Ein Mann steht auf einem von zahlreichen Windlichtern, Blumensträußen und Trauerkarten bedeckten Schulhof und hält mit ausgestreckten Armen ein Schild hoch. Im Hintergrund ist das Schulgebäude zu sehen. Dem Mann gegenüber stehen Dutzende von Fotografen, die ihre Kameras auf ihn gerichtet haben: Hier ein Ausschnitt. Es handelt sich offenkundig um eine Situation nach einem Amoklauf. Womöglich ist der Mann ein Vater, der sein Kind verloren hat. Auf dem Schild steht: Gott, wo warst du?

Immer, wenn entsetzliche Dinge passieren, stellen sich unzählige Menschen die Frage, wo Gott bei diesem Vorfall war, wieso er dies zulassen konnte.
Dieser Aufschrei ist so alt wie die Menschheit:
„Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann nicht, dann ist er schwach,
Oder er kann es und will nicht, dann ist er missgünstig, …
Oder er will nicht und kann nicht, dann ist er schwach, …
Oder er will es und kann es, …:
Woher kommen dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht weg?“
(Epikur (?), 341-270 v. u. Z.)
Albert Camus bringt es knapper zum Ausdruck:
„Entweder ist Gott gut, dann ist er nicht allmächtig;
oder aber er ist allmächtig, dann ist er nicht gut.“
(Die Pest)
In diesen Chor stimmen viele weitere Stimmen ein: Luther, Leibniz, Dostojewskij („Die Brüder Karamasov“), Bonhoeffer und andere. Sie setzten sich mit der provokanten Frage auseinander, ob es tatsächlich die postulierte Allmacht Gottes gibt, wenn sie seit Jahrtausenden doch nicht mit dem überall auftretenden Leid und dem * Bösen fertig wird.
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*Böses: Menschlich verursachtes Negatives; Der Gegensatz dazu ist der Begriff Leid: als ungerechtfertigter Not. Sammelbegriff: Übel
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Ihre versteckte Annahme muss ja wohl sein, dass das Böse der Gegenspieler Gottes und irgendwie seinem Allmachtbereich entzogen ist. Oder sie fragen: Wenn es einen Gott gibt, warum haben die Menschen – hallo, sie sind doch seine Schöpfung – dann keine Sicherheit und keinen Frieden?
Das monumentale Böse allein im letzten Jahrhundert bis heute: Es gab etwa 180 Kriege und viele Völkermorde, von regionalen Massakern nicht einmal zu reden: Der Genozid an den Hereros durch die deutsche „Schutz“truppe im heutigen Namibia, 1,5 Millionen tote Armenier 1915 in der Türkei, 75 Millionen Tote der beiden Weltkriege, darunter der Holocaust durch die Nazis, Millionen von Toten im Gulag, das Pogrom an den Igbo in Biafra (Nigeria), die Kulturevolution in China mit Hunderttausenden von Opfern, die „Kommunisten“jagd im Indonesien Mitte der 60er Jahre durch Massaker mit Millionen von Toten, die Vernichtung von 25 % der gesamten eigenen Bevölkerung in Kambodscha durch die Roten Khmer, 800 000 tote Tutsis durch Hutus in Ruanda 1994, Tausende ermordete Bosnier durch Serben in Srebrenica 1995, Hunderttausende von Toten durch genozidale „Säuberungen“ an den Rohingya in Myanmar. Das sind insgesamt etwa 150 Millionen Tote. Dazu kommen der Bürgerkrieg im Südsudan, der Krieg in der Ukraine, Bandenkriege in Brasilien, in Haiti, Massenmorde in Mexiko und im Sudan, Massaker in Syrien, im Irak, Autobomben in Afghanistan, Pakistan, Selbstmordattentäter, blutige Massaker in Oslo, Paris, Brüssel, Orlando, Berlin, Las Vegas, Pittsburgh, Christchurch, Amokläufe an Schulen, herbeigeführte Flugzeugabstürze oder -abschüsse, Anschläge (Boston), Attentate (Köln, Paris) , Hinrichtungen, Vergewaltigungen und natürlich das „gewöhnliche“ Böse wie häusliche Gewalt, Unfallflucht, Betrug, Diebstahl, Raub, Totschlag, Kindesvergewaltigung (mittlerweile als Massenphänomen), Mord.
„Gott, wo warst du?“ ist ein Verständnis von Schöpfung, das den Anspruch enthält, dass unsere Welt eine Art Schlaraffenland sein müsse, in dem die Menschen als Krone dieser Schöpfung in Frieden, Freundschaft und grenzenloser Versorgung vor sich hin leben, weil der Schöpfer eben seine Kinder mit dem Bestmöglichen versorgen würde. Schiller geht davon aus, dass er das tatsächlich auch tut, allerdings nicht so, wie die menschlichen Egos sich das vorstellen. Der Dichter hält den Sündenfall für den glücklichsten Moment der Menschheitsgeschichte hält, weil:
„… zwar das moralische Übel in die Welt gebracht wurde, aber nur, um das moralisch Gute darin möglich zu machen…“
(Friedrich Schiller: „Die Sendung Moses“)
Und Camus mit seiner versteckten Anklage, warum Gott uns nicht rettet, kann nicht verstehen, dass dies geradezu nicht passieren kann: Ein Mensch, der Träger des Gottessohnes ist und sein ebenbürtiger Ausdruck sein kann, ein substanziell göttlicher Teenager sozusagen, rettet sich nur selbst. Wo wäre sonst seine Göttlichkeit? Das sogenannte „Jammertal“, diese unsere Welt, die nach Buddha per se leidvoll ist und als heilloser Planet auftritt, ist aber grundsätzlich in Ordnung und harmonisch: Die Naturgesetze wie Schwerkraft, Elektromagnetismus, usw. funktionieren, die Jahreszeiten, die Gezeiten, Fauna und Flora in ihrer Vielfalt funktionieren, die Meere, die Atmosphäre mit ihren Strömungen, die Böden, Flüsse, Wälder, alles ist (noch) in Ordnung, alles funktioniert. Und nicht nur das, alles ist atemberaubend schön. Sonnenauf- und -untergang, die Frühnebel im beginnenden Herbst, die Schneeflocken und Eiskristalle, die weißen Wolken am blauen Himmel, die urgewaltigen Blitze, die reifen Früchte, die Blütenpracht im Frühling, die Auenlandschaften, die Hochgebirge. Auch der Mensch ist ein Meisterwerk, eine Symphonie von anatomischen, physiologischen, mentalen und emotionalen Ebenen. Jeder einzelne Körperteil wie z. B. ein Oberarm mit Sehnen, Muskeln, Knochen, Gelenken, Hebelwirkungen, usw. ist in Ordnung. Das Zusammenspiel der Organe ist intelligent geordnet ebenso wie die Steuerung durch die Hormone. Nur ein einziger Faktor ist nicht Ordnung. Das ist das zerstörerische Bewusstseinsprogramm von der Selbsterhaltung. Sein Diener, der Verstand mit seiner Logik, erkennt diese Steuerung nicht und richtet durch seine scheinbar eigenständige, jedoch triebabhängige Freiheit alles um sich herum und damit letztlich sich selbst zugrunde, um sich selbst zu erhalten. So richtet er unfassbare Grausamkeiten an und erzeugt so tatsächlich das Böse und das damit verbundene Leid. Deshalb leben wir in einem Jammertal voller Alkoholismus, Verwahrlosung, Eigentumsdelikte, Gewalt, Streit, Ehehöllen, familiären Terrors, Straßengewalt, Vergewaltigung, Korruption, erbarmungsloser Ausbeutung, Eifersucht und Existenzangst.
„Er nennts Vernunft und brauchts allein,
nur tierischer als jedes Tier zu sein.“
(Goethe: Faust I, Prolog im Himmel)
Wer sich den Zustand des menschlichen Bewusstseins seit den Neandertalern über die Antike und das Mittelalter bis heute vor Augen führt, kann eher weniger Gotteskindliches und dafür ein Übermaß an egobezogener Wut, Aggression, Angst, Misstrauen, Sorge und Gewalttätigkeit sehen. So unterliegt heute immer noch ein Großteil der Menschen trotz vieler Gegenbeispiele unbewusst der nahezu uneingeschränkten Steuerung durch den Selbsterhaltungstrieb und dem damit ausgelösten Bösen. Frank Zappa hat einst gesungen:
„What‘s the ugliest part of your body? It is your mind.“
Die wenigsten stellen die Frage, warum unsere Schöpfung so gestaltet ist, dass so viel Übel existiert. Dabei gibt es klare Antworten auf diese Frage nach der geistigen Erklärung der Vernichtungskräfte:
Yin und Yang
Da das Böse nun einmal existiert, ist es zunächst einmal ein irgendwie gearteter Bestandteil der Schöpfung. Das bringt Goethe im „Prolog im Himmel“ (Faust I) zum Ausdruck, indem er Mephisto, eine personalisierte Teufelsgestalt, als integralen (!) Bestandteil im „Gesinde des Herrn“ auftreten lässt, als Diener Gottes. Ein Verständnis vom Bösen als unabhängiger Gegenmacht (Zarathustra, Luther) lässt sich aber mit dem Verständnis von Allmacht nicht vereinbaren. Der Regisseur George Lucas lässt demzufolge seine Akteure in ‚Star Wars‘ auch nicht von dunkler Macht, sondern immer nur von der „dunklen Seite der Macht“ sprechen. Wer das Verständnis von schöpferischer Allmacht teilt, der versteht auch Jakob Böhme:
„…weil denn alles Ding von Gott kommt, so muss ja das Böse auch von Gott kommen.“ (Aurora, Kap. 2,36).
Weiterhin leistet die chinesische Weisheitslehre des Taoismus einen klärenden Beitrag zum Verständnis des Bösen: Es geht um einen Berg, den die Sonne bescheint. Am Vormittag scheint sie über dem Osthang, versorgt ihn mit Licht und Wärme. Der Hang ist dann hell, warm und trocken. Während dieser Zeit liegt der Westhang im Schatten, er ist dunkel, kühl und vom nächtlichen Tau feucht. Am Nachmittag wendet sich das Bild. Nun ist es der Westhang, der mit Licht und Wärme kommt und trocknet, während nun der Osthang im Schatten liegt. Es kommt darauf an, die Einheit und gegenseitige Bedingung – in ständigem Wandel – dieser beiden Erscheinungen zu sehen. Es gibt keinen Westhang eines Berges ohne Osthang genauso wenig wie es nur eine Seite einer Münze oder eine Batterie ohne Minuspol gibt. Eine Batterie ohne Minuspol ist überhaupt keine, erst durch das Zusammensein und -wirken beider Pole kann etwas überhaupt existieren und eine Funktion haben. Die scheinbare Zweiheit (Polarität) ist in Wirklichkeit eine sich gegenseitig bedingende Einheit. Der scheinbare Gegensatz besteht aus zwei unterschiedlichen Oberflächenerscheinungen, deren gemeinsame Substanz aber der Berg ist. Die beiden verschiedenen Erscheinungen sind in Wirklichkeit Teile ein und desselben Gegenstandes, so wie es auch die unterschiedlichen Facetten eines Diamanten sind.
Die untenstehende Kurve ist sowohl konvex als auch konkav, je nach Blickwinkel. Es sind verschiedene Aspekte derselben Kurve. Das menschliche Leben findet im Reich der Gegensätze statt und kann Gutes nur anhand von Bösem identifizieren.

Damit ist das zentrale Prinzip der stofflichen Schöpfung: zum Ausdruck gebracht: Es ist eine scheinbare Dualität, die in Wirklichkeit eine Polarität ist. Es ist scheinbare Gegensätzlichkeit, die in Wirklichkeit Einheit ist. Eine Batterie kann es nur mit Plus- und Minuspol geben, die Erde nur mit Nord- und Südpol. Etwas Heißes kann nur als „heiß“ verstanden werden, weil es Kaltes gibt. Ohne Kaltes wüssten wir nicht, was heiß ist. Dadurch erfahren wir das, was wir mit dem Begriff Temperatur bezeichnen. Das heißt, die durch die Sinnesorgane erfahrene Welt kann überhaupt nur über Gegensätze erfahrbar werden. Ohne Blindheit hätten wir nicht die Wertschätzung des Sehens, ohne hasserfülltes Verhalten wäre liebevolles als solches nicht identifizierbar. Ohne die Qualen des Jammertals kann es keine Wege zu Frieden, Glück und Wohlbefinden geben. Ohne Elend kann es keine Fülle geben. Da die Menschen aber ein konsequent egozentrisches Verständnis von Fülle haben und sie außerdem auf die materielle Ebene beschränken, gibt es Streit, Neid, Misstrauen, Angst, Eifersucht und Hass ohne Ende, die dann zu fürchterlichsten Folgetaten führen.
Man könnte sich zwar einen einförmigen Zustand ohne Kälte, ohne Wärme, ohne Nässe, ohne Trockenheit, ohne Licht, ohne Schatten, usw. denken. Die jüdische Weisheitslehre nennt diesen Zustand wüst und leer, also ohne Gegensätze. Aber dann gibt es keine Sinnhaftigkeit, weil Erfahrbarkeit und Perspektiven zur Höherentwicklung fehlen.
Denn dann wüssten wir nicht, warum wir uns in einem solchen Zustand befinden und wozu wir existieren, was unsere Aufgaben sind, unsere Ziele, unsere Bestimmung. Alles dies kann nur durch Sinnesorgane erfahrbar sein, und dazu muss es polare Gegensätze geben. Deswegen existiert das Böse, um Höherentwicklung (biblisch: „zurück zu des Vaters Hof“) zu ermöglichen.
„Das, was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört…“
(Goethe: Kunsttheoretische Schriften: Zum Schäkespears-Tag)
Nichts anderes zeigt in der christlichen Weisheit das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, in dem das Böse, also das Leid der materiellen Welt, in Form von Verelendung mit der Bauchlandung in der Schweineherde erscheint. Dieser Absturz des Gottessohnes existiert zu dem Zweck, seinen Ausweg aus dem Schmutz der Schweineherden zu finden. Sein Unglück ist der Tritt des Schicksals, auf die Ursache für dieses Leid zu gehen, anstatt es zu unterdrücken, zu entfernen, loszuwerden. (Die moderne Medizin ist ein klassisches Beispiel hierfür, für Symptomunterdrückung.)
Die Menschen suchen den Ausweg aus einer Pleite und sonstigen finanziellen Zusammenbrüchen in Alkohol, Betrug, Flucht, usw. Sie kämpfen mit Klauen und Zähnen gegen Ungerechtigkeit, Strafbescheide, Krankheit oder den Konkurrenten, anstatt diese Übel als Lektionen zu verstehen, die Befreiung von ihnen zu erreichen.
Sie suchen und suchen und finden den Ausweg nicht, weil sie auf der horizontalen physikalischen Ebene bleiben und nicht wissen, dass der Ausweg nur in der Vertikalen zu finden ist. Der Buddha nennt die Fesselung an die rein materielle Auffassung von Welt „Anhaftung.“ Er erkennt, dass diese Verklebung der alleinige Grund für das konstitutive Leid in unserer Welt ist.
Das Leid ist dazu da, um dieses Leid durch Bewusstseinswandel zu beenden. Ein weiteres Symbol für die produktive Funktion des Übels ist die Figur des Judas mit dessen Rolle für das Heilsgeschehen.
Das Böse ist eine Erscheinungsform der einheitlichen Schöpfung. Es ist darauf angelegt, sich für den Weg zur Befreiung von ihm zu entscheiden und zur Vollkommenheit zu führen. Wer das Böse abschaffen wollte – und das wollen alle Weltverbesserer -, würde das Gute ebenfalls abschaffen. Beides ist in höherem Sinn gut. Das schmerzliche „Böse“ führt zur Sinnerfüllung, indem es dem Menschen die Möglichkeit bietet, den Bereich der Gegensätze im Bewusstsein zu verlassen in Richtung Einheit, also die Vereinigung der materiellen Person mit ihrem inneren geistigen Kern. Das Böse ist dazu da, es zu überwinden.
„Der Teufel ist nur dazu da, um zu kontrastieren, um uns begreiflich zu machen, dass es etwas im Himmel gibt.“
(Georg Büchner: Leonce und Lena)
Das Böse ist nur für das Ego böse
Angenommen, ein Mann wird von seiner Ehefrau verlassen, weil sie sein selbstbezogenes Verhalten nicht mehr ertragen will. Für ihn bricht eine Welt zusammen, nicht nur emotional, sondern auch versorgungsmäßig. Die Hälfte des Familieneinkommens bricht weg, die Aufwendungen für Kindererziehung, Miete, usw. sind aber nicht halbiert. Er steht emotional vor den Trümmern seines bisherigen Ehelebens und finanziell vor dem Ruin. Für ihn ist das eine Katastrophe, und damit ist die ganze Angelegenheit für ihn „böse.“ Es ist ein Übel schlechthin. Dabei ist dieses Böse keineswegs so böse, wie es sich ihm allerdings darstellt. Denn nur durch dieses Geschehen kann er auf die Suche nach der Ursache für die Krise zu gehen, nach seinen eigenen Anteilen am Desaster. Ohne das Trennungsdrama würde er niemals auf die Idee kommen, egoistisches Verhalten bei sich selbst zu erkennen. Denn das Ego sucht a) die Schuld immer bei allen anderen, und b) das (männliche) Ego liebt es, im eigenen Leid zu zerfließen. Die Chance zur Selbstreflexion ist da, die es vorher nicht gab. Das ist der Sinn des Bösen. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, sagte einst Heraklit. Diese Aussage lässt sich sinnvoll verallgemeinern: Jede Krise ist potenziell der Vater aller Dinge. Eine altrömische Weisheit lautet: „Durch das Elend zu den Sternen.“ (Per aspera ad astra.) Friede zwischen den Menschen ist immer noch das Produkt von Krieg.
Wenn dieser Mann den eigenen Anteil tatsächlich finden sollte, hätte er einen großen Schritt in Richtung Erkennen und Überwinden des Egoanteils in ihm gemacht. Natürlich hätte es weniger rabiate Momente geben können, das Desaster zu vermeiden, wenn er während seiner Ehejahre gelernt hätte, die Verbindung zur Intuition in sich, zur spirituellen Führung zu finden, zu entwickeln und so seine Beziehung zu harmonisieren. Aber die Menschen wollen eben immer ihre Übel loswerden, nicht aber ihre Steuerungen, die diese Übel erzeugt haben.
Es ist charakteristisch für das Ego-Verhalten des Menschen, sich aus dem Leben die Rosinen herauspicken und Unangenehmes vermeiden zu wollen. Sie wollen nicht das, was kommt, hinnehmen und als Lernsituation auffassen. Deshalb müssen sie eben unter dem Bösen dauerhaft leiden. Wer das aber erkannt hat, muss es nicht.
„Ob … zehntausend fallen zu deiner Rechten, so wird es doch nicht treffen. … Es wird dir kein Übel begegnen und keine Plage wird sich deiner Hütte nähern.“ (Ps. 91).
Das ist keine Annahme im Sinn einer bloßen Vermutung oder Arbeitshypothese, sondern Resultat konkreter Erfahrungen, die jeder macht, der den Weg geht, sich von den „Anhaftungen“ des Selbsterhaltungstriebes zu befreien.
Da spirituelle Selbstkritik für den Alltagsmenschen aber kein Thema ist, ist eine Krise, die Konfrontation mit dem Übel, das entscheidende Instrument in der Welt der Gegensätzlichkeiten, um den äußeren Menschen zur Besinnung, zum Aufwachen und zur Umkehr zu bewegen. Deshalb, so absurd und widersprüchlich es klingt, dient das Böse dem Guten (nicht dem *menschlich Guten, sondern dem göttlich absolut Guten), es führt zu ihm hin.
„Das schnellste Tier, das euch zur Vollkommenheit führt, ist das Leid.“
(Meister Eckhart: Von der Abgeschiedenheit.)
*Menschlich Gutes wie z. B. Mildtätigkeit, Spenden, Nachbarschaftshilfe, usw. kann individuell hilfreich sein, um die Empathiefähigkeit auszubauen, sie ist es aber meist nur sehr begrenzt, weil sie Unterschiede macht („Bevorzugung“: eigene Kinder – andere Kinder, vielleicht sogar solche mit anderer Hautfarbe). Außerdem hat sie in Bezug auf den Weg aus dem Leid keine Bedeutung, solange kein Bewusstsein darüber besteht, dass dieses Gute nicht die eigene persönliche Eigenschaft ist, sondern von der Seele ausgeht und der Dank dafür ihr zusteht: „Meinst du, Gott liegt daran, dass du gerecht seist? Was hilft es ihm, dass deine Wege gerecht sind.“ (Hiob 22) Solange das menschlich Gute auf der rein menschlichen Ebene bleibt, also ohne spirituelle Ausrichtung (Selbsterkenntnis der eigenen göttlichen Identität), hat es für die Befreiung aus dem Jammertal wenig Bedeutung. Denn dieses horizontal Gute hat kein Verständnis für die Unterschiedslosigkeit, also der Einheit allen Seins, auch der von Normalbürger und Verbrecher und somit der von Gut und Böse (Cusanus, Georg Hamann: coincidentia oppositorum).
Die göttliche Schöpfung ist nicht Erzeuger des Bösen. Sie enthält die Möglichkeit für das Individuum, sich für Böses entscheiden zu können. Zudem ist das Wesen des Bösen, ausschließlich als Versuchung zu existieren. Das bedeutet, dass es das Böse es in der Schöpfung überhaupt nur als Verlockung dient (Schlange, Mephisto).
Wenn der Mensch allerdings die Versuchung für bare Münze hält, ist er selbst es, der sie zu real Bösem macht. Mit anderen Worten wird das Böse nur dann vom Bild im Kopf zur Wirklichkeit, wenn der Mensch darauf hereinfällt und er auf Grund dessen Böses tut. So führt die Angst vor „Überfremdung“ und „Umvolkung“ zu Diskriminierung von ethnisch anderen Mitbürgern zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder Angriffen auf Asylbewerber. Wohin das Böse im Kopf im Alltagsleben immer führt, zeigt das Beispiel der NS-Zeit mit ihrer rassistischen Vorstellungswelt des „Untermenschentums“. Moderne Ansätze lauten dann „Überfremdung“, „Umvolkung“ oder „Remigration.“
Symbolisch ist das Befolgen der Eingebungen durch Mephisto, also konkret der unbewussten Impulsen der Ego-Angst vor Fremden in der Schöpfungsgeschichte angelegt:
1) Adam und Eva leihen den Verlockungen der Schlange erst einmal überhaupt ihr Ohr. Dies entspricht dem Sachverhalt, dass fast alle Menschen ihrem fast ausschließlich negativen Gedankenstrom (Ängste) blind folgen. Sie wissen weder, dass sie das tun, noch und erst recht können sie nicht unterscheiden zwischen Eingebungen von „oben“ (Bauchgefühl) und denen von unten (Angst, Neid, Eifersucht, Hass, usw.). Wie schon immer und auch gegenwärtig wieder mal sehr aktuell ist die Angst vor dem Zustrom von „Ausländern“ und/oder die Wut auf sie.
2) Sie folgen ebenfalls unbewusst den Versprechungen (siehe 3) und Lügen (siehe 4) des Versuchers, also der Ego-Steuerung der Selbsterhaltung von „unten.“.
3) Sie sind begeistert von jeder das Ego aufwertenden Aussicht, zu sein „wie Gott“ und „klug werden“ zu können.
4) Sie glauben an die Lüge, bei Übertretung der Gebote eben nicht sterben zu müssen.
Jesus hat das Prinzip der Notwendigkeit die geistigen Gebote zu befolgen, u.a. in der Bergpredigt konkretisiert, also Gott – im Innern – zu lieben und dann den Nächsten (Feind) „zu lieben, und zwar wie sich selbst.“ Also Ego runter und Fremdenliebe rauf.
Aber all diese Ausführungen sind erstmal nur exegetische Behauptungen. Den Wahrheitsgehalt gewinnen sie, wenn diese Gebote in der Alltagspraxis befolgt, mit Leben erfüllt werden. Wer Fremde liebt, wird von ihnen und allen anderen wiedergeliebt werden. Man muss es „nur“ ausprobieren. Es kann aber nicht darum gehen, Fremde zu lieben, um von diesen wiedergeliebt zu werden. Vielmehr ist die Grundlage von Harmonie im Leben immer die Erkenntnis des Gottessohnes in mir und ihnen. Das Alltagsleben zeigt dann, dass diese entscheidenden Bestandteile für die völlige Leidfreiheit massiv wirksam werden.
Hätte Eva der Verführung durch die Schlange, geantwortet, dass sie
1) den Selbsterhaltungsgrund ihrer Angst- und Wutimpulse erkennt
und sie sich nicht einlässt,
2) die Lüge, dass Gott mit Sterblichkeit droht, als Unwahrheit erkennt,
3) keinen Bedarf für die Ego-Aufplusterung hat und
4) Gottes Gebot, den Gut-Böse-Baum nicht anzurühren, sehr wohl befolgen wird und insofern also mit der leidvollen irdischen Welt, mit eben Bösem, nichts zu tun haben will, dann wäre sie nicht ins Jammertal vertrieben worden.
Für den ursprünglichen Menschen (Erste Schöpfungsgeschichte; Ebenbild, also die Schöpfung des geistigen Menschen) war, nachdem er der Schlange auf dem Leim gegangen war und dadurch aus seinem geistigen Urzustand herausgerissen wurde (Zweite Schöpfungsgeschichte: Lehmkloß plus Hauch Gottes: materieller Mensch), die materielle Welt geschaffen, um durch das Erkennen von Gut und Böse zum Ideal des absolut Guten ohne Böses zurückkehren zu können, zur Leidfreiheit, wie es der Buddha kristallklar formuliert hat.
Diese klare Struktur kann nicht einfacher dargestellt werden als durch das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk. 15, 11 ff.), das den Erlösungsweg des Menschen beschreibt:
1) Der ausschließlich geistige Mensch (Gottessohn) verlässt seine rein geistige Heimat – allerdings unter Mitnahme seines „Erbes“, also mit der Anlage geistigen Bewusstseins -, geht über Land in die materielle Welt (Zweite Schöpfungsgeschichte).
2) Sein Leben auf der materiellen Ebene verläuft so, dass er alles verliert bzw. verprasst und so tief sinkt, dass man tiefer nicht sinken kann. Er muss Lebensmittelabfälle, die für die Schweine bestimmt sind, essen (Treber: Ausgepresste Gerste-Rückstände, die Spelzen) – als Metapher für schwerstes Leid (siehe Kap. 13).
3) Dadurch, durch das furchtbare Übel und das Verständnis für dessen Botschaft , entschließt er sich zur Umkehr, zur Rückkehr ins spirituelle Bewusstsein, und zwar unter Demut (Ego-Kreuzigung). Er kehrt deshalb erfolgreich auf die geistige Stufe („zum Vater“) zurück.
Durch die beiden Bäume der Schöpfungsgeschichte sind die beiden Zustände symbolisiert, vor denen Eva stand und mit Adam bis heute steht und weiterhin vor sich hat: Entweder Gut und Böse (außerparadiesisch) oder Nur-Gut (paradiesisch, also leidfrei). Der Weg aus dem Leid besteht in unserer stofflichen Welt aus eben derselben Wahl, derjenigen zwischen dem Verbleib im materiellen Gut-Schlecht oder dem Aufstieg ins spirituelle Leben ohne menschlich Gutes und vor allem ohne Böses – innerhalb dieser Welt der scheinbaren Gegensätzlichkeiten. Das zentrale Symbol für diese Entscheidung mit ihren Folgen zeigt das besagte Gleichnis vom Verlorenen Sohn.
Den Ausstieg aus dem Bewusstsein der scheinbaren Gegensätze skizziert Lao Tse: „Wer schön sagt, schafft unschön.“ (Lao Tse: Tao Te King, Vers 2). Damit überwindet er den Schein und erkennt dahinter die Einheit allen Seins. Dann gelangt er zurück in den Garten Eden ohne Böses, sehr wohl noch im Hier und Jetzt. Es dürfte weithin nicht bewusst sein, dass die Existenz der beiden Bäume mit der Entscheidung zwischen ihnen (am Mischerhebel) an Aktualität nichts verloren hat; eher ist das Gegenteil der Fall, wenn man vor dem Ausblick auf die Kriegsgefahr und das Tempo des Klimawandels steht.
Es gibt im Prinzip nichts Negatives, sondern es wird erst vom Ego-Denken des Menschen erzeugt. Das zeigt die realitätsbildende Macht des Bewusstseins, sowohl individuell als auch vor kollektiv. Das sieht man überall und ständig, was gegenwärtig der grassierende ethnische Rassismus zeigt, dessen furchtbare Folgen in der Menschheitsgeschichte unzählige Male sichtbar wurden. Das bedeutet, dass unsere Gegenwart ungeheure Bewährungsproben für die Zukunft enthält, nicht nur für die unserer Kinder, sondern schon für unsere eigene Generation.
Dabei ist eins der drängendsten Probleme der Gegenwart die mitmenschliche Fürsorge für Flüchtlinge. Dabei haben unter anderem die Deutschen offensichtlich vergessen, dass sie selbst bzw. ihre Eltern selber Flüchtlinge waren, die zu 14 Millionen nach dem Krieg aus den Ostgebieten nach Deutschland vertrieben wurden. Mit Fürsorge ist nicht schrankenlose Grenzöffnung und Aufnahme gemeint, sondern die Verantwortung dafür, dass die Flüchtlingsursachen dort (!) beseitigt werden und ein weltweit solidarisches Miteinander ermöglicht wird, egal, ob es sich um verzweifelte Migranten aus Mittelamerika, dem Nahen und Mittleren Osten oder Nord- und Westafrika handelt.
Das Bewusstsein des Menschen ist Erzeuger des Bösen, genauer, dessen Anhaftung an den animalischen Teil des Bewusstseins, den Selbsterhaltungstrieb. Der Mensch hat die Freiheit, sich gegensätzlich zum Guten verhalten zu können. Und das tut er aus diesem Instinkt heraus, wobei er nicht weiß, dass dieser ihn in das Gegenteil von Erhaltung führt, in die Selbstzerstörung. Die Tendenzen sind gegenwärtig überdeutlich sichtbar am Erstarken der autoritären Kräfte weltweit.
Der Selbsterhaltungstrieb suggeriert, dass die Hingabe, das Opfern, das Dienen und das selbstlose Teilen die Selbsterhaltung gefährden, obwohl sie im Gegenteil der einzige Weg zur echten Selbsterhaltung sind.
Der Mensch ist durch sein Bewusstsein der Konstrukteur der Verhältnisse in der Welt der Gegensätzlichkeiten, der scheinbaren Dualität, des Reiches von Gut und Böse, in dem das Böse als Potential und Fallgrube enthalten und frei wählbar ist. Und davon machen die Menschen trotz Goldener Regel, trotz der Gita, trotz des Daodejing, trotz des Tanach, trotz des Korans, trotz des Evangeliums, usw., trotz Martin Luther King, Mandela, Gandhi, Pater Kolbe, Mutter Teresa und vieler anderer regen Gebrauch. Wer das Böse für böse hält, verursacht sogar weiteres Böses, weil er seinen Weiterbestand bewirkt. Wer sich aber bei allem, was geschieht, sich einer oberflächlichen Wertung enthält, nichts „Böses“ oder Unangenehmes als böse begreift (außer für sein Ego) und insofern aus dem Hamsterrad der Einteilung in gute und schlechte Dinge aussteigt, ist nicht mehr ihr Sklave. Das meint die Chinesische Parabel von Hermann Hesse (siehe oben in 2.3.7.), in der er den chinesischen Bauern beschreibt, der weiß, dass „alles von Gott kommt“ und daher darauf verzichtet, Böses böse zu nennen.
„Nichts ist an sich weder gut noch böse. Das Denken macht es erst dazu.“
(William Shakespeare: Hamlet. II,2)
Trete ich aber in das Bewusstseinsreich des Nur-Guten ein, arbeite also gegen das Unwissen, wie der Buddha das empfohlen hat, verdrängt das Nur-Gute (z. B. nicht das „Auge-um-Auge“-Prinzip anwenden) allmählich das Böse. Paulus nennt es das „tägliche Sterben“, dasjenige des Instinkts der Selbsterhaltung. Das Resultat ist ein Leben in dieser Welt mit nicht mehr nur einem, sondern zwei Bewusstseinszuständen, vielleicht 40 % materiell und 60 % geistig. Es verläuft dann ohne Luxus und ohne Mangel, ohne Ego-Amüsement und ohne Sorge, ein Leben nur in gelassener und hingebungsvoller Freude. Es ist ein Bewusstseinslevel, der nichts Böses und nichts Leidvolles mehr enthält, weil er nichts dergleichen hineinlässt und alles „Üble“ als Übel nur fürs Ego und als Wachstumsimpuls versteht: Wir sind eben – wie gesagt – dazu da, uns höher zu entwickeln und nicht dazu unser Leben einfach abzuleben. Das Tier kennt ein solches Reifen nicht: Eine Höherentwicklung aus dem Gut- und vor allem Böse-Reich ist ihm nicht möglich, diese ist Privileg des Menschen und der einzige Unterschied zur Stufe der Tiere.
Das äußere Produkt des Werdens ist ein konkretes Leben ohne Leid und ohne Böses. Wir befinden uns dann ständig im Auge des Hurrikans, wohin er sich auch immer bewegt, denn das Böse kann in der Gegenwart verständigen spirituellen Bewusstseins nicht zur Geltung kommen. Insofern ist das Böse nicht voraussetzungslos, sondern Folge von Unwissen und dem dadurch bedingten rein materiellen Bewusstsein.
Der eingangs angeführte Vorwurf, wie Gott irgendein furchtbares Ereignis zulassen konnte, zeigt eine komplette Verständnislosigkeit für die übergeordneten geistigen Zusammenhänge. Genauso gut könnte man einem Architekten vorwerfen, wie er die Schlägerei eines bekifften Ehepaares in dem von ihm gebauten Haus hat geschehen lassen.
Die Frage also, wieso die Menschen, die doch Kinder Gottes sein sollen, denn unter dem Bösen leiden müssen, hat Shakespeare im Grunde schon beantwortet, indem er sagt, dass nichts (!) auf der Welt böse sei. Denn das Leid und das Böse sind die einzigen – und insofern zwar quälende, aber „guten“ – Impulse, die in der Lage sind, die Menschen durch eben dieses Leid aus ihrer totalen Selbstbezogenheit im Sinn des Überlebensprogramms in ihnen zu lösen und den einzigen Weg aus diesem Übel zu finden, den der Nächsten-, Feindes- und Allesliebe. Ohne diese harten Breitseiten des Übels würden die Menschen keinen einzigen Schritt aus ihrer egozentrischen, tierischen Lebensweise machen. Sie könnten längst umfassende Versorgung und Sicherheit haben, allerdings unter der Bedingung, das Böse als Verführung, als Provokation zur Höherentwicklung zu durchschauen.
Mephisto ist wie gesagt Bestandteil der Schöpfung, indem er zum „Gesinde des Herrn“ gehört (Faust I, Prolog im Himmel), aber als Diener Gottes nur als Versucher. Er soll dafür sorgen, dass die Menschen sich ausschließlich an den Verhältnissen der materiellen Welt orientieren. Er hat keine (!) eigene Möglichkeit, Schlimmes anzurichten. Sein Job ist es, den Doktor Faust hierzu zu veranlassen.
Das Gegenmittel gegen den Trieb, alles für seine Selbsterhaltung zu tun, ist die Nicht-Selbsterhaltung, das sich aufopfernde Verhalten, also die Hingabe, im Christentum Nächstenliebe genannt. (Dies meint aber keinesfalls die gesellschaftlich Nächsten, also Partner, Kinder, Eltern, Freunde usw., sondern alle (Mt 5,44). Der Grund ist klar, es ist die geistige Einheit wie die der Finger an einer Hand, deren Einheit – und Voraussetzung für das Leben – der gemeinsame Blutstrom ist.
Das Böse ist keine selbstständige Macht, sondern nur Provokateur, der mit göttlichem Einverständnis handelt und der nichts ausrichten kann. wenn man seinem Ruf nicht folgt. Das hat Homer eindrucksvoll am Beispiel der Sirenen gezeigt, die einem nichts tun können, solange man sich ihnen „nicht nähert.“ Aber eben auch Goethe greift diesen Zusammenhang auf: Der zunächst rechtschaffene Egomensch Faust hat es tatsächlich selbst in der Hand, darauf hereinzufallen oder nicht. (Faust ja, Hiob nicht.) Die bösen Menschen mir gegenüber, böse Nachbarn, die Konkurrenten, die Feinde, sind „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Wir haben sie selbst erzeugt durch unsere Nicht-Erkenntnis des Charakters des Bösen. Hätten wir die Erkenntnis, dass sie „von Gott kommen“ und nichts als eine Lektion darstellen, gäbe es sie überhaupt nicht oder sie würden zu Freunden werden oder bald aus unserem Blickfeld verschwinden.
Das Böse wird nicht vom Versucher angerichtet, sondern das erledigen die Menschen schon selbst, weil sie es nicht als Verlockung erkennen, sondern es für bare Münze nehmen, entsprechend reagieren, zurückschlagen und per Bewusstsein damit das Böse erst erschaffen.
Beispiel Flüchtling: Ich erblicke einen Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderen Merkmalen der „Anderheit“ (z. B. einen jüdischen Namen) und empfinde eine Bedrohung, weil ich nicht weiß, dass eine Bedrohung auf Grund der Einheit aller Menschen nichts Reales sein kann und dass Mephisto nur verführen und einem nur die entsprechende Angst oder Gier einjagen kann – wie die Schlange. Aber der Selbsterhaltungsinstinkt ergreift mehr und mehr Raum, und ich entwickle mehr und mehr rassistische Ressentiments, die ich auch nach außen trage. Dadurch wird Rassismus potenziert und schlägt durch auf andere, so dass diese irgendwann anfangen, darauf zu reagieren, und es dauert dann nicht lange, dass die Bedrohung, die nur als Gedankensaat im Kopf aufgegangen ist, zu realer Bedrohung wird, z. B. dadurch, dass die Ausgegrenzten und Diskriminiertem reagieren durch Clanbildung und sonstige Kriminalität. Symbolisch zeigt diesen Zusammenhang das Alte Testament, indem Hiob klagt: „Was ich befürchtete, ist über mich gekommen.“ Verdeutlicht wird diese Falle dadurch, dass die Menschen in Gebieten, in denen solche „anderen“ überhaupt nicht vorkommen, in besonderem Maß anfällig für rassistische Gedanken(!)muster sind. Das innere Böse – also die negativen, angsterfüllten Gedanken – ist nur Verführung. Jeder ist ein Stück weit Don Quixote.
Tue ich jemandem Böses an, tue ich es letztlich kurz- oder langfristig mir selbst an, indem ich mich auf Nicht-Vollkommenheit einlasse, indem ich Gottes Schöpfung – die „sehr gut“ ist – schmähe und so die Nicht-Vollkommenheit sich mittelbar auch auf mich schlimm zurückwirkt. Besonders krasse Beispiele sind der wütende Antisemitismus, der Hass auf den „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ und die Konkurrenz bzw. Feindschaft der Großmächte seit Ende des 19. Jahrhunderts, die insbesondere durch die Folgen der Weltkriege auf die Menschen in furchtbarer Art und Weise zurückschlugen.
Von der Antike bis zur Gegenwart ist es die Aufgabe von Mephisto, uns vom Eigentlichen und Wesentlichen in uns abzulenken und uns so einzuwickeln, dass wir uns auf das Sichtbare beschränken und hier auch noch nur auf das Scheinbare wie das Trojanische Pferd. Das wäre so, als wenn wir unten an einem Wasserfall stehen würden und glaubten, er entspränge aus sich selbst, weil wir den Gebirgsfluss, der ihn erzeugt, nicht sehen.
Ebenso wie in Faust I der „Herr“ und „Mephisto“ sind auch in der Odyssee die beiden Götter Athene und Poseidon scheinbare Gegenspieler, die jedoch zusammen die die Errettung des Helden organisieren. Dem antiken Helden gelingt das, indem er die „bösen“ Freier (Hassgedanken) abschießt, die an seine Geistseele (Penelope) wollen, wohingegen Faust den Verführungen der Materie tatsächlich verfällt.
„In jedem Werk, auch im bösen, …, offenbart sich und erstrahlt … Gottes Herrlichkeit.“
(Meister Eckhart: Nr. 4 von 28 Artikeln, die in der Papstbulle „in agro dominico“) verdammt wurden.)
Buddha war der erste, der das Prinzip aufgedeckt hat, über die Erfahrung des Bösen und über das Erlernen seiner Vermeidung zurückzufinden aus dem Bewusstsein von menschlichem Gut/Böse heraus in dasjenige der Befreiung vom Leid.
Was die Erscheinungsformen des Bösen betrifft, so ist zu ergänzen, dass das Böse allzu oft auch als „Gutes“ (fürs Ego), also als Angenehmes in Erscheinung tritt, so z. B. als Lottogewinn, Erbschaft, Alkoholrausch, Süßes, One-Night-Stands, psychedelische Zustände durch Drogen, usw.
Gut und Böse sind Kriterien des Ego, des materiellen Bewusstseins. Regen ist meist für den Touristen schlechtes Wetter, für den Landwirt gutes. Das Raucherbein ist für den Patienten böse, objektiv ist es aber das allerletzte „gute“ Signal der Seele, bevor es zum Lungenkrebs kommt. Und wenn es sich um etwas handelt, das fast unisono für böse gehalten wird, wie z. B. Krieg, dann wird nicht erkannt, dass Mephisto uns dadurch die DNA des menschlichen Ego in einem selbst vor Augen führen will. Insofern ist das Böse ein Werkzeug, das Leid erzeugt, um aus ihm herauszukommen.
Der „Teufel“ ist seiner altgriechischen Herkunft nach der „diabolos“, der „Auseinanderwerfer“, der das voneinander trennen will, was in Wahrheit eine Einheit ist wie die der Menschen. Das einzige Böse auf der Welt ist das ausschließlich ungeistige, stur materielle Verständnis der Welt, die in Gut und Böse unterteilt, die Einheit der Menschen wie die der Finger einer Hand nicht erkennt und somit urteilt und bewertet. Es ist ein Irrglaube (hinduistisch: Maya), dass mein Feind nicht mit mir in Einheit ist. Ich bin dann „jenseits von Eden.“ Der Teufel in Form des Egoprogramms dient aber wiederum durch den Leidensdruck der Rückkehr in den Idealzustand der Einheit mit dem „Feind.“ Kann man sich vorstellen, dass ein Feldgeistlicher in der Ukraine den Soldaten empfiehlt, auch für die russischen Soldaten zu beten – und umgekehrt? Aber diese christlichen (!) Geistlichen blicken nicht hinter die Kulissen, wie sie es schon immer nicht getan haben. Wem der Tiefblick (Siehe die Schöne und das Biest oder Matrix I beim Endkampf in der U-Bahn) aber gelingt, der hat keinen Feind mehr.
Wir haben den direkten Draht zur göttlichen Führung im eigenen Innern verloren und kümmern uns auch nicht um Wiederherstellung. So sind das Leid und das Böse in der Welt, jede Krankheit, jedes Missgeschick, jede Qual nichts anderes als eine Differenz zwischen dem Bewusstsein über sich selbst als äußere Person und der eigenen spirituellen Identität im Innern. Die Seele drückt diese Differenz durch Protestsignale wie Krankheit oder Zwietracht aus. Es ist zugleich eine harte Aufforderung zum Rückbezug, zur Hinwendung zur göttlichen Seele, um dem Leid zu entkommen. Insofern ist Krankheit zwar eine Störung personaler Harmonie, widerspricht aber nicht der Harmonie der Schöpfung, weil sie ein Instrument der Wiederherstellung der Harmonie der Einheit von Mensch und Innengott ist. Das ist der Grund, warum Meister Eckhart davon spricht, dass das Leid zur Vollkommenheit führt.
Rumi drückt die Funktion des Übels mit folgendem Gleichnis aus:
Ein weiser Mann ritt an einem schlafenden Mann vorbei und sah, wie gerade ein schwarzer Wurm in dessen Mund kroch. Er hielt an und wollte den Wurm verjagen, aber es glückte ihm nicht. Deshalb schlug er den Schläfer mir einer Keule. Dieser wollte den Schlägen entgehen und flüchtete unter einen Apfelbaum. Darunter lagen viele verfaulte Äpfel. Der Reiter zwang ihn, so viele davon zu essen, dass sie ihm aus dem Mund fielen. Dann trieb er ihn weiter. Der Läufer fiel immer wieder hin, seine Füße und sein Gesicht waren mit hunderttausend Wunden bedeckt. Bis zum Einbruch der Nacht trieb der weise Mann ihn hin und her, bis der Läufer erbrechen musste. Alles kam ihm hoch, Gutes und Schlechtes. Der Wurm kam zusammen mit allem anderen aus ihm heraus. Als der Mann den Wurm vor sich liegen sah, fiel er vor dem Reiter auf die Knie und dankte ihm. Alle Schmerzen hatten ihn verlassen.
(Das Matnavi II, 1880-1917)
Dass dieser Eden-Zustand weitgehend sehr wohl in diesem Erdenleben erreichbar ist, wissen alle, die es gewagt haben, diesen Weg bewusst zu gehen. Die ersten legendenhaften Gestalten, durch die der gewaltige Entwicklungsbogen vom existenziellen Tiefpunkt zur Erfüllung gezeigt wurde, waren Gilgamesch sowie Odysseus in Homers Odyssee.
Die nächsten Anhaltspunkte bzw. Wegbeschreibungen lieferten dann die realen Buddha, Mohammed, Jesus und Lao Tse. In diesen Beschreibungen werden die Lebenswege der Protagonisten „vom Zürner zum Dulder“, vom „Otterngezücht“ zum „alles Vergebenden“ beschrieben.
Personen der Neuzeit wie Mandela, Gandhi, Mutter Teresa, Pater Pio, Pater Kolbe, Janusz Korczak und viele andere waren oder sind spirituelle Werkzeuge der Seele wie auch Mary Baker Eddy, Fillmore, K. O. Schmidt, Goldsmith, Walsch, Tolle wie auch viele Ungenannte, die von breiter Öffentlichkeit unbeachtet ihre spirituellen Aufträge als Seher, Heiler, Trainer oder Lehrer segensreich verwirklichen. In der engeren oder weiteren Umgebung eines jeden gibt es solche Erwachten, die mit ihren Schwerpunkten einen oder mehrere Teilbereiche spiritueller Sendung abdecken.
Wenn Jakob Böhme erkennt, dass „… alle Dinge von Gott kommen…“ und somit auch die Möglichkeit des Bösen, so heißt das wie gesagt aber nicht, dass Gott mit dem realen Bösen auf der Welt etwas zu tun hätte. Er hat dem Menschen durch den sogenannten Sündenfall mit dem freien Willen ausgestattet (Gen. 3), wodurch dieser die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse in einer Welt der Gegensätze erhalten hat. Man kann sich tatsächlich entscheiden – zumindest im Prinzip -, das Unwissen über die Ursache des Jammertals zu überwinden und den Weg aus dem Leid zu finden.
Das Ergebnis dieses Weges ist die Befreiung von Angst und Sorge und die Versorgung mit „voller Genüge“, wie Luther es übersetzt hat. Gemeint ist Fülle oder Überfluss, die aber mit Reichtum und Luxus nichts zu tun haben. Der Preis, der dafür bezahlt werden muss, besteht aus vielen Prüfungen u. a. in Bezug auf ständige Vergebung.
Mit dieser Art von Nächstenliebe ist alles andere als die Schönwetterliebe ausschließlich für Partner, Freunde und die Kinder gemeint, die „Bevorzugungsliebe“, wie Leo Tolstoi es in der Kreutzersonate (Kap. 2) sagt. Vielmehr ist es die Alles- und damit vor allem Fremdenliebe, wie es das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zeigt. Es ist die unterschiedslose Liebe, die zur Einheit allen Seins führt.
Zusammengefasst ist das Übel, der „Teufel“, das Schlimme, das Leid alles andere als böse, obwohl es uns so entsetzlich quält: Es ist das göttliche Instrument, das uns aus dem horizontalen Bewusstsein des materiellen Lebens herausholen und in die spirituelle Vertikale bringen will. Denn nur diese Kehrtwendung, wie es wie gesagt das Gleichnis vom Verlorenen Sohn zeigt, führt uns zum Sinn unseres Lebens. Es ist unsere Bestimmung, ein (schon diesseitiges) leidfreies Leben auf der Basis der Einheit mit dem Göttlichen in uns führen zu können. Und da auch nach fünftausend Jahren kaum ein Mensch auch nur auf die Ideen kommt, eben nicht zurückzuschlagen, seinen Innengott zu erkennen („Ihr seid alle Götter!“) , keinerlei Widerstand gegenüber dem Bösen zu leisten („Widerstrebet dem Übel nicht!“), grundsätzlich Vergebung jedem alles zu vergeben („Vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!“) und Feindesliebe zu leben („Liebet eure Feinde!“), gibt es dieses unendliche Leid in unserer Welt.
Und selbst dieses furchtbare Quantum (Weltkriege mit 75 Millionen Opfern, Holocaust und alle möglichen weiteren Völkermorde wie den an den indigenen Völkern Nordamerikas, an den Armeniern, den Tutsis, den Bosniern in Srebrenica, im Sudan, im Südsudan und den Kriegen in Palästina/Israel, im Gazastreifen, in der Ukraine, usw.) bringt die Menschen trotz dieser irdischen Ausweglosigkeit noch nicht dazu, die ausgestreckte Hand der einzigen Alternativ zu ergreifen, die alle (!) Weisheitsschriften anmahnen, : Liebe deinen Gott in dir, deine innere Stimme, den „Vater in dir“, mit all deinen Gedanken und dazu dann deinen (sogar feindlichen) Nächsten wie dich selbst.
Deshalb bleibt Gott nicht dabei, uns diesen spirituellen Weg nur aufzuzeigen; vielmehr sieht er sich offensichtlich dazu veranlasst, uns dorthin zu peitschen. Denn nicht mal die großen Vorbilder wie Mose, Zarathustra, Krishna, Buddha, Lao Tse, Jesus, Mahavira, Mohammed und viele „kleinere“ Propheten wie die der Sikhs, der Bahai, der Manichäer, der Mormonen und anderer haben die Menschheit dazu gebracht, die Rückkehr des Verlorenen Sohnes zu bewirken.
In einer bestimmten Hinsicht allerdings ist das Böse immer richtig böse, nämlich für das Ego. Alles, was dieses an Ungerechtigkeit, Zerstörung und Vernichtung anrichtet, kehrt als Bumerang zu ihm zurück und soll der Zerschlagung seiner Egohaftigkeit dienen, nicht nur der der unzähligen Übeltäter und der Größen aus korrupter Politik, Autoindustrie und MeToo-Showbusiness in allen Erdteilen, sondern des allgemeinen frechen gemeinen kleinen Ichs in jedem.
Auch wenn der folgende Zusammenhang ausschließlich auf der rein materiellen Ebene zum Ausdruck kommt, zeigt er das Prinzip des Leidens: Seine Erblindung war es, die Lois Braille dazu führte, die Blindenschrift zu entwickeln.
Auch wenn es Ausnahmen gibt (Joh. 9,3), so lässt sich die Antwort auf die Frage des Leidens auch so auf den Punkt bringen: Jeder Unfall, jede Gewaltanwendung und jede Krankheit ist eine Botschaft: Sie will dem/den Betroffenen sehr eindringlich sagen, dass eine nachhaltige Befreiung nur mit einer radikalen Kurskorrektur möglich ist: Es geht um eine Erhebung aus der Bewusstseinsstufe der materiellen Sichtweise in die geistige. Diese besteht aus geistiger Selbsterkenntnis („Ihr seid das Licht der Welt“; Mt. 5,14) und der Liebesdefinition der Bergpredigt. (Für die anderen Weisheitslehren gilt entsprechendes wie die Bhagavad Gita, den Koran, den Tanach, das buddhistische Dhammapada, das taoistische TaoTeKing, den Guru Granth Sahib der Sikhs usw.)
Auch die Menschen gehen auf Ursachensuche: Bei einem Patienten mit Raucherbein (nikotinbedingte offene Wunde am Bein, die sich nicht schließt) bemüht sich der Mediziner im Krankenhaus, diese Wunde irgendwie zu behandeln.
Ursache 1: In manchen Fällen weist er den Patienten darauf hin, dass dessen Tabakkonsum für dieses Übel verantwortlich ist.
Ursache 2: Dass diese gesundheitliche Schädigung, eine Art Selbstverletzung, nun wiederum eine Ursache hat, bleibt meist unerwähnt, dass also geraucht wird, um Beruhigung, Genuss oder Stressabbau zu erreichen.
Ursache 3: Werden solche Gewohnheiten zur Sucht (mit 70.000 Todesfällen pro Jahr), sind überwiegend solche Hintergründe verantwortlich wie Vermeidung von Depressionen, Ersatzbefriedigung für andere Probleme im Alltagsleben oder Angstbewältigung.
Ursache 4: Die Ursache für all solche Ursachen, für diese Leerstellen, Drohungen und existenziellen Nöte wird immer und prinzipiell gemieden und bleibt unerkannt. Kein Mensch kommt auch nur auf die Idee, die Ursache für diese generelle Leiden aller Menschen aufzudecken. Die Selbstverständlichkeit, menschliches Leiden grundsätzlich und nachhaltig zu beheben, ist das einzige Thema aller Weisheitsschriften. Aber es bleibt im Alltagsleben der Menschen unbeachtet. Der Grund dafür ist nicht Dummheit, sondern eine Blindheit, die die hinduistische Weisheit Maya nennt. Es ist eine spezifische Disziplin des Selbsterhaltungstriebes, die versucht, alles zu unterdrücken, was dazu führen könnte, den Selbsterhalt zu gefährden, vor allem durch jegliche Bemühung von Fremdenerhalt (Mt. 5,44: Feindesliebe). Alle Religionen warnen vor diesem Programm der Verschleierung. Um den Schleier zu zerreißen gibt es im Christentum solche Beispiele wie das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter oder in der Bergpredigt die Mahnung, „für die zu bitten, die euch beleidigen.“ Aber genau dieser vertikale Weg findet im egozentrischen Bewusstsein der Menschen keine Resonanz. Das Verständnis vom Leben auf der materiellen Stufe ist dasjenige der Selbsterhaltung und deshalb (!) ausnahmslos von Schmerz, Leid und Qual gekennzeichnet. Einzig Bewusstsein und Lebensführung der Erhaltung ausnahmslos aller ermöglichen die grundsätzliche Befreiung vom Leid. Diese erlösende Erfahrung der Lebensführung im Auge des Hurrikans macht jeder, der die Kursänderung aus der materiellen Sicht in die vertikale geistige vollzieht.
Insofern ist das Leid in jeder Ehe, in jeder Nachbarschaft und überhaupt auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens dazu da, uns aus dem ewigen Lügen und Betrügen, dem Hass, dem Neid, dem Geiz, der Bosheit, der Eifersucht, der Gewalttätigkeit zu erlösen, uns von ihm zu befreien. Es will uns aus dem horizontalen Egozentrik-Bewusstsein mit dem damit verbundenen ewigen Leiden herausreißen und auf das vertikale der Ebenbildlichkeit führen, in ein leidfreies Leben.
Genozid: Durch das Böse das Gute schaffen?
Was kann um alles in der Welt an Völkermord „gut“ sein, von dem Mephisto behauptet, dass ein solch Böses „das Gute schafft?“
Durch die Jahrtausende hat das Böse das Leben der Menschen dominiert und sich in Form von Blutorgien (Azteken, Hutus und Tutsis, Nanjing, Auschwitz, Srebrenica, Rohingya und vielen weiteren Beispielen), jahrzehntelangen Kriegen mit unzähligen Opfern, enthemmtem Rassismus wie dem rasenden Antisemitismus nicht erst seit dem 11. Jahrhundert breit gemacht, ohne dass die Menschen daraus irgendeine nachhaltige Konsequenz gezogen hätten. Das Egoprogramm im Menschen bewirkt mehr oder weniger Gefühllosigkeit für die Leiden anderer. Solange die Menschen aus diesen Exzessen keine oder die falschen Schlüsse ziehen, wirken sich die Folgen immer furchtbarer aus.
So müsste doch die Schlussfolgerung aus dem Holocaust sein, dass es sich um einen elementaren Baustein des kollektiven menschlichen Bewusstseins handelt, und zwar mit unzähligen (!) genozidalen Vorläufern. Es wird aber vom Ego in uns unbewusst ängstlich vermieden, das zu erkennen und zu eliminieren. Die Methoden dafür sind im Wesentlichen entweder verdrängen (Stalinismus im Russland) oder Aufarbeitung in einer Form, die vom eigentlichen Problem ablenkt, wie z. B. die Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland, die alles Mögliche beleuchtet, nur nicht das Egoprogramm mit seinen Eigennutz- und Ausgrenzungsprogrammen in jedem Menschen.
Der Alltagsmensch, über den Paulus lästert:
„Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit; und er kann es nicht erkennen“, es muss geistig gerichtet sein.“ (1. Kor. 2,14)
er sieht die Hand im Handschuh nicht, will es auch nicht, und was die geistige Orientierung betrifft, so erwähnt er vielleicht sein Bauchgefühl, kümmert sich aber nicht weiter darum.
Kommen in der Vergangenheitsverarbeitung Krieg und Massenmord zur Sprache, wird allzu oft die Vokabel „sinnlos“ verwendet. Als ob Nazis, Jungtürken, Hutus, Serben, usw. hirnlose Idioten gewesen wären. Aber es ist fürs Egoprogramm im Menschen zu gefährlich, den sehr wohl vorhandenen Sinn hervorzuheben, nämlich das Weghabenwollen von allem, was stört. Es geht ums Ausgrenzen, Ausschalten und Beseitigen. Das Eliminieren gehört zum Alltagsleben dazu: Lehrer wollen Schüler aus ihrer Klasse haben, Eltern wollen Lehrer versetzt haben, Ehemänner lästige Liebhaber, Menschen erschlagen ihre Eltern, um an das Erbe zu kommen, Firmen wollen Konkurrenten entfernen – im günstigsten Fall vertreiben -, Gerichte verhängen Todesurteile und Regierungen wollen andere weghaben („Regime Change“). Das Weghabenwollen gehört zu DNA jedes Menschen. Insofern ist der Holocaust nicht der suggerierte Sonderfall menschlicher Grausamkeit, sondern ein – allerdings quantitativ besonderer – Fall des menschlichen Weghabenwollens. Schon Caesar hat Hunderttausend (!) Usipeter abschlachten lassen, von den Völkermorden in Deutsch-Südwestafrika oder 1915 in Armenien ganz zu schweigen. Hitler äußerte deutlich: „Der Jude muss weg!“ Die Anführer in jedem beliebigen Bürgerkrieg wollen ihren Konkurrenten weghaben und die autokratischen Machthaber in Russland „das Nazi-Regime in Kiev“. Viele globale Wirtschaftsunternehmen wollen ihre Konkurrenten loswerden und kaufen sie im günstigsten Fall auf.
Das Weghabenwollen, Ausschließen oder sogar Eliminieren ist eine – wenn auch unterschiedlich intensive – Konstante im menschlichen Ego. Es kann sich Koexistenz oder gar Kooperation mit Gegnern nicht vorstellen und steht deshalb wort- und besinnungslos vor etwa der Bergpredigt.
Deshalb ist es kein Wunder, dass die Reaktionen auf den Holocaust im Wesentlichen aus moralischen Appellen bestehen, dass „so etwas nie wieder passieren dürfe“ und dass die Nazis an allem schuld seien. Immer sollen es Hitler und seine Nazis gewesen sein (Relative Ausnahmen bilden provokative Bücher wie „Hitlers willige Vollstrecker“ oder „Davon haben wir nichts gewusst.“), aber unser gemeinsames Ego-Programm aus unserem Säugetier-Erbe darf auf keinen Fall ins Bewusstsein rücken.
Hindurchschau als Überwindung des Bösen
Kaum jemand macht auch nur Anstalten, dem Appell zu folgen, nicht zu kritisieren, keine Vorwürfe zu machen, jede Art von Gewalt zu vermeiden, grundsätzlich zu vergeben und die Goldene Regel zu beachten. Wer hat schon einmal erlebt, dass ein Priester, Rabbi oder Pastor seine Gemeinde eingeladen hätte, für Islamisten zu beten. Und zwar nicht als Fürbitte in dem Sinn, deren Aggressivität zu besänftigen, sondern in ihnen den Gottessohn wie in einem selbst zu sehen und ihre Untaten als Steuerung durch das menschliche Egoprogramm zu verstehen.
Das Böse kommt nicht von den Attentätern, Amokläufern oder Massenmördern, sondern durch sie.
Praktizierten wir diesen Blick hinter die Oberfläche, würde die Wirkungsweise des Egoprogramms enthüllt werden und damit seine Verletzlichkeit und Angriffsfläche für das Gegenprogramm, für die Liebe, die unsere Geistseele ist und sich durch das Wort ausdrückt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ So weh es auch tut, die Vergebung gilt auch für die individuellen Massenmörder von Oslo oder Christchurch, auch die LKW-Gewalttäter und triebgesteuerten Messermörder.
Wenn in der Schlussszene des weltberühmten Films „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1930) der pädophile Triebtäter vor dem Tribunal der versammelten Verfolger ausruft: „Ich kann doch nichts dafür!“, dann entspricht das – abgesehen von vielleicht karmischen Vorlasten – der Sachlage: Denn nicht er als Person („Ich“) ist Verursacher seiner Verbrechen, sondern seine übermächtige Triebseele, die ihn dazu gebracht hatte, Kinder zu vergewaltigen und zu töten und dem er sein höheres Bewusstseinspotenzial (Geistseele) nicht entgegensetzen konnte, weil er sie überhaupt nicht kannte.
(Der Verlorene Sohn, der ebenfalls am tiefst möglichen Punkt seiner Existenz angekommen war, verfügte im Gegensatz dazu über die Einsicht in die Alternative der Rückkehr in die Vertikale („Ich will mich aufmachen …!“; Lk. 15, 17 f.), weil er durch die irdische Katastrophe zu seinem Geistseelenpotenzial – „zum Vater„- gefunden hatte.)
Nicht nur unzählige Drogensüchtige kennen die Macht der Abhängigkeit von Nikotin, Alkohol oder Heroin, auch die Begeisterung eines großen Teils der Bevölkerung für die Nazis nach der Weltwirtschaftskrise und für politisch autoritäre Systeme der Gegenwart beruht auf dem menschlichen Ego-Programm, das sich u. a. durch Weghabenwollen und damit verbundener ökonomischer Existenzangst ausdrückt. Für deren Gegenstück, die Bergpredigt (genauer: für deren Umsetzung) ist allerdings eminent wichtig, die Mahnung“ „Erkenne dich selbst!“ zu befolgen. Denn ohne die bewusste Selbsterkenntnis der eigenen Zerbrechlichkeit und Schwäche einerseits (Jesus: „Ich kann von mir aus nichts tun, …“) die das Ego nur allzu gerne durch Imponiergehabe und Großmannssucht überspielt, geht es nicht, aber erst recht nicht ohne die Bewusstmachung des eigenen göttlichen Potenzials, wie Jesus es betont: „Ihr alle seid Götter!“ (.Joh. 10,34) sowie „Ihr werdet noch größere Dinge vollbringen als ich!“ (Joh. 14,11)
Es geht darum, den bösen Mitmenschen (Chef, Flüchtling, böser Nachbar usw.) zu verstehen als faktisch wehrloses Opfer des Egoprogramms, das ihn beherrscht. Das setzt voraus, den Gottessohn im eigenen Innern und in ihm zu erkennen. Dieser Stalker, Nebenbuhler, Konkurrent, böser Nachbar – was für ein Aggressor auch immer – provoziert uns solange, bis wir ihm direkt ins geifernde Gesicht schauen können und uns dabei nur noch auf die milde lächelnde göttliche Seele in ihm – und in uns – konzentrieren. Dann bricht die tobende Oberfläche zusammen. Das ist das Entscheidende: In dem Moment unseres Hindurchblicks beginnt die Harmonisierung des Problems.
„Gott sieht die Person nicht an“, sagt u.a. die Apostelgeschichte. Poetischer bringt es Antoine de Saint-Exupery im „Kleinen Prinzen“ zum Ausdruck: „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“
Der Feind ist in gewissem Sinn unser Retter. Damit ist nicht nur die einzelne Situation gemeint, sondern vor allem unser gesamter Lebensauftrag. Ohne die Überbringer des Bösen, die Krankheiten, die Angreifer, die Kleingeister, die Diebe, die Rassisten, usw. würden wir immer und ewig im Jammertal stecken bleiben, im mentalen Gestank von Angst, Wut und Hass. Sie sind eine Gottesgabe, eine bittere Pille, die uns die Chance bietet, die Wahrheit zu erkennen und zu verwirklichen. Nur durch sie können wir uns heilen, wenn wir endlich hinter die Oberfläche schauen würden.
Dass nun der Teufel der Retter sein soll, „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, dürfte den Kirchen wenig gefallen. Denn sie beziehen einen Teil ihrer Existenzberechtigung aus ihrem Vorkämpfertum gegen diesen scheinbar unabhängigen Feind, der es nämlich ist, der ihrer Auffassung nach das Böse schafft. Die Suche nach einem Sündenbock lässt grüßen. Aber Luzi-fer, der Licht-träger, bringt tatsächlich das Licht.
Nicht die Personen sind das Übel, sondern unser falsches Verständnis von ihnen und dem Konzept der Schöpfung. Man muss das Böse von der Person, die es transportiert, trennen, so wie man den Überbringer der Botschaft von ihrem Absender trennt. Der Träger des Bösen ist nicht das Böse. Insofern sind die Despoten dieser Welt nicht Quelle des Bösen, sondern sein Symptom – und zwar Symptom unserer kollektiven Sicht dessen, dass wir Böses für böse halten. Die Rolling Stones haben ansatzweise versucht, dies durch ihren Song „Sympathy for the devil“ auszudrücken.
Insofern ist das Böse das im höchsten Sinn Gute. Das versucht Meister Eckhart dadurch zum Ausdruck zu bringen, indem er wie gesagt vom schnellsten Tier zum Guten spricht. Aber für das Ego ist das Böse natürlich deshalb schlecht, weil jeder Konkurrent, jeder Feind, usw. die Absicherung auf dem egozentrischen Weg der Nicht-Nächstenliebe und Nur-Eigenliebe stört. Deshalb kämpft es mit Klauen und Zähnen gegen jedes „Unkraut.“
Man kann das Böse nicht vernichten, weil es komplementäres Ergänzungsstück zum Guten im Reich von Gut und Böse ist, ebenso wenig, wie es eine Münze mit nur einer Seite gibt. (Die altpersische Religion des Zoroastrismus deutet das an, indem sie dem guten Gott einen bösen zwar entgegen(?)stellt, diese beiden aber immerhin zu Zwillingen (!) erklärt.) Man kann das Böse aber überwinden, indem man sich darüber erhebt, also die materielle Dimension im Bewusstsein verlässt. Das bedeutet, man sieht über es hinweg bzw. durch es hindurch (ohne den Kopf in den Sand zu stecken), indem man das Göttliche dahinter erkennt und es so nicht ins Bewusstsein lässt. Man lässt, um es mit einer Terminologie aus dem Christentum zu sagen, neben dem Weizen das Unkraut einfach wachsen, ohne zu versuchen, es auszureißen. Dann löst es sich in der individuellen Umgebung auf, weil es eine Sache des Bewusstseins in mir ist und nicht eine der Erscheinung vor mir.
Rassismus: Ausdruck des Selbsterhaltungsinstinktes
Für das Ego im Menschen ist die Nicht-Einheit der Menschen sein Prinzip, die Nicht-Brüderlichkeit, die Nicht-Gleichheit, die Nicht-Integration. Sie äußert sich in jeglicher Form der Ausgrenzung unter Anwendung von Gewalt. Das fängt schon auf dem Schulhof und im Klassenraum an. International zeigt sich der Faktor Fremdenfeindlichkeit z. B. an der Ausdehnung der Ausgrenzer-Kräfte in ganz Europa und Nordamerika. Das führt irgendwann in seiner entfesselten Form zu Brandstiftung und Mord. Die Formen sind quantitativ unterschiedlich. Es gibt erst einmal rassistische Wortwahl vom Nazi-Jargon des „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ bis zur gegenwärtigen „Durchrassung“, „Viehzeug“, „Lumpenpack“, „Invasoren“, es gibt Bananenwürfe aus der Fankurve auf dunkelhäutige Fußballer usw., es gibt dann Hakenkreuzschmierereien, Grabschändungen, Rassenwahn in den USA, nicht nur durch den Ku-Klux-Klan und schießwütige Polizisten, sondern alltäglich und überall, die Verfolgung von Homosexuellen (sogar als Parteidoktrin in Osteuropa), das Anzünden von Flüchtlingsheimen und schließlich das Morden. Es ist das Ausgrenzen und Verfolgen von Menschen aus Angst um den Selbsterhalt und Unkenntnis der Einheit mit ihnen.
Die Menschen, die Flüchtlinge jagen, Hassmails versenden oder seriell Morde begehen (NSU), sind unbewusst ihrem Drang nach Selbstschutz (Breiviks Angst vor der Islamisierung Europas) und ihrer tiefsitzenden Angst vor „anderen“ und damit ihrem eigenen Selbsterhaltungstrieb erlegen. Sie sind nicht anders als wir alle anderen, die denselben unterschwelligen Programmattacken ausgesetzt sind. Nur durch günstige kulturelle und soziale Privilegierung kommen bessere Frustrationstoleranz und größere Empathie zustande. Hass auf andere, eigene Aufwertung durch eben diese Abwertung und das Weghabenwollen sind auch bei allen anderen, d. h. bei uns, nicht grundsätzlich abwesend.
Rassismus durchsetzt – schon immer – die gesamte Menschheit bis in die höchsten Kreise, Nicht-Teilen-Wollen erst recht, wenn wir den Umfang des Geldversteckens betrachten, das Erkämpfen von Vorteilen auf Kosten anderer, Geschwisterkrieg bei Erbstreitigkeiten, Kämpfe bis aufs Blut um die Kinder nach Ehescheidung usw., Prasserei, Habgier nicht nur bei Bankern und Vorständen, usw. sind an der Tagesordnung und ein Abbild dessen, was das Ego im Menschen im Alltagsleben alles anrichtet.
Wenn es den Einfluss der Seele, unserer Intuition als Gegenpart zum falschen Welt- und Selbstverständnis im Menschen nicht gäbe, hätten wir uns schon längst selbst vernichtet.
Wenn ich im islamistischen Attentäter, dem Wohnungseinbrecher oder dem Hassmailversender nicht meine geistige Einheit mit ihm erkenne, werde ich immer und grundsätzlich unter der Bedrohung durch ihn leben müssen.
Das Gegenbeispiel zeigt symbolisch der Film „Die Schöne und das Biest“, in dem die Schöne sich nicht von der abstoßenden Erscheinung des Ungeheuers schrecken lässt, Liebe und Verständnis zu seinem inneren Wesen aufbaut und schließlich im Showdown durch ihren Kuss den Prinzen in diesem Monster erlöst und ihre Erhöhung gewinnt.
„Liebet eure Feinde, tut wohl [im bewussten Erkennen der geistigen Einheit] denen, die euch hassen … “ (Bergpredigt)
Alles, was wir mit einer Person verbinden (anders, dumm, gefährlich, usw.), kommt auf uns zurück. Wenn wir glauben, dass es sündige Menschen gibt, dann wird es eben sündige Menschen um uns herum geben, und dann werden deren Handlungen auch uns betreffen, denn „…was der Mensch sät, das wird er ernten.“
Dass die eigene Furcht durch ständig auftretende äußere Missstände ausgelöst wird, macht die ganze Sache schwierig und tragisch und zeigt unsere relative (!) Schuldlosigkeit durch Unwissenheit, wie der Buddha letztere hervorgehoben hat. Ein erster praktischer Schritt in der Bewusstwerdung ist die mentale Übung, ein gewisses Verständnis für die Feinde als Überbringer des „Bösen“ zu entwickeln, weil sie eben nur dessen Boten sind, nicht aber diese Eigenschaft selbst haben.
Unsere Seele verwendet die Bosheit anderer, um uns die Notwendigkeit zu zeigen, sie von der Person zu lösen und sie als eine Art Gesamtpsychose zu erkennen, von der alle befallen sind. Nur dann gelingt es, Verständnis für böses Verhalten aufzubringen. Das ist der Sinn eines der größten je ausgesprochenen Worte: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Die Menschen aber personifizieren immer. Sie schreiben dem Menschen Verantwortung zu, obwohl nicht er sie trägt, sondern seine verdeckte Steuerung. Das Egoprogramm tut aber alles, um genau diesen Zusammenhang zu verdecken. Erlösung kann es nur geben, wenn man es aufdeckt, „täglich stirbt“ eben.
Die biologische Säugetier-Natur des Menschen
Zu bedenken ist, dass der menschliche Egoismus unserer Stammesgeschichte entspringt: Das Böse, also Handeln aus Eigennutz und Empathiefreiheit wegen des Selbsterhalts, kommt aus der Software unserer biologischen Ausgangsbasis, des (Säuge-)Tiers: Revierverteidigung, Aufplustern vor Weibchen, Flucht oder Angriff bei Bedrohung, Paarungstrieb, Lebensraumeroberung, Hierarchiekämpfe, Unkenntnis eines Gesamtwohls, usw. Es sind alles biologisch tierische Erbfaktoren. Insofern ist das Böse im ursprünglichen Sinn des Wortes „natürlich“, also aus der biologischen Natur, und das geistige Gute insofern nicht aus dieser biologischen Herkunft, also „un-natür-lich.“ Das ist es, was uns daran hindert, göttliche Prinzipien (z. B. die Goldene Regel) zu beachten. Paulus nennt das folgerichtig den „natür-lichen“ Menschen. Noch einmal der Apostel: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Torheit.“
Die samaritanische Fremdenliebe der Bergpredigt (bzw. die Existenz der Geistseele als Intuition) ist die einzige Eigenschaft, die den Menschen vom Tier abhebt. Insofern sind das Anzünden von Flüchtlingsheimen und das Ausgrenzen von „Andersartigen“ biologisch gesehen unsere „natür-lichen“ Säugetierimpulse, so wie Revierinhaber ihre Konkurrenten wegbeißen. Deshalb ist wahres Menschsein, gegen diese tierischen Impulse zu handeln, gegen unsere Säugetiernatur, die Goethe im Faust als „tierischer als jedes Tier “ charakterisiert (Auerbachs Keller), denn Tiere errichten keine Konzentrationslager. Die Überwindung des ausschließlichen natür-lichen Selbsterhaltungstriebs ist das Thema aller Weisheitsschriften. Nicht die irdische Säugetiernatur ist Vorbild für spirituelles Handeln (die sinnlosen Versuche, „die Welt ein Stück besser zu machen“), sondern das spezifisch Menschliche, unser göttliches Bewusstsein, das wir manchmal „Gewissen“ nennen. Es geht um das Knebeln des egoistischen Selbsterhaltungstriebes und die Entfaltung der hindurchblickenden Liebe über die Bevorzugungsebene hinaus.
Der freie Wille
Haben wir die Fähigkeit, uns zu entscheiden, gegen unsere tierische Natur zu handeln. Für Luther sind das Gute und das Böse gegensätzliche Kräfte, die um die Menschheit kämpfen, und das gilt für die Kirchen heutzutage mehr oder weniger immer noch :
„Wenn Gott sitzt, will er und geht, wo Gott will … Wenn der Satan sitzt, will er und geht, wo der Satan will.“ (De servo arbitrio, Weimarer Ausgabe 18, 635)
Er behauptet damit, dass der Mensch eine Art Spielball bei der Entscheidung zwischen Gut und Böse ist und keinen freien Willen hat. Damit verkennt er dessen Entscheidungsposition am Mischerhebel, reduziert ihn auf eine Marionette und setzt ihn mehr oder weniger mit einem Tier gleich, zwar mit erweitertem Bewusstsein, aber von seinen Instinkten gesteuert. Das stimmt zwar in der Realität weitgehend, aber die Erfahrung zeigt, dass der Mensch in Eigenverantwortung allmählich auf das Ablegen seines tierischen Ichs hinarbeiten kann.
„Wer sich bemüht, den können wir erlösen.“ (Goethe, Faust II, Kehlen)
Durch ständige und wiederkehrende Konfrontationen mit den Wendepunkten, d.h. in den täglichen Entscheidungssituationen zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe, wird der Mensch durch die schmerzlichen Bumerangs aufgrund seines Ego-Verhaltens in diesen zunehmend zurückhaltender, in den mitmenschlichen Reaktionen aber gestärkt. So kann er lernen, vor allem durch diese schweren Lebenskrisen, den Ego-Impuls so weit zurückzudrängen, dass ihm die Kraft seiner Seele immer bewusster wird. Dann kann er immer klarer entscheiden, ob er die Berührungen der Seele annehmen oder ablehnen will. Luther scheint die Frage, ob Gott oder Satan beim Menschen sitzt, davon abhängig zu machen, wie sich der Kampf zwischen Engel und Teufel um den betreffenden Menschen irgendwo da oben abspielt . Er gesteht dem Menschen allenfalls insofern einen Anteil zu, als er die Unbedingtheit des Glaubens zum Maßstab des Glaubens macht. Aber Glaube ohne Verstehen und Bestätigung durch konkrete Erfahrungen ist blind. Deshalb glauben alle möglichen Menschen in alle möglichen Richtungen und schlagen sich deshalb sogar die Köpfe ein. Sie glauben an Auslegungen, die selbst innerhalb der Konfessionen sehr unterschiedlich sein können. Ihr Gott ist ein von ihnen erdachter Gott.
Luther und überhaupt die Kirchen haben ein Verständnis vom Bösen, das den Teufel als Gegenmacht erscheinen lässt, statt die gemeinsame Grundlage der Gegensätze zu erfassen. Eine Dualität widerspricht aber der Allmacht Gottes. Sie widerspricht dem Gebot „Du sollst keine… anderen Götter haben neben mir“. Denn Gott wird hier als Synonym für Gesetzgeber verwendet, und eine andere Instanz der Macht kann es nicht geben. Gut gelingt dies dem Regisseur George Lucas, der in seinen Star-Wars-Filmen nicht von dunkler Macht, sondern von der dunklen Seite der Macht spricht. Er drückt nicht die Dualität (Unvereinbarkeit), sondern die Polarität (Einheit der scheinbaren Gegensätze) aus, wie es die alten chinesischen Weisen mit dem Ost- und Westhang des Berges taten.
Wenn Mephisto zu den „Dienern des Herrn“ gehört, dann bedeutet dies, dass auch unser Ich-Programm zur Einheit der Gegensätze gehört, so wie der Minuspol zum Pluspol der Batterie gehört. Deshalb wird für den Selbsterhaltungstrieb auch gelegentlich der Begriff „niedere Seele“ verwendet. Ohne ihn gäbe es kein Erlösungswerk. Deshalb spricht Jacob Böhme davon, „dass alles (!) von Gott kommt“.
In dem Film „Der freie Wille“ kann der Sexualstraftäter nicht wählen, ob er Böses tut oder sich bewusst dagegen entscheidet. Er wird als ausführendes Organ seines Instinkts dargestellt, dem er ausgeliefert ist. Wie lässt sich also der Widerspruch zwischen freiem Willen und Triebsteuerung aufklären? Normalerweise folgt ein Schlafwandler ein Leben lang den Selbsterhaltungsimpulsen des Egos. Ein Aufwachen in eine vertikale Richtung ist (fast) nur durch den schmerzlichen Impuls nach starken Schicksalsschlägen möglich. Daraus folgt, dass sich ohne den Impuls von Krisen sich der freie Wille nicht entwickelt.
Jesus zeigt im Garten Gethsemane (Mt. 26), dass der Mensch sehr wohl eigenständige Richtungsentscheidungen hinsichtlich der Umorientierung auf das geistliche Leben treffen kann: Zunächst zögert er noch, ob er die Flucht ergreift oder den Kelch nimmt. Dabei wird er von seiner inneren Stimme („der Vater in mir“) nicht gezwungen oder bedroht, ihr zu folgen. Er hat sich in diesem Fall bewusst dafür entschieden, ihr zu folgen.
Eine irdische Parallele zur Entscheidungsfreiheit ist die Souveränität der Wähler in modernen Demokratien, wo das Volk seine Macht ausübt, indem es sie seinen Vertretern überlässt.
Allerdings scheint klar zu sein, dass die endgültige Entscheidung, wie weit einem Anklopfer aufgetan wird oder nicht, nicht in der Hand des Menschen liegt. Es gibt genügend weise Aussagen, die besagen, dass der Gott im Inneren sich dies vorbehält. Aber Entscheidungen zum „sich bemühen“ sind in fast (Jeanne d‘Arc) jedem Fall eine Voraussetzung, um sich dem großen Ziel zu nähern, vielleicht nicht nur innerhalb einer einzelnen Inkarnation. Die Erfahrungen der Lebenskrisen sollen und können zum Beschreiten des steilen und schroffen Weges des spirituell vertikalen Weges führen.
Im Gegensatz zu Luthers Satansinterpretation beschreibt Homer das Böse als Bruder des Götterfürsten, als Gott (!) des Meeres (Das Meer wird bei Homer als Symbol für das irdische Leben mit seinen wechselnden Winden, Flauten, Stürmen und Unberechenbarkeiten verstanden. Im Märchen ist es oft der Wald). Athene, Symbol der göttlichen Geistseele im Menschen, ist für die Begleitung und Führung im geistigen Leben zuständig und Poseidon spielt – ähnlich wie Mephisto – die Rolle des Prüfers, der die Prüfungssituationen organisiert. Homer hebt die beiden göttlichen Pole („Plus“ und „Minus“) des geistigen Weges in ihrer scheinbaren Dualität deutlich hervor. Poseidon erreicht die Erleuchtung des Odysseus gerade durch die schrecklichsten Gefahren, in die er den Helden führt. Hier ist das Böse immer Teil des Schöpfungskonzepts, immer der Motor des Erlösungsprozesses vom Leid.
Empirisch gesehen gilt für die meisten Menschen, dass die Chancen, das Ego bewusst und frei abzuschütteln, gering sind, weil das universelle Ego noch übermächtig präsent ist. Aber mit der heutigen Entwicklung des Wissens und der Spiritualität ist es zunehmend möglich, aus ihm auszubrechen.
Die Tatsache, dass die Konditionierung durch den Selbsterhaltungstrieb tatsächlich weitgehend vorhanden ist, bedeutet nicht, dass wir im Tierprogramm bleiben müssen. Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die sich selbstlos und aufopferungsvoll für andere einsetzen, oft unter Einsatz ihres Lebens: Ärzte ohne Grenzen, Flüchtlingshelfer, Whistleblower, die ihren Kopf hinhalten, Entwicklungshelfer in Kriegsgebieten, usw., wenn auch ohne spirituellen Bezug. Obwohl wir normalerweise automatisch im Selbsterhaltungsmodus handeln, können wir lernen, uns auf eine wechselseitige Kommunikation mit unserer Seele vorzubereiten. Wir üben uns darin, unsere spirituelle Natur, unser Seelenpotenzial, unsere wahre Identität bewusst wahrzunehmen. Das Ergebnis wird u. a. durch Hiob symbolisch dargestellt, der nur durch den direkten Dialog mit seinem höheren Selbst, d. h. durch spirituelles Bewusstsein (das „Reich Gottes“) Erlösung und Erleuchtung findet.
I am the master of my fate (Henley)
Das Böse bereitet den Weg zum absolut Guten. Faktisch führt nur das Böse – durch den Leidensdruck – zum erforderlichen Bewusstseinswandel, also zur „Feindes“liebe (siehe Kapitel 7), die nichts anderes ist als die Erkenntnis der gleichen göttlichen Identität im anderen Menschen. Und Vergeben bedeutet das Reinigen des eigenen Bewusstseins von negativen Elementen durch Verständnis („…wissen nicht, was sie tun“) und Erkenntnis der Einheit mit dem „Biest.“ Reinigung bedeutet, etwas als Böses Empfundenes (vom Ego) als in Wirklichkeit Gutes in Richtung Höherentwicklung zu verstehen. Man kann Shakespeares Hamlet nicht oft genug wiederholen: „Nichts ist an sich weder gut noch böse. Das Denken macht es erst dazu.“
Dies macht Jesus durch die Geschichte mit der Ehebrecherin deutlich, indem er ihr Verhalten nicht in gut oder schlecht einteilt. Er vermeidet Personifizierung, erkennt ihr Verhalten als Triebsteuerung und schreibt es nicht ihrer Person zu. Er erklärt ihren Ehebruch als Lernsituation. Der Fehler soll nach ihrer Einsicht (Reue) zu seiner künftigen Vermeidung und zur Höherentwicklung zum göttlich Guten führen, in dem es nichts menschlich Gutes und nichts menschlich Böses mehr gibt. Diese entscheidende Wendung im Denken führt zur Befreiung aus unseren Mangel-, Sorge-, Wut- und Angstverhältnissen. Wenn wir nichts Böses mehr bei Asylbewerberheimen, Flüchtlingen, Erkrankung, Arbeitsplatzgefährdung, Intrigen gegen uns, Pleiten, Scheitern von Beziehungen, usw. mehr denken, kann es nichts Böses um uns herum mehr geben.
Wir selbst sind der Gesetzgeber, sozusagen der Schöpfer unseres Lebens und sitzen am Umschalthebel zwischen Vergebung und Rache. Das „Böse“ um uns herum will uns weismachen, dass es Böses außerhalb unseres Seins gäbe. Es tritt zwar Böses außerhalb unseres Seins auf, aber wenn es uns trifft, dann ist das nur Ergebnis bzw. Folge unseres eigenen Bewusstseinszustandes, also dass wir es als solches interpretieren und nicht hinterfragen. Deshalb kann man sagen, dass der, der reagiert, eben dadurch wertet und damit in Gut und Böse unterteilt. Dann ist eine weitere Zunahme des Leidens ein Indikator für die Verhärtung der Lebensweise, dass „mein Wille geschehe“, anstatt dass „Dein Wille“ geschehe. Das Böse ist nicht um uns, sondern als unverbindliches Angebot in uns. Es existiert überhaupt nur auf Grund unserer Abtrennung von unserer Seele. Es ist das, was wir aus ihm machen. Insofern ist das Böse in der Welt etwas Bedingtes. Schwindet das Böse in uns, schwindet es um uns herum. Existieren kann es nur, wenn und solange wir Böses im Bewusstsein haben. Dabei ist „böse“ bereits zu verstehen als nicht-spirituell: Warum sterben Mütter im Kindbett, warum kommen Menschen trotz einwandfreier Lebensführung in einem havarierten Bus, Auto, Zug oder Flugzeug ums Leben? (Joh. 15,6) Mit einer Rückbindung an ihre Seelenkraft würde ihnen das kaum passieren. Deswegen sagt der Nazarener, dass der, der ohne spirituelles Bewusstsein bleibt, „…wird weggeworfen und verdorrt.“ Leiden heißt Verneinen dessen, was ist und Verdrängen höherer Führung. Das Bejahen alles Gegenwärtigen (siehe Hakuin, Kapitel 20) heißt Zulassen unserer Seelenkraft und tägliches Sterben des Ego und des Leidens.
Sehen wir über das Böse in dir und in mir hinweg, setzt sich die Seele durch und der Anteil des Bösen (ver)schwindet. Insofern gibt mir der Zustand meiner Umgebung Aufschluss über den Zustand meines Bewusstseins. Jede meiner üblen Erfahrungen ist nichts anderes als ein Bewusstseinselement aus meinem eigenen Denken. In meiner Umgebung gibt es so viel Böses, wie es Böses in meinem Bewusstsein gibt. Ein Mensch mit Füllebewusstsein ist sogar im Gefängnis und überhaupt in allen schlimmen Situationen geschützt, angstfrei und geborgen.
Bei einem erlittenen Unrecht denkt jeder Betroffene, dass andere ihm dies angetan haben und keilt zurück. Tatsächlich ist es aber die Quittung für das Unrecht, das er jeden Tag jedem anderen antut, indem er ihn als defizitäre Person und nicht als vollkommenen Gottessohn ansieht. Das tut er vor allem auch sich selbst an. Der Zustand unserer Welt ist Auswirkung des Zustandes unseres individuellen und kollektiven Bewusstseins in seiner Zusammensetzung von Gutem und Bösem. Insofern ist es prinzipiell sinnlos, gegen äußeres Böses zu kämpfen, solange man sich nicht primär mit den bösen bzw. falschen Anteilen im eigenen Bewusstsein auseinandersetzt. Was uns außen begegnet, ist immer Ernte einer Aussaat von Bewusstsein. Es kommt immer nur darauf an, womit wir es füttern. Erst das Denken als Einteilen in Gut und Böse erzeugt es.
Jeder, der leidet – egal, ob unter hohem Blutdruck, unter Missbrauchstrauma, unter Arbeitslosigkeit, was auch immer -, macht den folgenden Fehler: Er konzentriert sich auf das Leid anstatt auf seine göttliche Identität als Gottessohn; er stürzt sich auf die Problembekämpfung anstatt auf den Problemlöser. Er will nicht nach innen gehen und auf die Hinweise zum Lösungsweg warten. Der irrige Glaube, das Böse ausreißen zu können wie das Unkraut, das immer direkt neben dem Weizen wächst und das dann eben nicht mehr da sein soll, beherrscht das Denken der Menschen. Das Verständnis wird dadurch erschwert, dass das Ausreißen oft eine Zeit lang scheinbar funktioniert. Noch blinder ist das konsequente Übersehen der Tatsache, dass es dann doch nicht funktioniert und dazu der Bumerang mit vervielfachter Schärfe zurückschlägt. Klassische Beispiele auf globaler Ebene sind der Ausgang des Vietnamkrieges für die Amerikaner, der des Afghanistankrieges für die Sowjets, der Irakkrieg für die Amerikaner, usw. Im Alltag vergiftet ein erbitterter Krieg um die Kinder bei einer Scheidung das eigene psychische Wohlbefinden ein ganzes Leben lang. Der Hass auf Flüchtlinge und das Produzieren von Gift im Shitstorm verdirbt die eigene Fähigkeit zu Freude und Liebe.
Das Leid ist dazu da, uns den Impuls zu verabreichen, sich zu fragen, wozu Leid existiert und wie man sich grundsätzlich von Leid bzw. Bösem befreien kann. Es gab das Böse schon immer, und es gab auch schon immer Menschen, die den Ausweg zeigten. „Widerstrebet dem Übel nicht.“ Und der bestand nie aus blindem Widerstand oder blinder Rache von Buddha bis Gandhi und Mandela.
Sich die Erde untertan machen
Spirituelle Wirksamkeit gibt es nur dort, wo sie bewusst erkannt wird. In den Kriegen in Syrien, der Ostukraine, während der Vertreibungen in Myanmar, in den Flüchtlingsbooten, usw. hätten beliebig viele Menschen ein Schild mit dem Ausruf „Gott, wo bist Du?“ hochhalten können: Da war keine Gotteswirksamkeit. In unserer Umgebung ist so viel Gott wirksam, wie Gott in unserem Bewusstsein ist: Also meist nicht viel. Da war kein Gott während des Amoklaufs, weil kein Gott im Bewusstsein der Beteiligten war. Ein Soldat mit spirituellem Bewusstsein würde durch Fügungen gar nicht erst an die Front ins große Sterben gekommen sein.
„Sorgt nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, … euch wird solches alles zufallen.“
Die Art der Überwindbarkeit des Jammers hat der Buddha schon vor zweieinhalbtausend Jahren in seinen „Vier Edlen Wahrheiten“ gelehrt. Siddhartha erkennt, dass das menschliche Leben per se leidvoll ist. Der Buddha, der die Unwissenheit für das Leid verantwortlich macht, sagt weiterhin klar aus, dass das Leid, das Böse, das Übel, überwunden werden kann und zeigt den Weg, den sogenannten Achtfachen Pfad, der in vielerlei Hinsicht den Prinzipien anderer religiöser Systeme ähnelt.
Dass man dem Bösen entrinnen kann, hat einige Jahrhunderte später der griechische Philosoph Plotin wiederholt. Beide betonen, dass wir dasjenige erreichen, was wir im Bewusstsein verankern: Deswegen gibt es so viele erfolgreiche Verbrecher und ebenso viele erfolglose Heilige oder Genies. Es kommt eben auf die Ausrichtung an: Mangel- oder Füllebewusstsein. Das ist aber nicht horizontal gemeint wie z. B. in der Denkschule des „positiven Denkens“, also menschlich böse oder menschlich gut, sondern vertikal, also irdisch (gut und böse) oder spirituell (absolut gut). Auch die verbreitete absurde „Bestellung beim Universum“ ist Ausdruck von einem Bewusstsein des Mangels und insofern kontraproduktiv, und zwar meist nicht sofort, aber immer unterm Strich.
„Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Auffassungen (!), die wir von den Dingen haben.“
(Epiktet: Handbüchlein 5, Lehrgespräche 2)
Von unseren Bewertungen bzw. Denkmustern hängt es ab, wie viel Unvollkommenheit es in unserem Leben gibt. Denken wir materiell, kommt Gutes wie Böses auf uns zu. Denken wir spirituell – gemeint ist die Bewusstmachung der Göttlichkeit in uns – verabschieden sich (menschlich) Gutes wie (menschlich) Böses aus unserem Leben. Gelingt es uns, alles sinnhaft zu finden, auch wenn es unbequem, unangenehm, niederschmetternd, entsetzlich, usw. ist, dann wird in unserem Leben alles harmonischer werden und das Negative schwindet, weil es aus dem Bewusstsein schwindet. Deshalb ist spirituelle Lebensführung zunächst nicht ein Kampf gegen Personen oder Zustände, sondern in erster Linie gegen die negativen Gedankenattacken und zum Negativen verführende Denkmuster im eigenen Bewusstsein – wie zum Beispiel der schrankenlose Konsum von Krimis im TV. Wenn ich das Scheitern meiner Ehe, den Wohnungseinbruch, meinen Bandscheibenvorfall, mein Dauer-Hartz 4 als Mangel anstatt als Weckruf betrachte und Flüchtlinge als Verursacher von Mangel und Bösem verstehe, werde ich genau das ernten, was ich ausgesät habe, nämlich Mangel. Es ist eine Spirale, weil ernten eben bedeutet, dass man ein Mehrfaches dessen zurückerhält, was man ausgesät hat.
Wir müssten doch wissen, wohin es führt, wenn wir individuell und vor allem kollektiv das Mangelbewusstsein auf äußere Umstände zurückführen und Sündenböcke verantwortlich machen: „Jüdischer Parasit“, „bolschewistischer Untermensch“, Die sechzig Millionen Tote und ein Land in Trümmern nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen eine deutliche Sprache. Heute sind es „muslimische Invasoren“, „chinesische Viren“, usw.
Wenn ich schwer erkranke, habe ich die Wahl, ob ich im Bewusstsein gegen sie opponiere oder mich überwinde, die Krankheit zu lieben. Das heißt nicht, Freudensprünge zu vollführen, sondern sie als Weckruf zu verstehen und mich vertrauensvoll in die Obhut meiner Seele zu begeben: „DEIN Wille geschehe!“ Dann fängt sofort die Harmonisierung an und ich werde weise geführt, und zwar auf die richtigen Wege. Ich erfahre, ob, wann und an wen ich mich wende und die Heilung kommt dann auf mich zu, anstatt dass ich ihr hinterherjage. Wir müssen diese Selbstläuterung vornehmen, den Hebel umlegen, denn sonst geht es immer so weiter.