Erkennen und Verstehen. Das körperliche Erleben der nun mit Agape vervollständigten Liebe ist dann körperliche, emotionale und nun auch geistige partnerschaftliche Vervollständigung der Liebe, ihr Wesen: „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4,16).
Die geistig (!) bewusste Vereinigung mit dem geliebten Partner ist Wachstum und Hinführung nach „oben“ zur Einheit auf der geistigen Ebene (amor ascendens). Konkret formuliert das Ibn Arabi, indem er davon spricht, dass es beim Mann darum geht, „in der Frau … Gott zu erkennen.“ Dasselbe meint Lao Tse, wenn er davon spricht, „Bejahe Tao in deinem Nächsten“; (Tao Te King II, 54).
Sex enthält wie auch in allen anderen Bereichen des Lebens und der Liebe immer die Entscheidungssituation zwischen selbstisch-menschlicher (und damit oberflächlicher) oder eben spiritueller hindurchblickender und aufopfernder Ausrichtung auf Agape. Die erste dient der vorrangig eigenen materiellen Befriedigung, wohingegen die wahre Liebe die egozentrische Selbsterhaltung auf das Notwendige reduziert und im Wohl der anderen ihre tatsächliche Erfüllung findet. Das geht zum Teil auf Kosten der körperlichen Lust, wobei aber die Größe der Anteile bewusst verändert werden kann.
Was das spirituelle Leben betrifft, so gibt es nichts zum Nulltarif. Die generelle Befreiung vom Leid muss teuer bezahlt werden. Wenn Goethe in der Schlussszene von Faust II (Bergschluchten) den Chor der Engel vortragen lässt: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“, dann liegt die Betonung auf allem, auf immer, auf Streben und auf Bemühen.
Um es unmissverständlich auf den Punkt zu bringen: Dieses Streben besteht aus zwei Teilen.
(1.) Es ist einerseits das Aufgeben der Selbsterhaltung in Form der Egozentrik. Diese ist beim Sex ja das Hauptproblem. Hierbei dürfte es nicht überraschen, dass sich das vor allem auf den Mann bezieht.
(2.) Zweitens geht es darum, während der sexuellen Begegnung „in der Frau zu Gott erkennen.“ Man ergänzt also die Triebdimension (Eros) und die der liebevollen irdischen Liebe (Philia) um die der geistigen „Liebe“ (Agape). Es ist das Wissen um die „Hand im Handschuh.“
Wer dann beim Sex zumindest ansatzweise hinter die Oberfläche der materiellen Erscheinung, also der Person, schauen kann („Bejahe Tao in deinem Nächsten“), sollte sich klarmachen, dass es aber schon vorher darum geht, erst mal bei sich selber anzufangen.
Der Haken beim spirituellen Sex ist, dass (1.) ohne (2.) nicht funktioniert: Das Opfern des Ego-Verhaltens lässt sich nicht so einfach abschalten wie vielleicht eine Lampe. Das will vorbereitet werden, ist anstrengend, ist mit Rückschlägen verbunden (denn Maya bleibt nicht untätig) und dauert lange, bis es stabil wird. Ein Erfolg wäre schon, zumindest einmal für einen Moment dieses Bewusstseinselement in den Liebesakt einzubringen – im Idealfall zu Beginn („Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, dann wird euch alles zufallen.“ Mt. 6,33) Dieses geistige Bemühen ist außerordentlich anspruchsvoll, wird aber reich belohnt, denn selbstverständlich – Buddha lässt grüßen – es führt zu Leidfreiheit, was dann zum ersten Mal nachhaltig erfüllte Sexualität bedeutet.
Durch das Hinzukommen der geistigen Bewusstseinsstufe in der sexuellen Begegnung wird die Egozentrik schwer geschädigt. Die Selbsterhaltung kommt eben mit dem Kurswechsel zum Geben auf Kosten des Habenwollens nicht zurecht. Spirituellen Sex ohne Anteile der Opferung von Eigennützigkeit gibt es nicht. Wer diese aber beim Sex hingibt (amor descendens) und durch die Oberfläche der Person auf deren Geistseele hindurchblickt – was in der Meditation eingeübt wird – setzt Karma in Gang, diesmal aber den positiven Bumerang: „Was ihr sät, werdet ihr ernten!“ In Bezug auf das Sexthema bedeutet es, dass dem, der gibt, gegeben wird. Insofern geht spiritueller Sex über die Verringerung der sexuellen Selbstbezogenheit (des Mannes) hinaus und wendet sich nach innen zur eigenen geistigen Führung, zur Intuition und weiterhin zu der des Partners/der Partnerin, wie gesagt „in der Frau … Gott erkennen.“
Diese Verlagerung hat aber mit der sogenannten platonischen, also sexuell enthaltsamen Liebe nichts zu tun. Zwar gibt es spirituellen Sex ohne Opfer nicht, also nur mit zeitweise eingeschränkter Lust (quantitativ), weil die geistige Energie der Lust Anteile wegnimmt, das berührt aber nicht die Intensität. Wer diesen geistig induzierten Sex ausübt, bemerkt überrascht, dass sein Liebesbedürfnis durch seinen früheren konsumptiven Sex niemals ganz gestillt werden konnte: „No satisfaction.“ Und er erfährt, dass diese Liebe aus der Egozentrik herausführt und dass das „höchste Glück der Erdenkinder“ (Goethe: Westöstlicher Diwan) sich keineswegs auf die eigene Persönlichkeit bezieht, sondern aus der Hingabe an den anderen besteht. Dazu führt Goethe weiterhin so aus: „alles Erdenglück vereinet/ find ich in Suleika nur“ (Suleika/Hatem).
Die Koexistenz zwischen sexuellem Genuss und spiritueller Hingabe lässt sich verschiedentlich erfahren und einüben, so zum Beispiel beim Essen. Wer vor einem Bissen (am besten vor dem ersten) dankt und sich auf die geistige Versorgung durch den „Vater in mir“ konzentriert, der stellt fest, dass der sinnlich aromatische Genuss durch den Geschmack reduziert wird. Aber zugleich durchströmt einen dann tiefe Freude, wenn auch verhalten. Das hängt von der Hingabe an die eigene Intuition ab („Man sieht nur mit dem Herzen gut!“) und auch von der Stufe der Kommunikation mit der inneren Stimme, dem Bauchgefühl, der Intuition und der damit verbundenen Fähigkeit, „Dein Wille geschehe!“ leben zu können.
Dann wird das individuelle Alltagsgeschehen zum Paradies auf Erden, und zwar nicht erst irgendwann im Jenseits, sondern schon im Hier und Jetzt. Den Kirchen ist diese praktische Diesseitigkeit unbekannt, sie verweisen auf die Erfüllung der Liebe immer aufs Jenseits, immer erst „post mortem.“ Dem gegenüber betont Jesus in der Bergpredigt: „Sie werden das Erdreich besitzen.“
Dass menschlicher sexueller Verkehr übrigens nicht primär zur Fortpflanzung da ist, hat Wladimir Solowjow in seinem Essay „Der Sinn der (Geschlechter-)Liebe“ (anderer Titel: Philosophie der Liebe) im ersten Teil des ersten Aufsatzes einsichtig begründet. In der Auseinandersetzung mit Schopenhauer, der die Liebe rein als Lockmittel zur Arterhaltung sieht, entwickelt Solovjov eine Vorstellung, die mit unser aller Erfahrung beginnt, der „Vergötterung“ des/der Geliebten. In dieser Idealisierung erkennt er die Vorstufe dazu, über die äußere Erscheinung hinaus zum Wesen der geliebten Person vordringen zu können, also ihre Schönheit und Attraktivität als Abglanz Gottes zu verstehen. Das kennt jeder, der verliebt war, nämlich das Hinwegsehen über alle störenden Äußerlichkeiten oder Charakterzüge des Partners. (In der Praxis zeigt sich natürlich, dass Transzendierung des Äußeren nicht allzu lange anhält, weil das Ego bald die Aufmerksamkeit auf den Vordergrund zurückholt.) Weiterhin betrachtet Solovjov die Evolution der Säugetiere und vergleicht die Kraft der Vermehrung mit der geschlechtlichen Anziehung. Er sagt aus, dass bei steigender Entwicklungsstufe die Kraft der Vermehrung nachlassen und die der gegenseitigen Anziehung steigen würde, wobei beim Menschen die Liebe am größten sei. Er führt weiter aus, dass Mann und Frau – gleichermaßen einseitig und damit unvollständig – sich der Vollkommenheit annähern können, wenn jeder nicht nur im idealisierten Partner, sondern auch und vor allem erst in sich selbst (!) den göttlichen Kern erkennt. (Anmerkung d. Verf.: Eine geeignete Form der Einübung ist die permanente Vorstellung der Aura, die man selbst ausstrahlt.) Dadurch finde eine allmähliche Wiederherstellung der durch den Sündenfall zerstörten Einheit zwischen Person und Seele statt. Mit der materiellen Idealisierung, also Vergötterung (im Sinn von Vergeistigung!) des Partners, könne die Realisierung auf der höheren geistigen Ebene fortgesetzt werden. In der Liebe der Geschlechter zueinander offenbare sich daher der Sinn der Liebe, nämlich der allmählichen spirituellen Selbsterkennung und der des Nächsten (Feindesliebe) und damit der bewussten Wiedervereinigung von Mensch und Gott. |