Selbsterhaltung
Allem Lebendigen ist der Selbsterhaltungstrieb eingepflanzt. Bei allen lebendigen Existenzen ist er unreflektiert, nur beim Menschen bewusst – mehr oder weniger. Dieser Trieb ist die Grundlage für all sein Tun und Lassen. Xenophon schreibt, dass „die Lebewesen von einem Schöpfergott planvoll mit einer Begierde nach Leben und einer Furcht vor dem Tod ausgestattet“ seien (Siehe Töpfer, Georg: Historisches Wörterbuch der Biologie, Band 3). Er führt dazu weiter aus, dass zur Verankerung dieses Triebs die „Lebensfunktionen wie Ernährung und Schlaf mit einem Lustgefühl verbunden“ seien.
Dieses Prinzip zeigen ebenfalls die in einem gewissen Maß vorhandenen Selbstheilungskräfte des Körpers. Was den Neandertaler und schon seine Vorfahren betrifft: Was wären sie – und wir – ohne den Antrieb zur Selbsterhaltung? Auch die Tiere und die Pflanzen sind um ihre Erhaltung bemüht und verfügen dazu über alle möglichen Strategien der Gefahrenabwehr.
Mit der Überlebenssoftware kommt jeder Steppenlöwe auf die Welt. Er geht auf Nahrungssuche, pflanzt sich fort, spielt, lernt, ruht sich aus und kämpft gegen interne und externe Konkurrenten. Aus diesem Programm des Verhaltens kann er nicht ausbrechen, er ist darauf festgelegt.
Der Mensch unterscheidet sich vom Löwen dadurch, dass er über den Selbsterhalt hinaus ein zweites Programm in sich trägt, das des Überlebens auch der anderen, des Dienens, der Uneigennützigkeit. Dabei bezieht sich diese Eigenschaft keinesfalls auf die scheinbar selbstlose Hinwendung zu Partnern, Eltern, Kindern, Freunden usw. Denn diese primär nichts anderes als erweiterte Selbstliebe und Selbstabsicherung: Die Mitglieder eines Löwenrudels kümmern sich hingebungsvoll umeinander, aber keinesfalls um andere. Insofern ist echte Nächstenliebe eine prinzipiell selbstlose Fürsorglichkeit in Bezug auf alle „Nächsten.“ Dies betonen mehr oder weniger deutlich alle Religionen – ohne Ausnahme. Das Christentum bezeichnet dies als Feindesliebe (Mt. 5,44) und veranschaulicht sie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Allerdings zeigt die mitmenschliche Praxis der unterschiedslosen Nächstenliebe mit ihrer Hinwendung in Bezug auf Fremde, Unfallopfer, Migranten usw. zwar mitmenschliche Weiterentwicklung, – in Form von Mitleid, Opferbereitschaft und Barmherzigkeit –, sie verbleibt aber dennoch fast immer auf der emotional irdischen Bewusstseinsebene; sie hat keinen Bezug zu spiritueller Wahrnehmung, d. h. zu geistigem Tiefblick.
Beim Samariter wird dessen interner Beweggrund nicht genannt, es handelt sich aber noch nicht um geistige Höherentwicklung, die über das Mitleid, das emotionale Mitgefühl hinausginge und die bewusste geistige Erkenntnis der Hand im Handschuh enthielte. Denn wenn ich mich als Soldat an der Front um einen verwundeten Feind kümmere – wie zum Beispiel die Trichterszene im Film „Im Westen nichts Neues“- heißt das noch nicht, die Seelenverwandtschaft zwischen seiner und meiner geistigen inneren Führung zu erkennen und eben bewusst in die Tat umzusetzen. Denn nur dann wäre der Weg zu echter Selbsterhaltung beschritten, die nur durch die Erhaltung aller (!) anderen erreicht werden kann.
Der Mensch, das einzige Säugetier mit der Fähigkeit zur Höherentwicklung, hat sein tierisches Erbe der Selbsterhaltung aber von Anfang an auch gleich mit grenzenloser Übersteigerung verbunden: Er hat von selbstloser Zuwendung weiteren Menschen gegenüber abgesehen, er hat – abgesehen von seiner Familie und auch dort oft nicht – alle anderen und alles andere als Mittel zum Zweck betrachtet, dies sogar in Bezug auf den Planeten insgesamt. Er hat gelernt, seine Artgenossen auszunutzen, bis aufs Blut auszusaugen und jede Konkurrenz aggressiv zu bekämpfen. Diesen Grundzug menschlichen Verhaltens zeigt die Eröffnungsszene im Kubrick-Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ durch den Kampf zwischen zwei Horden von Frühmenschen um das Wasserloch. Dieser Exzess soll im Folgenden als Ego bzw. Egozentrik bezeichnet werden. Damit wird das Maß der überlebensnotwendigen Selbsterhaltung unterschieden von ihrer Maßlosigkeit, die aber zur Regel geworden ist. Diese Unterscheidung wird schon bei Matthäus durch Jesu Gebot angedeutet, und zwar: „deinen Nächsten zu lieben wie dich selbst!“ Dadurch schließt der Nazarener jede Ausweitung des existenznotwendigen Selbsterhalts aus. Aber der Alltagsmensch würde die Mahnung, jeden beliebigen anderen Menschen wie sich selbst zu lieben, als absurd zurückweisen. Deshalb bemerkt Paulus bitter: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Torheit.“ (1. Kor. 2,14)
Das erfolgreiche Überleben von Individuum, Gruppe und Spezies des Menschen besteht aus eben dieser Nächstenliebe, diesem „zweiten“ Programm, das nur der Mensch in sich trägt. Es liegt auf der Hand, dass, wenn jeder seine ganze Kraft dazu einsetzen würde, neben dem notwendigen Anteil an Überlebenssicherung sich innerhalb seiner Reichweite mit ganzer Kraft dafür einsetzen würde, „sein Wohl im Wohl der anderen suchen“ (Tolstoj; Kapitel 1), sich um den Erhalt aller Mitmenschen und dabei vor allem fremder, hilfloser und erst recht feindlicher zu kümmern, wäre das die einzige gesicherte Selbsterhaltung für alle. Das ist direkt und sofort einsichtig.
In der Praxis des Alltagslebens kann man das als Individuum unmittelbar in seinem fremden und vor allem feindlichen Umkreis überprüfen, in Bezug auf die konkreten Folgen; auch wenn auch ein solcher Entschluss nur aufgrund einer spirituellen Grundlage durchgehalten werden kann.
Was diese Verbindung von Individual- und Gesamtwohl betrifft, so ginge es am Beispiel des Migrantenzustroms nicht unbedingt darum, ihn auszuweiten. Vielmehr wäre es bei wahrhaftiger Feindes-, Fremden- oder Samariterliebe angebracht, in welcher Form auch immer grundsätzlich und ausreichend Sorge um deren Wohl zu tragen: So sind auf personaler, kollektiver und gesamtstaatlicher Ebene Lebensbedingungen für sie zu schaffen, sodass sie menschenwürdige und auskömmliche Lebensgrundlage hätten. Dies kommt auf personaler Ebene zwar häufig vor, ist aber weltweit ebenso wie die staatliche Entwicklungshilfe ein Tropfen auf dem heißen Stein. Erst recht im Verhältnis Industrieländer und Entwicklungsländer kann von einer Liebe „…wie dich selbst“ keine Rede sein. Das kollektive nationale Ego lässt eine solche samaritanische Liebespraxis nicht zu. Daraus ergibt sich, dass diese „wie dich selbst-Liebe“ ohne eine gleichzeitige Entwicklung spirituellen Bewusstseins aussichtslos ist. Insofern findet dieser Weg immer erst mal individuell statt, und es wird voraussichtlich noch sehr lange sehr großes Leid in Form von Pandemien, Weltkriegen und Klimakatastrophen geben müssen.
Der einzige Lichtblick ist die Gewissheit, dass zumindest individuell denjenigen unter denen, die „angeklopft“ haben und (!) die erhört wurden, ein Alltagsleben vergönnt ist, das im Auge des umgebenden Hurrikans geschützt ist. Es lebt in der Verwirklichung der Merkmale „Sich nicht sorgen“ und „Sich nicht fürchten“, in ihrer praktischen Erfüllungen der Bergpredigt im Sinn von „Sie sollen getröstet werden“ (Mt. 5,4). Das zeigt nicht nur das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk. 15), sondern vor allem zeigen es die Berichte der Autoren, die mit diesen Folgen ihres Ego-Kreuzigungsweges „getröstet“ wurden.
Viele wollen zum Überleben der Menschen beitragen. Der populäre Slogan dafür lautet „Die Welt ein Stück besser machen.“ Nur wird sie nicht besser, sondern bewegt sich trotzdem in Richtung Selbstzerstörung. Der Grund liegt darin, dass dieses Ziel nicht horizontal auf der materiellen Ebene erreicht werden kann: „Ich kann von mir aus nichts tun …“ Eine Lösung gibt es nur mit der vertikalen Orientierung, durch „… den Vater in mir.“ Dann werden durch innere Führung die irdischen Rettungswege aufgezeigt, die dann „nur“ noch praktisch umgesetzt werden müssen. Dabei begleitet diese Führung die Kämpfer auf Schritt und Tritt. (Das Christentum nennt diese informationelle Umsetzung aus der geistigen in die materielle Welt mit seiner Wirkkraft und -weise den Heiligen Geist.)
Das Übergeben des Erlösungsgeschehens an die innere Stimme ist der prinzipielle Rettungsansatz innerhalb des Schöpfungsplans insgesamt: Nach Vertreibung aus der geistigen Dimension (Gen. 3,23) und dann durch Erfahrung und bewusste Auswertung des Leids der materiellen Ebene vervollkommnete Rückkehr. Dieser Ausflug in die Materie bringt die Ausweitung der Welterkenntnis: hervor „Werde, der du bist.“ (Maharshi). All dies wird durch das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk. 15) vermittelt: „des Vaters Vermögen … verloren und wiedergefunden“
All das haben die Weisheitslehren verkündet. Sie finden aber kein Gehör, die Menschen bleiben stur auf der horizontalen Ebene. Der Grund dafür ist Maya, die universelle Verblendung aller Menschen (siehe Kapitel „Maya“, Kapitel 23), die die einzige Aussicht auf Befreiung vom Leid geschickt und erfolgreich durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch verbaut hat und nach wie vor verbaut. Unter Maya ist der universelle Schleier zu verstehen, der auf dem Bewusstsein der Menschen liegt. Er verbirgt geschickt und vor allem wirkungsvoll die wahre Natur des Menschen, sein göttliches Wesen. Dessen Verhalten als Säugetier mit weitaus übleren Eigenschaften („tierischer als jedes Tier“; Faust I, Auerbachs Keller) wird von Maya erfolgreich realisiert. Sie versucht, die Unkenntnis der Menschen über ihre eigene geistige Identität zu zementieren und ist dabei außerordentlich erfolgreich, und zwar durch die geschickte Ablenkung von allen geistigen Bestrebungen durch die raffinierte Hinlenkung auf materielle Anreize. Homers Odyssee und Goethes Faust sind die überdeutlichen Paradebeispiele dafür. In der modernen Welt und schon immer tun diejenigen Menschen, die in Wohlstand leben, alles, um ihn zu erhalten; viele wollen auch noch dessen Maßlosigkeit steigern. In jedem Fall aber vermeiden alle den geistigen Weg, die Mahnung der Weisheitslehren, nach dem „Reich Gottes zu trachten“, dem spirituellen Bewusstsein. Diejenigen, die in Armut oder Elend leben, wollen jenen erreichen. Das gilt ebenfalls für die hinduistischen, islamistischen, buddhistischen (Aum-Bewegung Tokio) oder christlich-evangelikalen Extremisten, die mit Waffengewalt Ziele erreichen wollen, die der Bergpredigt oder den entsprechenden anderen Weisheitslehren in jeder Hinsicht direkt widersprechen.
Die Menschen unternehmen alles mit materiellem Bewusstsein, auch ihre religiösen Organisationen, weil Maya mit dem Instrument der Orientierung auf Vielfalt und Vielfarbigkeit des materiellen Lebens sie erfolgreich daran hindert, die Stimmen der wenigen Aufklärer durch die Jahrhunderte hindurch spirituell zu verstehen. Es gelingt, obwohl deren Aufklärung, also ihre Versuche, die Wolke vor der Sonne wegzuschieben (Ramakrishna) an Klarheit kaum zu wünschen übrig lässt.
Das effektivste Mittel von Maya, das materielle bzw. antispirituelle Bewusstsein aufrechtzuerhalten, ist gegenwärtig der soziale und technologische Fortschritt. Dadurch lenkt Maya mit blendendem Erfolg von Leid und Elend, Krankheit, gesellschaftlicher Rohheit und Gewalt, Arbeitsplatzverlusten, Pandemien, Faschisierung, Mord und Krieg ab. Es gelingt ihr nach wie vor, durch Fortschrittsbewusstsein darüber hinwegzutäuschen, dass die Menschen nach wie vor neiden, lügen und betrügen. (Dass Maya dennoch unbedingt notwendiger Bestandteil der einen Schöpfung ist: Siehe Kapitel 13: „Wozu gibt es das Böse in der Welt? Deren Konsequenz ist der Appell Jesu, dem Übel nicht zu widerstreben.)
Nach aller Lebenserfahrung ist es so, dass meist erst nach der Lebensmitte, also nachdem also alle wesentlichen Stationen des Lebensaufbaus, also Berufs-, Wohnungs- und Partnerfindung, Familiengründung, usw. abgeschlossen sind, eine mehr oder weniger große Verödung des Zusammenlebens eintritt und erst nach schweren und schwersten Verlusten die spirituelle Sinngebung des menschlichen Lebens in die Reichweite des Bewusstseins kommt, allerdings selten als solche erkannt wird. Aber öfter als in der Vergangenheit kann der Mensch durch zivilisatorische Einflüsse erlernen, durch fast immer leidvolle Impulse und folgliche geistige Anstrengungen, das „Tier in sich“, das Ego zu erkennen und zu bändigen. Dann kann er sein Alleinstellungsmerkmal unter den Säugetieren, seine Reifefähigkeit zur Höherentwicklung ausspielen, sozusagen „ermuntern“:
„Tugend will ermuntert sein,
Bosheit kann man schon allein.“
(Wilhelm Busch: Plisch und Plum)
Aber gegenwärtig hat eine Bewusstseinserweiterung im Sinne der Feindesliebe (Realitätsnähe siehe betreffendes Kapitel 17) überindividuell keine Chancen, was man an der Migrantenfrage in Europa ablesen kann.
„Manchmal frage ich mich: Wie dünn ist eigentlich die Zivilisationsschicht, die wir im Umgang miteinander haben?“ (Bundesinnenminister de Maizière über die Sprache des Hasses im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015: DIE ZEIT Nr. 51, 2015)
„Täglich sterben“
Das Mittel zur Reduzierung des übermächtigen Ego und damit zum einzigen (!) Ausweg aus dem Leid ist „tägliches Sterben “ des Ego. Dies ist das einzige Anliegen aller großen Weisheitslehren. Damit ist nicht körperliches Dahinsiechen gemeint, sondern das Zurückdrängen des niederen Ich, der Triebseele, mittels Hindurchblick auf die geistige Identität aller Menschen. Dadurch tritt das hohe ICH, die Geistseele, mehr und mehr hervor.
Um diese Alternative zu entwickeln, spielen wie gesagt Erziehung und zivilisatorischer Rahmen innerhalb einer aufklärerischen und humanen Gesetzgebung eine wichtige Rolle. Die gibt es seit vielen Generationen, und es gibt ohne Zweifel deutliche Fortschritte auf der materiellen Ebene, aber zugleich auch das Problem, dass von einer grundsätzlichen Wandlung des menschlichen Selbsterhaltungstriebes in Richtung hingebungsvoller wahrer Nächstenliebe keine Rede sein kann.
Das kann man zum Beispiel an der Verwendung solcher absurder Begriffe wie „Pulverfass Nahost“ in ihrem kompletten Irrsinn sehen, denn das Pulverfass ist die menschliche Selbsterhaltungs-Ego-Triebseele, die seit Auftritt des Homo sapiens verlässlich für alle beliebigen Pulverfässer auf ausnahmslos allen Gebieten und Bereichen unserer Welt sorgt. Wobei es nicht so einfach ist zu übersehen, dass diese Fässer jeden beliebigen Tag in irgendeiner Ecke unseres Planeten hochgehen. Nahost ist überall, nicht nur in den Kreuzzügen, dem Dreißigjährigen Krieg, Auschwitz, Nanjing, im Kambodscha der Roten Khmer, in Srebrenica, im Sudan, in der Ukraine, usw. usw.
Nur auf spiritueller Grundlage, also nicht auf derselben horizontalen materiell-irdischen Bewusstseinsebene der Vernunft, ist die Ablösung vom Bewusstsein des „tierischer als jedes Tier“ (Goethe: Faust I, Auerbachs Keller) möglich: Das kann man deutlich daran sehen, dass durch die Jahrtausende hindurch die Mahnungen der spirituellen Lehren und Lehrer trotz allen technologischen und sozialen Fortschritts noch nicht einmal im Ansatz Anklang gefunden haben; die Menschen lügen und betrügen nach wie vor. Selbst auf der Voraussetzung der einer vollständigen Abschaffung von Armut und Elend bleiben sie gehässig, stolz, arrogant, argwöhnisch und eifersüchtig. Das kann man an der Lebensführung der Schönen und Reichen tagtäglich besichtigen.
Am Beispiel des Christentums und hier speziell der Bergpredigt, dem Konzentrat der gesamten Lehre, kann man ablesen, dass es zum Beispiel den Christen, allen voran ihren Vertretern, gelungen ist, tatsächlich nicht ein einziges ihrer Gebote – und dies nicht einmal im Ansatz – zu realisieren. Das ist auch das bisherige Schicksal aller anderen Weisheitslehren, deren gleichlautende Mahnungen mit Füßen getreten werden: „Nicht sorgen“?, „Nicht nach Gut und Böse einteilen“?, „Nicht richten, nicht verurteilen“?, „Nicht dem Übel widerstehen“?, „Alles und jedes grundsätzlich vergeben“? oder „die Feinde lieben“?
Die Feindesliebe findet sich natürlich nicht nur bei Matthäus („Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen!“ ,5,44), sondern wie gesagt in allen spirituellen Weisheitstexten:
„Ein Fremdling, der bei euch wohnt, soll wohnen wie ein Einheimischer und ihr sollt ihn lieben wie euch selbst.“ (Judentum: Altes Testament, 3. Mo. 19,33 f.)
„Wehre ab die schlechte Tat mit der besseren. Dann ist der, mit dem du in Feindschaft lebst, wie ein inniger Freund und Beistand!“ (Islam: Koran, Sure 41,34)
„Wer den Lebenssinn begreift als den, der allem innewohnt, schmäht nicht sein Selbst im andern Selbst. Er wandelt so den Pfad zur Höh´. (Hinduismus: Bhagavad Gita XII, 28.
„Der Weise ist gleich gütig zu den Guten wie zu den Unguten.“ (Taoismus: TaoTeKing 49)
„“Durch Nichtfeindsein hört Feindschaft auf, das ist seit je der Dinge Lauf.“ (Buddhismus: Dhammapada I, 5)
Betrachtet man das alltägliche Verhalten der Hindus, Buddhisten, Muslime oder der Christen und ihrer Anführer, ist von Feindesliebe keine Spur, im Gegenteil: Was das Christentum betrifft, so zeigen solche Beispiele wie die Anpassung der Geistlichen der Konfessionen an das NS-Regime, das notorische Schweigen von Papst Pius XII. zu Auschwitz oder die sexuellen massenhaften Verbrechen der Kirchenvertreter die Entfernung zu den oben genannten ethischen Idealen. Man kann auch mal die sonntäglichen Predigten daraufhin befragen, inwieweit sie fordern, „nicht nach gut und schlecht einteilen, nicht bösen Dingen Widerstand leisten, alles, aber auch alles vergeben oder seine Feinde zu lieben“ und inwieweit dann die praktische Umsetzung aussieht. Welche Feldgeistlichen in einem russischen oder ukrainischen Schützengraben oder auch nur westeuropäischen Priester forderten dazu auf, geschweige denn, wie das funktioniert?
Ihre „ängstliche Anpassung an weltliche Werte“ und ihr Charakter als „austauschbare Institutionen öffentlicher Fürsorge“, die sich dem Rationalismus des Zeitalters „gefügt“ haben, gleichen „Vereinen, an die man Beiträge bezahlt.“ Die Kirchen sollten als Kämpfer für eine bessere Welt eine Stimme haben, sind aber „… nur eine von vielen und eine immer weniger gehörte.“ Sie halten im Gegensatz zur Ethikkommission „keine exquisiten Antworten“ bereit und haben vergessen, dass sie als Teil dieser Welt „ihr Eigentliches in dem haben, was dem Diesseits entgegengesetzt“ ist. (Alle: DIE ZEIT 49/2020, S. 62).
Einschränkend ist zu sagen, dass beispielsweise Jesus nicht ausgeführt hat, welchen Zweck bzw. welche Folge die eben nicht selbstverständliche Feindesliebe hat. Aber die Erfahrung aller spirituellen Sucher zeigt auf, dass von dem Moment an, von dem man Feindesliebe auf der Grundlage des Wissens um den Zusammenhang mit der geistigen Einheit praktiziert, die Feinde aus der persönlichen (!) Umgebung verschwinden. Ausgeweitet über die individuelle Reichweite hinaus führt das letztlich zum Gesamtzusammenbruch der egozentrischen Sichtweisen wie: „Wer Kollegen hat, braucht keine Feinde mehr“, Scheidungen, Kindesmisshandlungen, feindliche Betriebsübernahmen, „Great again“, „First“ usw. usw.
Der unbewusste Selbsterhaltungstrieb mit allen seinen Untermenüs ist verantwortlich für alles, was die Menschen sich selbst, den anderen und der Erde antun. Das Ego als Ausdrucksform des Selbsterhaltungstriebes will nichts außer sich selbst und kreist in letzter Konsequenz nur um sich selbst und das eigene Wohl. Das Wohl jedes anderen interessiert letztlich nur dann, wenn und solange es ihm selbst nützlich ist. Das gilt sogar für die besten und liebsten Nahestehenden. Denn wenn die eigene Existenz gefährdet sein sollte, fällt die Maske und das Ego tritt hervor.
Die Ego-Ursache: Abtrennung
Die Verbindung bzw. die Einheit zwischen Gott und Mensch ist durch das Selbsterhaltungsprogramm zerrissen, weil das Ego sich nicht vorstellen kann, durch innere geistige Führung erhalten zu werden. Es hat von Kindesbeinen an die Erfahrung nicht (s. u.). Es ist die Hürde zwischen dem geistigen und dem materiellen Menschen. Symbolisch ist die Verführung zur Erhaltung aus eigener Kraft dargestellt in der Schöpfungsgeschichte durch die Schlange, die Adam und Eva zu Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit verführte, dadurch die Vertreibung aus dem Paradies auslöste und damit die Trennung von göttlicher Obhut und Versorgung.
Diese Herauslösung aus dem Vollkommenheitskontext – allerdings zugleich aus der Unbewusstheit – war der Schritt, einen eigenen unabhängigen Weg zu gehen, der Schritt zur Autonomie. Das Streben nach Autonomie und die damit verbundene Abtrennung von der spirituellen Instanz im Innern, die bislang führte, schützte und versorgte, sind das Kennzeichen des irdischen Menschen, der jede Art von Abhängigkeit und Kooperation verabscheut. (Die Nazis nannten das „Autarkie“. Gegenwärtig grassiert der Begriff „we first.“ Das Credo „ich zuerst“ gilt aber nicht nur für Präsidenten, sondern jedes Ego hat es.
Die allerschlimmste Abhängigkeit fürs Ego ist diejenige vom Schöpfer, siehe Faust I. Da diese für das Ego nicht infrage kommt, hat es seine sichere Basis verloren und glaubt nun irrigerweise, sehen zu müssen, wie es nun alleine und eigenständig klarkommt. Da jeder andere ebenfalls unbewusst mit allen Mitteln auf Kosten anderer um die Stabilisierung seines labilen Ich kämpft, sind Konflikte bis aufs Blut sowie Bündnisse zu deren Bewältigung ein grundsätzlicher Bestandteil im Leben jedes und aller Menschen.
Deutlich sieht man das Wirken des selbstsüchtigen Ego an jedem Politiker, jedem Kirchenfürsten, jedem CEO und an fast jeder Ehe: Zunächst ist man füreinander da, dann lebt man miteinander und schließlich nebeneinander (weil man sich braucht), allzu oft dann sogar gegeneinander. Es fehlt eben an Selbstlosigkeit und Einheitsbewusstsein. Nur die geistige Identität kann sie produzieren, und die ist aus dem Blickfeld geraten.
Durch die Trennung ist die ursprüngliche Einheit mit dem Schöpfer, die sorgenfreie Abhängigkeit des Kindes vom Vater verloren gegangen und damit der Dialog mit dem inneren Gottessohn, mit dem Hohen ICH. Es ist sozusagen die Ent-Bindung, der Abriss der (geistigen) Nabelschnur, der Verlust der höheren eigentlichen Elterninstanz.
Daher leidet das kleine, animalische Ich an seiner immensen Zerbrechlichkeit und Unvollständigkeit. Und daher will es immer etwas Besonderes sein, im Mittelpunkt stehen, beachtet werden, weil es sich dadurch aufgewertet fühlt. Sein Bedürfnis nach Wichtigkeit ist unermesslich. Deswegen tragen Schützenbrüder und Militärs eine Menge von bunten Blechstücken auf ihrer Uniformbrust. Deswegen machen die Menschen geradezu manisch unzählige Selfies, am besten mit Promis. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese grenzenlose Geltungssucht ist das Vorgehen des Krankenpflegers aus Norddeutschland, der Hunderten von Patienten Giftspritzen verabreichte, um sie dann augenscheinlich kompetent reanimieren und so vor den Augen des Fachpersonals glänzen zu können. Die Geltungssucht ist der verzweifelte Versuch, die Minderwertigkeitskomplexe, die jedem Menschen innewohnen, zu kompensieren.
Äußere Entstehung des Minderwertigkeitskomplexes
Während des Aufwachsens erlebt das Kleinkind die Erwachsenen groß und überlegen und versteht sich selbst als schwach und bei aller Fürsorge und objektiver Geborgenheit doch ausgeliefert, weil es sich nicht durchsetzen und auch nicht widerstehen kann. Um bei den Eindrücken, die von außen anbranden, stabil bleiben bzw. seinen Selbstwert entwickeln zu können, z. B. bei stärkeren Kindern, lernt es, sich zu maskieren, um nicht völlig wehrlos zu erscheinen. Das geschieht spätestens in der Grundschule. Es fühlt sich innerlich schwach und markiert nach außen Stärke. Das geschieht auf individuell sehr unterschiedliche Art und Weise etwa durch Lautstärke oder zur Schau gestellte Sicherheit. So können die schwachen Stellen verborgen werden, denn es macht die Erfahrung, dass diese sonst von den anderen schnell und zielsicher herausgefunden und angegriffen werden.
Da das Kind nicht in andere Kinder hineinschauen kann, gibt es keine Möglichkeit, deren vergleichbare Verfassung zu erkennen. Deshalb fühlt es sich selbst meist schwächer und empfindet die anderen überlegen. Daraus resultieren dann die Minderwertigkeitsgefühle.
Je leistungsorientierter oder auch autoritärer die Verhältnisse in der Familie und in der gesamten Gesellschaft sind, desto weniger kommt es infrage, sich eine Blöße zu geben. In der psychischen Grundausstattung dominieren Triebe, Affekte, sexuellen Impulse, unsoziale Regungen, Ängste und Minderwertigkeitsgefühle. Aber man breitet sie nicht vor anderen aus, um das Schutzschild der Maske der Souveränität nicht zu verlieren. Das gilt auch in einer verständnisvollen, toleranten oder auch „laissez faire“-Erziehung. Kein Kind, kein Jugendlicher spricht über seine Feigheits-, Angst-, Neid-, Geiz- oder Habgierigkeitsgefühle.
Jeder versucht, seine ängstliche Menschlichkeit unter seiner Maske zu verbergen. Das gelingt in besonderem Maß denjenigen, die dann mit Zynismus, anzüglichen Bemerkungen und groben Provokationen auf anderen und insbesondere deren Schwächen herumhacken, um ihre eigene äußerste Empfindlichkeit zu verbergen.
Projektion
Ein klassisches Verhaltenselement des vermeintlichen Selbstschutzes ist dabei die Projektion, durch die man eigene Unzulänglichkeiten und Fehlerhaftigkeit dadurch abreagiert, indem man sich zielstrebig auf genau solche Fehler bei anderen stürzt, und zwar mit ständigem Kritisieren, Meckern, mit Vorwürfen, usw.
Je früher dieser Panzer aufgebaut wird, desto mehr verhärtet er sich und verliert dann schon früh Liebes-, Einfühlungs- und Begegnungsfähigkeit. Dann fühlt man sich viel häufiger angegriffen, als das in Wirklichkeit der Fall ist. Ein typisches Beispiel ist der junge unerfahrene Lehrer, der jeden Lacher von den hinteren Bänken auf sich bezieht und dann unangemessen aggressiv reagiert. Kommen Glatze oder Bauch im Gespräch vor, beziehen die Träger solcher Merkmale dies sofort als Angriff auf sich und empfinden das als Bloßstellung. Das mehr oder weniger bewusste Selbstbild der Menschen ist von Labilität gekennzeichnet. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Die meisten Menschen, die besonders selbstsicher, überlegen und souverän erscheinen, sind im Innern von Existenzangst, Feindbildern, Misstrauen und Minderwertigkeitsgefühlen geprägt. Ein klassisches Beispiel ist der Raser, der sein Auto mit hohem Tuning zu Rennmaschinen hochrüstet und dann rücksichtslose Rennen fährt. Je schwächer das Selbstwertgefühl im Innern, desto höher die PS-Zahl.
Der Trotz der Kinder oder die Anorexie der Jugendlichen haben ihren Grund darin, dass die Heranwachsenden sich den Größeren, den Eltern, den anderen gegenüber zu behaupten suchen oder sich bei Misserfolgen in isolierende Nischen zurückziehen. Das ist Protest gegen das Nichtverstandenwerden. Es ist zugleich Überlebensstrategie des von der eigenen Seelenkraft abgetrennten Individuums, das sich in abgrundtiefer Einsamkeit befindet. Diese Loslösung ist der eigentliche Grund für die essenziellen Minderwertigkeitsgefühle des Menschen, die des „abgehauenen Astes.“ Dieser unbewusste Empfindungskomplex des schwachen und labilen Ich gehört zu den größten Feinden des Menschen. Er äußert sich – um sich zu retten – kompensatorisch als Ego-Verhaltensprogramm, in welcher Form auch immer, ausweichend oder aggressiv.
Im Regelfall macht uns die Triebseele mit ihrem Vollstrecker, dem Ego, durch Hochmut, Eitelkeit, Existenzangst, Selbstisolation, Depression, Überheblichkeit, Ungeduld und Geltungssucht das Leben zur Hölle. (Dass dies der Sinn der Sache ist, also ihre sinnvolle Aufgabe, siehe Kapitel, wozu das Böse da ist.)
Psychogramm des Ego-Triebs
Das Ego deaktiviert konsequent Prozesse, die Selbstkritik oder Selbsterkenntnis ermöglichen könnten. Denn dadurch wäre die so verstandene Selbsterhaltung bzw. Selbststabilität gefährdet. Viele können nicht verlieren, weder beim „Mensch ärgere Dich nicht“ noch bei der Niederlage ihres Fußballvereins, vor allem aber nicht bei eigenen Niederlagen in Beziehungen oder im Berufsleben. Der Mensch lügt, trickst, hintergeht, betreibt Mobbing, begeht Vertrauensbruch usw., um seine fragile Lage zu erhalten und sie nicht zu gefährden. Gedanken ans Gesamtwohl sind ihm fremd, sein Denken reicht genau bis zum Rand des Portemonnaies. Bei wie vielen Menschen gibt es eine 100%ig ehrliche Einkommensteuererklärung? Und je mehr man verdient, desto größer sind Verführung und auch Möglichkeiten, seine Steuern auf ein unanständiges Minimum zu drücken. Durch besondere Umstände aber, wie z. B. durch eine spirituelle Entwicklung, können die Kräfte der göttlichen Seele dem animalischen Instinkt, also der Triebseele entgegengestellt und entfaltet werden.
Das Egoprogramm in uns vergleicht sich ständig mit anderen, nur um einen eigenen Selbstwert zu erreichen oder zu halten. (Siehe die böse Stiefmutter im Märchen Schneewittchen). Zwar ist jeder Mensch etwas Besonderes, aber nicht im Vergleich. Der Zeigefinger vergleicht sich auch nicht mit dem Mittelfinger. Und die biblische Aufforderung heißt: „Werdet vollkommen“ lautet nicht: „Werdet wie der und der bzw. die und die.“ Das ständige Vergleichen ist auch die Basis für den Neid. Dieses archaische Unterprogramm wirkt zum Beispiel, wenn große Mengen von Flüchtlingen mit Grundsicherung ausgestattet werden und dazu erhebliche Summen aufgewendet werden, um ihnen ein notdürftiges Dach über dem Kopf zu finanzieren.
Daher neigt unser niederes Ich dazu, über andere herzuziehen und zu hetzen, denn damit erhebt es sich über sie. Herabwürdigen, verachten, verächtlich machen ist entscheidend wichtig für die Stützung des wackeligen Persönlichkeitsbewusstseins, es ist unerlässlich für die Selbstaufwertung. Fast jedes Schimpfwort enthält Abwertungsversuche, häufig mit Tiervergleichen.
Damit verbunden ist die allergische Reaktion des Ego auf jede Art von eigener Herabsetzung. Schon eine abweichende Meinung empfindet das Egoprogramm in uns als Angriff auf seine Selbsterhaltung und kontert mehr oder weniger aggressiv. Für viele (Männer) werden diese Verhaltensmuster ergänzt durch eine auffällige Selbstverliebtheit: Ein Narzisst kennt nur sich selbst, erträgt auch die zarteste Kritik nicht, sachorientierte Debatten sind nicht möglich, und Schuld haben immer die anderen.
Beide Persönlichkeitsmerkmale sind begleitet von der Ausblendung jeglichen selbstkritischen Verhaltens. Das Ego muss auf dem Auge für eigenes Fehlverhalten blind sein, sonst käme sein Bewusstsein der Tatsache seiner Fragilität gefährlich nahe und würde den Selbsterhalt gefährden. Um das zu vermeiden, ist es für die eigene Stabilisierung wichtig, auf anderen herumzutrumpeln. Symbolisch wird das bei Matthäus in der Geschichte vom Splitter und vom Balken verarbeitet. Das ist auch der Grund, warum es Zuwanderer gibt, die gegen Zuwanderer sind.
Der Fall aus der ursprünglichen Einheit und damit aus der vollkommenen Welt führte hinein in unsere Welt der Unzulänglichkeit, des Mangels und der Gefahr.
Weil und solange wir den Einlass und damit die Verbindung zu unserem Selbst, dem hohen ICH, der Geistseele verloren haben, fühlen wir ständig unbewusst unsere Verletzlichkeit und Mängelverhaftung. Wir geben deswegen eigene Fehler nicht zu und stehen ungern zur Verantwortung bei eigenem Fehlverhalten wie bei fast jeder Autokarambolage. Wir können es auch nicht oder nur sehr bedingt, weil das Programm der Selbsterhaltung dies weitestgehend verhindert.
Die Sozialisation identifiziert uns mit unserem äußeren Menschen. Wir sehen unsere Person als unser wahres Selbst an und halten den Handschuh für die Hand. Niemand hat uns unsere Einzigartigkeit und Attraktivität bewusst gemacht und unsere innere Göttlichkeit. In der kirchlichen Lehre wurde Jesus immer als einzige Verkörperung Gottes dargestellt. Dadurch wurde seine Lehre, dass der Gottessohn in jedem Menschen wohnt („Das Reich Gottes ist inwendig in euch“) – wie die Hand im Handschuh – ignoriert und vertuscht. Vor allem aber wurde sie mittels Scheiterhaufen bis aufs Blut bekämpft. So wurde die göttliche Instanz in uns verhüllt, die Lehre der Bergpredigt mit ihrer Vergebung und Feindesliebe mit Füßen getreten und die Säugetiernatur verabsolutiert. Dadurch, dass die Erziehung uns nur als Person identifiziert und nicht mit unserem wahren Selbst, werden wir bruchstückhaft und damit falsch erzogen. Daraus resultieren Unsicherheit und Angst. Außerdem verwechseln die Eltern ihre Fürsorglichkeit mit Liebe. Woher auch, sie haben wahre Liebe (s. u. Kapitel Liebe) ja selber meist nicht kennengelernt. Das führt aufgrund der Fehler, die wir machen und bei anderen sehen, zwangsläufig zu Mängelbewusstsein und Minderwertigkeitskomplexen. So wird Unsicherheit zu unserem ständigen Begleiter.
Dieses unbewusste, aber deutliche Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit ist der Grund, warum das Egoprogramm Verhaltensweisen generiert, die in jeder nur erdenklichen Form die eigene Aufwertung erzeugen sollen: Auf der persönlichen Ebene will das Ego sich fühlen, sich wahrnehmen und redet deshalb pausenlos. Nun ist Schweigen das Reich der Intuition, in dem die Sprache der inneren Führung durchkommen und hörbar werden kann. Das zu verhindern ist der tiefere Grund für den ständigen Redestrom. Dazu bemerkt Oscar Wilde spitz: „Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und trotzdem den Mund halten.“
Hinzu kommt, dass das Ego ungern zuhört, denn dann ginge es ja meist nicht um es selbst, sondern um andere. Es will sich immer nur äußern, nie empfänglich sein. Es dürstet nach Beachtung. Ein krasser Beleg dafür ist die Geltungssucht von pädophilen Kindesvergewaltigern, ihre Verbrechen ins Netz stellen.
Das Ego will belehren, erteilt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit unerwünschte Ratschläge. Auch das dient wieder dem Zweck der eigenen Aufwertung. In bedrängten Situationen, z. B. in Ehekonflikten, will das (männliche) Ego „ausdiskutieren“, was aber nicht der sachlichen Klärung dienen, sondern in Wirklichkeit den Kampf für sich entscheiden soll, um Überlegenheit wiederherzustellen.
Zur Aufrechterhaltung der eigenen Stabilität, die in Wirklichkeit eine Labilität ist, verbiegt jedes Ego vorliegende Fakten in seinem Interesse, schönt oder lügt sie zurecht. Daraus ergibt sich in krassen Fällen eine Blase von „postfaktischer“ Eigenrealität, die es zum Schutz seiner Persönlichkeitssphäre aufbaut. Das mündet allzu oft in Aggression, was man gegenüber Flüchtlingen überall in Europa beobachten kann.
Das Ego ist narzisstisch. Ein Narzisst ist nur eine ausgeprägtere Form des Ego. Ein Narzisst ist empathiefrei und redet pausenlos – und zwar vorzugsweise über sich selbst. Sein Geltungsbedürfnis ist grenzenlos. Es gibt Menschen, die buchstäblich noch nie in ihrem Leben einen Satz begonnen haben, der nicht mit „ich“ oder „mein“ beginnt. Der Narzisst braucht und benutzt die anderen als Bühne für seinen Auftritt, er will, dass wir ihm geben, und zwar unsere Aufmerksamkeit, Zeit und Kraft. Gäbe man ihm diese Bühne nicht, wäre er verloren.
Die eingebildete Selbstbewunderung und das Eigenlob des Narzissten werden in manchen Fällen als Persönlichkeitsstörung bezeichnet, aber es handelt sich um einen konstitutiven Bestandteil des menschlichen Ego generell, in welchem Maß auch immer. Denn unser Ego, jedes Ego, ist süchtig nach Anerkennung, Selbstdarstellung und Beachtetwerden. Im Alltagsleben gibt es deshalb Tattoos, ausgefallene Frisuren, Kleidungsauffälligkeiten, Häufungen von Ketten, Armbändern usw. Das narzisstische Ego fühlt sich unwohl, wird nervös oder sogar gereizt, wenn es ignoriert wird. Beachtet werden zu wollen resultiert aus einem tief sitzenden Gefühl der Minderwertigkeit, welches nach Wegen der Kompensation sucht. Aufgrund seines Minderwertigkeitskomplexes ist das Ego allergisch gegen jegliche Art von Kritik. Es versucht ständig, andere herabzusetzen und zu kränken und ist immer schnell gekränkt, wenn es selbst kritisiert wird. Abgewiesen zu werden ist nahezu das Schlimmste, was dem eitlen Ego passieren kann, und deshalb sind es immer die anderen, die Schuld haben.
Das Gefühl der eigenen Fragilität produziert ein permanentes Streben nach der eigenen Aufwertung, typisch für das Ego. Männer sind weitgehend egogesteuert, während Frauen – sagen wir – zu gleichen Anteilen aus Ego und Liebe bestehen. Deswegen sind die Männer schwächer und deshalb zugleich überheblicher, um ihre Zerbrechlichkeit zu verhüllen. Jeder kennt es: Je weniger kompetent und je unsicherer der Egotyp ist, desto weiter reißt er seinen Mund auf, um seine Unsicherheit zu überspielen. Allerdings hat jeder seine eigene Mischung, und natürlich gibt es auch sehr egohafte Frauen und liebevolle Männer.
Die eigene Aufwertung ist im Leben des Ego dominant. Es gibt Menschen, die sich permanent selbst loben und über die der Volksmund sagt, dass Eigenlob stinkt. Ernster wird es, wenn Jugendliche Ballerspiele spielen und sich auf diese Weise erhöhen und sich zu Herren über das (virtuelle) Leben anderer aufspielen. „Da bin ich wer, da kann ich Befehle geben!“ Und schließlich ist das Gottspielen eines der hauptsächlichen Motive vom Ego, in einer extremen Form z. B. bei Amokläufern, denn ihr Vorgehen resultiert fast immer aus einer tiefen Anerkennungskrise.
„Ich war ein Niemand, bis ich den größten Jemand auf dieser Erde getötet habe.“
(Mark Chapman, Mörder von John Lennon).
In den Naturwissenschaften spielt das Streben nach Gottgleichheit unbewusst eine wichtige Rolle. Die Ebenbildlichkeit (Gen. 1,27) – wie etwa das Kind im Verhältnis zu den Eltern und insofern eben nicht mit denselben Möglichkeiten versehen – reicht nicht. Es geht darum, in zunehmendem Maß die Deutungshoheit über unsere Lebensabläufe zu übernehmen. Das kann man aktuell an der Erzeugung künstlicher Lebewesen im Rahmen der „synthetischen Biologie“ sehen. Ein Bakterium wird im Computer konstruiert und dann im Labor belebt, d. h., das Genom wird schrittweise zusammengebaut, bis es vermehrungsfähig wird (Stern 31.03. 2016). Ein solches Ziel wurde schon vor 200 Jahren im Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley künstlerisch verarbeitet. Es geht dem Wissenschaftler Viktor Frankenstein dort um das Schöpfertum, um die Erschaffung eines künstlichen Menschen aus Leichenteilen und mit Blitzschlag-Lebensfunken. Er will Leben erschaffen.
Zur Aufwertung gehört die reflexhafte Vermeidung jeder Art eigener Erniedrigung oder von dem, was das Ego dafür hält: Es dürfte nur wenige Männer geben, die unbefangen andere nach dem Weg fragen. Manche Leute verrenken sich sprachlich geradezu, um das Wort „bitte“ zu vermeiden. Wie selten trifft man jemanden an, der anstatt der irrsinnigen, aber üblich gewordenen Formel „Ich entschuldige mich“ die vom Sachverhalt her angebrachte Bitte „Ich bitte dich um Entschuldigung“ verwendet: Denn hat man jemandem einen Schaden zugefügt, kann man ja nicht selbst entscheiden, ob der die Verzeihung gewährt. Man würde sich abhängig von der Entscheidung des Gegenübers machen. Aber Abhängigkeit ist so ziemlich das Schlimmste, was dem Ego passieren kann. Deshalb möchte es ihm die Entscheidung keinesfalls überlassen. Bei „Ich entschuldige mich“ behält es die Kontrolle, im anderen Fall besteht die Gefahr, dass der Angesprochene die Entschuldigung verweigern könnte. Das will das Ego nicht riskieren, es wäre ihm ein Graus. Mit seiner Lesart könnte es theoretisch sogar beliebig jemanden verprügeln und ihm anschließend ins Gesicht sagen, dass man sich entschuldigt. Das Egoprogramm sorgt dafür, dass der Mensch immer versucht, die Entschuldigung an sich zu reißen und so die auf seinen Fehler angemessene Reaktion der Demut zu vermeiden.
Die Palette der Instrumente, um aufzufallen und sich in den Mittelpunkt zu stellen, ist umfangreich. Viele Menschen unternehmen buchstäblich alles, um „ins Fernsehen zu kommen.“ Es dient dazu, um dem bohrenden Trieb zu folgen, das mickrige Ich-Gefühl irgendwie aufzuwerten. Dazu hat Anton Tschechow eine außerordentlich bitter-ironische Kurzgeschichte geschrieben: „Die Freude“ (Радость).
Der Durst nach Anerkennung wird durchaus nicht nur auf der individuellen Ebene sichtbar, sondern tritt deutlich auf der kollektiven und natürlich auch auf derjenigen der Staatsführungen auf.
Unter anderem kommt das eigene Geltungsbedürfnis in so alltäglichen Erscheinungen zum Ausdruck wie im massenhaften Konsum von SUV. Dieses Konzentrat automobiler Unvernunft ist in jeder Hinsicht in Bezug auf ein normales Auto übertrieben, aber es hat Vorteile fürs Ego: Man sitzt höher, oberhalb der normalen Sitzhöhe, also über den anderen. Und es bildet ein weiteres Egomerkmal geradezu idealtypisch ab: Die kompakte Bauweise vermittelt dem labilen Selbstwertgefühl das Gefühl einer Trutzburg, einer Stahlpanzerung. So kann ein Teil der unbewussten Existenzangst kompensiert werden.
Die eigene Aufwertung und die dahinterstehende Anfälligkeit werden deutlich daran, dass Ansehen, „Ehre“, Ruhm und soziales Prestige einen hohen Stellenwert für das Selbstbild haben und auf das soziale Verhalten großen Einfluss ausüben, was in vielen Gesellschaften zu solchen Extremen wie Ehrenmorden führt, wenn Familienmitglieder Konventionen übertreten und dadurch das „Ansehen der Familie“ verletzen. Dabei sind solche Einstellungen wie Schande oder Ehre Elemente des Ego, wie sie archaischer nicht sein können. Jesus hat das durch seine Lebensführung deutlich genug entlarvt, indem er alles getan hat, um von seiner Person abzulenken: „Was nennst du mich gut,…“
Sich über andere zu erheben bzw. sie zu diesem Zweck zu erniedrigen, manchmal dreist, häufig subtil, ist einer der Hauptantriebe fürs Ego. Es schimpft, hegt Vorurteile, beschwert sich, lästert, intrigiert, kritisiert, tadelt, macht Vorwürfe, verurteilt, verdammt, usw. Aber Unterdrücken, Abwerten, Diffamieren, Erniedrigen sowie Überheblichkeit und Verachtung sind nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck der eigenen Aufwertung. Jedes Mal, wenn ich auch nur den Kopf über einen anderen Menschen schüttele (Straßenverkehr, Konferenz, Wahlkampf, Leserbrief, Shitstorm, Parlamentsdebatte usw.), ist das eine Abwertung, die das einzige Ziel hat, mich aufzuwerten, mich über ihn erheben zu können. Ohne dieses permanente Verhalten könnte das Ego seine Identität nicht fühlen und nicht aufrechterhalten, es ist seine Luft zum Atmen. Deswegen sind Streit, Zwietracht und Widerstand konstitutives Element entspiritualisierten Zusammenlebens.
Das Ego in seinem egozentrischen Tunnelblick wird schnell übergriffig: Es drängelt sich vor, redet pausenlos, ohne jemand zu Wort kommen zu lassen, produziert taktlose oder rassistische Bemerkungen, mischt sich ungebeten ein, belehrt ständig usw. Es erkennt das aber nicht, weil im Programm der Selbsterhaltung eine Art Untermenü existiert, das verhindert, eigene Fehler zur Kenntnis nehmen zu können. Andernfalls könnte das Programm nicht weiter bestehen. Das ist in der Geschichte vom Splitter und vom Balken abgebildet.
Wenn das Ego sich taktlos, vorwurfsvoll oder rücksichtslos verhält, merkt es selbst das nicht, aber die anderen Egos nehmen es sofort wahr und keilen zurück, weil sie sich verteidigen wollen. Diese erkennen das eigene Programm der Aggression und des Zurückschlagens natürlich auch nicht; aber sie erkennen es im anderen wieder. Auf die Übergriffe erfolgt deshalb eine aggressive Abwehrreaktion, worauf hin das erste Ego sich angegriffen fühlt und auch hochgeht: „Der hat angefangen.“ Schon schaukelt sich der Zwist hoch und der Konflikt ist da. Der Trick dabei ist, dass das Ego, weil es blind für das eigene Fehlverhalten ist, es dadurch fertigbringt, im Handumdrehen aus seiner Täterschaft ein Opferbewusstsein zu machen, das ihm die Legitimität verschafft zurückzuschlagen, obwohl es selbst unbewusst angefangen hat. Dies ist ein zentrales Instrument des Ego, um seine Täterschaft zu verbergen. Eine satirische Verarbeitung dieses Prinzips findet sich bei Loriot in seinem Sketch „Kosakenzipfel.“