„Wendet euch nicht ab,      
sondern schauet, ihr braven Bürger,
den jungen Neonazis,
die in eurem Staat von Neuem       
den Glauben an den alten Irrsinn gelernt haben,   
tief in die Augen.    

Ihr schaut nicht genau genug hin,  
wenn ihr in diesen blauen oder braunen    
oder auch grauen Augen     
nicht einen Augenblick lang
euer eigenes Spiegelbild seht.“

Im Jahr 1983 hat Erich Fried in seinem Gedichtband „Es ist was es ist“ diese Verse mit dem Titel „Ärgernis“ verfasst. Wie kommt der Dichter dazu, einen braven Bürger in einen Topf mit einem Nazi zu werfen?

Es gibt eine Reihe von Anzeichen dafür, dass in der Ego-Bewusstseinswelt des Durchschnittsbürgers eine Wesensgleichheit mit Nazi-Gedankengut verbreiteter ist als es aussieht. So ist es erst einmal unter Soziologen einigermaßen Konsens, dass ca. 15 – 20 % der Deutschen – nicht nur der Deutschen – latenten oder offenen Rechtsextremismus vor allem in Form von Rassismus in den Köpfen haben. (Vielsagend: Nach dem NSU-Prozess ist die Präsenz der rechten Szene nicht etwa gesunken, sondern gestiegen.)

Der Rassismus durchsetzt sämtliche Schichten der Gesellschaft (Wilhelm Heitmeyer). Es sind ja nicht nur solch herablassende Sprüche wie: „Der Schwarze schnackselt halt gern“ (Thurn und Taxis) oder in einem Vortrag: „Wenn wir Kraftwerke nach Afrika geben, dann „… hören die auf, … …, wenn´s dunkel ist, wenn wir sie elektrifizieren, Kinder zu produzieren.“ (Tönnies). Das deutliche Erstarken populistischer Kräfte in fast ganz Europa – ausgelöst durch Globalisierung und Flüchtlingsbewegungen ist unübersehbar. Dennoch scheint es vermessen, Fried zu folgen, der Nazimerkmale in jedem Menschen sieht.

Die „Gewalt, die alle bindet“

Der folgenden Betrachtung liegt das Psychogramm des Ego in jedem Menschen zugrunde (s. Kap. 2). Danach sind zentrale Merkmale folgende:  

Dem Ego geht es durch seine Säugetiernatur ausschließlich um sich selbst.
Es ist außerstande, sich um etwas zu kümmern, was außerhalb seiner eigenen Person liegt. Äußere Dinge kann es nur mit Bezug auf sich selbst sehen: Die Szene des Fahrers, der die alte Frau angefahren hatte, ausgestiegen war, die Frau nicht beachtete, sein Nummernschild richtete und weiterfuhr, dokumentiert hinreichend seine komplett egozentrierte und empathiefreie Haltung. Dabei ist nicht die Person des dreisten Missetäters der eigentlich Verantwortliche, sondern die animalische Ego-Steuerung des Überlebens in ihm. Das Tier kennt keine Fremdenliebe.

Der betreffende Fahrer ist nicht etwa eine Ausnahme. Immer wiederkehrende Studien dokumentieren, wie unfassbar viele Passanten an einem scheinbar Verletzten, drapiert am Straßenrand, vorbeigehen und damit ihre durch den barmherzigen Samariter gekennzeichnete Bestimmung missachten. Damit wird deutlich, dass die generelle Menschheitspsychose des Selbsterhalts dafür verantwortlich ist, und auch, was „die Gewalt, die alle bindet“ in uns allen anrichtet. Es gibt einen eindrucksvollen Videoclip einer Bank-Überwachungskamera, die einen vor einem Geldautomaten liegenden bewusstlosen Mann zeigt und die vielen Kunden, die zum Automaten über ihn hinwegsteigen und sich nicht um ihn kümmern.

Erich Fromm, dem die folgenden Zuspitzungen zu verdanken sind (Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen), führt zwei Beispiele dieser generellen egozentrischen Weltsicht im Menschen an:
„Jemand ruft beim Arzt an und verlangt einen Termin. Der Arzt sagt, er habe in dieser Woche keinen mehr frei und schlägt einen für die folgende Woche vor. Der Patient besteht darauf, schon früher einen Termin zu erhalten, und gibt als Erklärung an, …, er (!) wohne ja nur fünf Minuten von der Praxis entfernt.“

Es liegt auf der Hand, dass dieser Patient nicht mehr nur besonders narzisstisch ist, sondern die pathologische Grenze längst überschritten hat, denn seine Egozentrik zeigt die Ausblendung von allem, was sich außerhalb seines persönlichen Interesses abspielt.

Ein weiteres klassisches Beispiel ist das allzu oft zu beobachtende Verhalten des Mannes, der über die Frau, die er liebt und die seine Liebe nicht erwidert, sagt: „Es ist unmöglich, dass sie mich nicht liebt, wo ich (!) sie doch so sehr liebe.“ (Erich Fromm: Die Seele des Menschen. Kapitel 4).

 Eine aktuelle Version („Frau anderthalb Stunden im Treppenhaus vergewaltigt“; t-online, 10. Juni 2022) lautet:
„Der Angeklagte … soll zu seinem Opfer gesagt haben, es handele sich nicht um eine Vergewaltigung, da er sich in sie verliebt habe.“

Die verborgene Tiefenstruktur der Selbsterhaltung äußert sich jeden Tag in jedem Menschen. Die Menschen sind derart befangen in ihrer Oberflächenverhaftung, Unbewusstheit und Egozentrik, dass das Programm sich zunehmend unverhüllter und dreister breitmachen kann, ohne dass sie es bemerken. Da sind die von jeglichem Gefühl für Mitmenschen befreiten Gaffer, es sind die Passanten, die Rettungssanitäter angreifen, die Poser, die Raser, die sich illegale Autorennen durch Innenstädte liefern („2017-2019 in Berlin über 1200 Vorfälle), die Helikoptereltern („Ich muss mit auf Klassenfahrt – meine Tochter kann sonst nicht schlafen“; Greiner/Padtberg), die Pädophilen – mittlerweile als Massenphänomen. 2018 gab es 14.600 Fälle von Kindesmissbrauch, darunter Vergewaltigung von Säuglingen, was 40 Fälle pro Tag bedeutet – ohne Dunkelziffer.

Selbstbezogenheit produziert automatisch mehr und mehr Empathiefreiheit: In einer Facebook-Gruppe kursiert das von einem extrem rechten Parteifunktionär gepostete Bild einer Pizzaschachtel, auf der das Foto von Anne Frank aufgeklebt ist und die Überschrift „ofenfrisch“ enthält.

Das gesamte unbewusste Verhalten des Ego ist darauf gerichtet, sein labiles Ich aufzuwerten und damit seine Erhaltung abzusichern.
Weil das Ego keinerlei Empfindung für die Außenwelt hat, fühlt es sich folgerichtig allein und ist daher unbewusst verängstigt. Die Konsequenz daraus ist, sich aufzuplustern, um die eigene Schwäche zu verdecken. Das kann man auch bei jeder Hauskatze sehen, die sich bei Gefahr querstellt.

Wirkt aber die Aufplusterung nicht, diktiert der Selbsterhaltungstrieb nur noch die aggressive Beseitigung derjenigen, die die „Bedrohung“ aufrechterhalten. Ein klassisches Beispiel ist der Hitlerfaschismus mit seiner Vernichtung aller Andersdenkenden und „Feinde“, zuerst aller Sozialdemokraten und Kommunisten, dann der Medien und dann der Juden. (Eine wichtige Rolle in der Nazipropaganda der Ausgrenzung spielt der Begriff „Volkskörper“, weil er suggerieren will, dass es sich um eine Art Organismus handele, der durch interne und äußere Angreifer gefährdet sei, sich daher durch Homogenität rein erhalten und folglich alle Feinde beseitigen müsse.) Auf der individuellen Ebene entspricht das z. B. den Intrigen gegen Karrierekonkurrenten in der Firma oder dem Kampf gegen Nebenbuhler im Sport, in der Politik, im Privatleben, usw. Deshalb ist es typisch für das Aufwertungsprogramm von „unten“, dass es jegliche Zuwanderung als tödliche Bedrohung auffasst und bis aufs Blut bekämpft.

Dass das Ego in jedem Menschen rumort, kann man überdeutlich daran sehen, dass die Gegner der Rassisten diese als „Pack“ o. ä. bezeichnen und im Prinzip dasselbe Geschäft der Abwertung betreiben, wenn auch mit deutlichem quantitativem Unterschied. Faschismus ist „nur“ eine extreme Form der Egozentrik jedes Menschen. Seinen „Nazi-Koeffizienten“ könnte jeder dadurch selbst ermessen, wie weit seine Fremdenliebe (Mt. 5,44) reicht: Ist er in Bezug auf Fremde integrativ oder ausgrenzend eingestellt wie am Beispiel der einen Million Kriegsflüchtlinge 2015 aus Syrien und der Bootsflüchtlinge über das Mittelmeer oder hätte er etwas gegen einen afrikanischen Wohnungsnachbarn einzuwenden.

Wer annimmt, dass die einheimischen Deutschen 1944/45 die 14 (!) Millionen deutscher Flüchtlinge aus den Ostgebieten – auf der Flucht vor der sowjetischen Armee – solidarisch aufgenommen hätten, einfach, weil die auch Deutsche waren und weil die auch deutsch sprachen, der irrt: Die mussten untergebracht werden, weil die Nazi-Bürgermeister ihrerseits dazu gezwungen wurden. Vor allem aber war der Selbsterhaltungstrieb ja jetzt nicht geknebelt. Im weitgehend massenmedial verbreiteten Gegenteil:
„Flüchtlingsschweine.“
„Hinaus mit dem Flüchtlingen aus unserm Dorf.
Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft.“
„In die Nordsee mit diesem Schiet!“
„Die Flüchtlinge fressen sich dick und fett und stehlen uns unser letztes Bett.“
„Gehören die Flüchtlinge nach Auschwitz?“

(Alle Zitate nach Kossert, A.: Kalte Heimat. 4. Kapitel)
Und diese Reaktionen haben ja bis in die 70er Jahre und darüber hinaus nachgewirkt.

Auch zeigt die aktuelle Entwicklung immer neuer Höchststände von Hass- und Gewaltkriminalität, von Todeslisten, Hetzjagden, Terroranschlägen wie in Oslo, Hanau oder Christchurch von rechts und Angriffen auf Polizisten und Verwüstung ganzer Stadtteile in Hamburg (G 7) von links, dass in allen Tätern dasselbe Ego-Programm von Wut und Hass herrscht, das den unbewussten Minderwertigkeitskomplex durch das Bestreben nach Aufwertung durch Gewaltanwendung gegen „Feinde“ kompensieren will. Das (meist männliche) Ego im Menschen ist grundsätzlich unbewusst ängstlich, möchte immer rundum abgesichert sein, will beachtet werden, will immer etwas Besonderes oder gar Besseres sein. Die Nazis sagten über sich „arische Rasse“ und redeten andererseits von „Untermenschen“, modern hört sich das an wie „Wir sind das Volk“ oder „They aren’t people, they are animals.“

Abwertung als Instrument der eigenen Aufwertung

Das Ego braucht ein Feindbild wie die Luft zum Atmen. Ohne einen Sündenbock (Corona als „Chinese Virus“) hat es kein Abwälzobjekt zur Selbstentlastung und damit Selbststabilisierung. Ohne einen Feind oder zumindest Andersdenkenden hätte es keine Möglichkeit, sich selbst – unbewusst – immer auf die „gute“ und überlegene Seite zu stellen. Dabei stürzt sich das Ego je nach Lage sowohl auf „Feinde“ im Innern (Juden, Demokraten, Homosexuelle, usw.) wie auch außen (Migranten, Asylbewerber, usw.). Die Dämonisierung der „anderen“ ist das entscheidende Instrument fürs Ego, sich selbst als besser zu definieren, aufzubauen und höher zu stellen; die Wortwahl der Nazis dafür lautete „Herrenrasse.“

Im gesellschaftlichen Umgang miteinander hat dieses Egoprinzip die Form des Shitstorms angenommen („Viehzeug“, „Bimbos“, „Pack“). Für das Prinzip der amerikanischen Verfassung, dass alle Menschen gleich sind („… are created equal“) fehlt den Egos auch in den USA (!) jedes Verständnis ebenso wie für den Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

Die Existenz des Individuums wird dadurch begrenzt, dass die anderen Individuen ebenfalls existieren und ebenfalls ihre Freiheit haben wollen. Dies will das Ego aber nicht verstehen, weil es seine individuelle Freiheit als unbegrenzt versteht und die Existenzberechtigung der anderen nicht sehen kann. Denn das Ego kreist nur um sich und hat kein Interesse für etwas, was nicht ich ist. Das ist der Hintergrund für die Helikoptereltern, für die Raser, die Maskengegner, die Reichsbürger, die Querdenker, die hasserfüllten Shitstormer, die Nazis („Kanaken“), usw. Die Universalität dieser Alleinvertretungsansprüche reicht vom Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche (z. B. Pius IX oder Benedikt XVI) über die Querdenkerdemos („Wir sind das Volk“), QAnon-Anhänger, rassistischen Pöbler, Maskengegner bis zu den Reichsbürgern. Die folgerichtige Weiterentwicklung ist der dann vollständige Verlust jeglicher Empathie nicht nur für Flüchtlinge: „jüdisch-bolschewistischer Untermensch“, „Alis“ oder wie gesagt: „They aren’t people, they are animals.“

Um die Aufplusterung seines Ichs zu schützen, definiert das Ego die Realität in sein Weltbild um.   
Das Egoprogramm der Triebseele im Menschen verarbeitet äußere Gegebenheiten so lange, bis sie in das eigene (bei Narzissten großartige) Selbstbild hineinpassen: Der große spanische Dichter Cervantes hat in der unsterblichen Figur des Don Quixote eine Gestalt geschaffen, die dem Leser sein verborgenes Ego unablässig vor Augen halten will, indem der getriebene Held auf der Suche nach Heldentaten unter anderem in Windmühlenflügeln riesige Feinde „erkennt“ und gegen sie anrennt. Er lernt auch nichts daraus, dass er immer wieder fürchterlich verprügelt wird.

G. A. Harker: Don Quixote fighting windmills. Wikimedia Commons. Public Domain.

Ein moderner Begriff für diesen unbewussten Trick des Ego sind die besagten „Alternativen Fakten.“ Sich die Wirklichkeit schönreden und „postfaktisch“ mit der Wahrheit bzw. Realität umzugehen, tut jeder. Diese systemische Realitätsmanipulation im Egointeresse gilt nicht nur für die Werbung, nicht nur für die Parteien, nicht nur für die Kontrahenten vor Gericht, usw., sondern jeder Einzelne biegt sich jeden Tag mehr oder weniger die Wahrheit zurecht, wenn auch nicht in diesem Umfang und dieser skrupellosen Selbstverständlichkeit. Der Hauptgrund dafür ist, das eigene Vergehen hinter der Pharisäerhaltung zu verstecken, d. h. „Gott danken, dass ich nicht so bin wie die“ und sich so auf die „gute“ Seite zu erheben. Ein typisches Beispiel für diesen allzu menschlichen Mechanismus ist es, die Verschwörungstheoretiker, Rassisten, usw. als „Pack“ zu bezeichnen.

Würde man aber sich einmal selbst „tief in die Augen schauen“, dann müsste klar werden, dass: „die „Abwehr des Offensichtlichen“ – all das auch die unsere [ist].“ (Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. SPON 20.11.2020.)

Dann müsste auch klar werden, warum rechte Bewegungen in Europa in Krisenzeiten immer stärker werden und ihre Wählerzahl zum Teil verdoppeln. Aber die rechten Bewegungen halten dem Ego in uns den Spiegel vor: Je lauter wir entrüstet schreien – auch über gerade sie – und uns aufplustern, desto mehr von ihnen ist auch in uns und desto weniger Verständnis für die Existenzberechtigung der anderen haben wir.

Natürlich frisiert nicht jeder Doktorand seine Dissertation, aber die Tendenz, sich mit fremden Federn zu schmücken, liegt in so gut wie jedem Menschen vor. Diesen Sachverhalt erahnt Hannah Arendt mit ihrem Ausdruck „Banalität des Bösen.“ Es ist aber nicht die Person, die fälscht, sondern der Trieb, der sie als ihr Werkzeug benutzt.

Das einzelne genuin schwache Ego sucht nach einer starken Gruppe und einem starken Mann. Dessen narzisstisch-wahnhaftes Ego baut sein Geltungsbedürfnis als Retter auf wie etwa Kaiser Wilhelm II.: „… ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen“, und dazu als Kämpfer gegen die Feinde: „Die Presse und die Juden … sind eine Pest. So I believe, the best would be gas!“     

Das einzelne Ego strebt danach, in einer homogenen Umgebung zu leben, einer starken Gemeinschaft anzugehören und sich einem starken Mann anzuschließen, mit dem man sich dann identifizieren kann, um sich selbst aufwerten zu können wie die Fans mit ihrer Mannschaft und einem prominenten Fußballspieler – möglichst noch mit dessen Namen auf dem T-Shirt. Schwäche sucht Stärke.        

Was das „starke“ narzisstische Ego auf der Anführer-Seite betrifft, so ist es immer bestrebt, zur Absicherung seines schwächlichen Selbstwerts die Zustimmung von möglichst vielen zu erlangen. Nach Kaiser Wilhelm II. versprachen die Nazis den Menschen das „Tausendjährige Reich.“ Modern ist dann die besagte Formel „great again.“ 

„…eine … massenwirksame Beredsamkeit, dies platt hysterisch geartete Werkzeug, womit er in der Wunde des Volkes wühlt, es durch die Verkündigung seiner beleidigten Größe rührt, es mit Verheißungen betäubt und aus dem nationalen Gemütsleiden das Vehikel seiner Größe, seines Aufstiegs zu traumhaften Höhen, zu unumschränkter Macht, zu ungeheuren Genugtuungen … macht.“ (Thomas Mann: Bruder Hitler. 1938)
Deutlich genug verbindet der Autor Hitlers Namen mit dem Prädikat „Bruder.“

Während das Ego als Individuum danach trachtet, der „eigenen“ Gruppe anzugehören, sich mit ihr zu identifizieren und sich dadurch aufwerten zu können, charakterisiert Erich Fromm den Unterschied zum kollektiven Narzissmus folgendermaßen:

„Wenn jemand sagt, ich (und meine Familie), wir sind die fabelhaftesten Leute der Leute; wir sind reinlich, intelligent, gut und anständig, [die] anderen sind schmutzig, dumm, unehrlich und verantwortungslos, dann würden ihn die meisten für ungehobelt, unausgeglichen oder gar verrückt halten.       
Wenn dagegen ein fanatischer Redner in einer Massenversammlung auftritt und an die Stelle von „ich“ und „meine Familie“ Worte wie „Volk“ (oder „Rasse“, „Religion“, „Partei“) usw. setzt, dann werden ihn viele wegen seiner Vaterlandsliebe, seiner Gottesfurcht usw. rühmen und bewundern. Angehörige anderer Völker und Nationen werden ihm dagegen eine solche Rede übel nehmen aus dem einfachen Grund, weil sie darin offensichtlich schlecht wegkommen.  …     
Der halbwahnsinnige Führer ist oft der erfolgreichste, bis sein Mangel an Objektivität, seine Wutreaktion bei jedem Rückschlag und das Bedürfnis, sein Image
von Allmacht aufrechtzuerhalten, ihn zu Fehlern verleiten, die seinen Untergang herbeiführen. … es gibt immer talentierte Halb-Psychotiker, die bereit sind, die Bedürfnisse einer narzisstischen Masse zu befriedigen.“

Dabei geht es den Zuhörern der In-Group nicht um Vernunft, sondern um Übereinstimmung! Das ist das Entscheidende, denn die narzisstische Anhängerschaft des narzisstischen Anführers ist bedingungslos treu und begeistert wie bei sonst niemandem auf Grund ihrer eigenen inneren Übereinstimmung mit dem egozentrischen angst- und wuterfüllten Algorithmus des Anführers. Das wirkt besonders in Krisenzeiten, und zwar in erster Linie bei den ökonomisch betroffenen und sich verachtet fühlenden Schichten wie z. B. im „rust belt“ oder bei einigen osteuropäischen Eliten, aber auch in zunehmendem Maß bei den Mittelschichten. Dabei spielt es keine Rolle, dass die betreffenden Führungen noch nie daran dachten, die den Benachteiligten gegebenen Versprechen in Bezug auf einen Wohlfahrtsstaat etwa zu halten.

Ein klassisches Beispiel für kollektiven Narzissmus ist die katholische Kirche mit ihrer selbstischen Beweihräucherung in Form von Geringschätzung der anderen, mit ihrem Alleinvertretungsanspruch, ihrer Unfehlbarkeitslehre, usw.

Aber auch entsprechende zeitgenössische politische Bewegungen – wahlweise Populismus, Protektionismus, Nationalismus – gehorchen allesamt dem gleichen Prinzip der Selbsterhöhung „great“ mittels rassistischer Abwertung anderer. Mit der besagten Wortwahl „They aren’t people, they are animals“ kommt die unterste Stufe der Menschenverachtung zum Ausdruck, die noch tiefer ist als die der Nazis mit ihrem Begriff „Untermensch.“ 

Die Rechtsextremen beanspruchen die Kenntnis des Allgemeinwohls, und sie suchen den starken Mann „Führer befiehl, wir folgen!“ oder „I am your voice.“ Dahinter steckt dann unser aller inneres Programm der Selbsterhaltung, dessen Überwindung das einzige Credo aller Religionen und Weisheitslehren ist.

Sicherheit nur im eigenen „reinen“ Volk
Daher Abschottung gegen Äußeres (Globalisierung, EU) und Äußere (Asylsuchende, Flüchtlinge), daher Autonomie und Kündigung von Zusammenarbeit. Im Inneren Diskriminierung von Minderheiten (wir sind Weiße/Arier, ihr seid Pack, usw.), daher Nationalismus, Patriotismus und aktuell „Remigration“, eine Formulierung, die an den 90er Jahren „Ausländer raus“ lautete, von links: „Off limits“, „Amis raus“, Brits out“ und dergleichen mehr.

„Patriotismus birgt die moralischen Requisiten für tierischen Hass und Massenmord.“ (Albert Einstein: Meine Meinung über den Krieg. USA 1920)       
„Um ein guter Patriot zu sein, muss man Feind für den Rest der Menschheit sein.“ (Voltaire: Dictionnaire philosophique. 1764)

Nationalismus entwirft das Bild einer homogenen Gemeinschaft und der dadurch scheinbaren Geborgenheit, gleich, ob es sich eine ethnische, religiöse oder sonstige „reine“ Gruppe handelt. Es kann sich auf einen Fußball-Fanclub handeln oder in ganz großem Maßstab gleich um die ganze Nation. Dahinter steckt die Angst (!) vor dem Du mit „Umvolkung“, „Durchrassung“, „Ausländerschwemme.“

Angst und Aggression, Opferbewusstsein.
Für das Ego ist ein Feindbild existenziell, weil es nur durch das Dasein eines Gegenübers die eigene Suche nach Überlegenheit verwirklichen kann. (Wut ist dabei ein besonders verlässliches Zeichen der Steuerung durch das niedere Ich.) Ohne egal welche Störer der eigenen Lesart käme es in die Nähe von Gleichheit und Brüderlichkeit, und das wäre eine Gefährdung seiner „autonomen“ Identität. Um diesen Zusammenhang zu verhüllen, entwickelt das Ego immer die scheinbare „Notwehr.“ In der Nazizeit hieß es, „Deutsche, wehrt euch!“ oder „Polen hat uns angegriffen!“ Anfang Juli 2022 verbreitet der belarussische Präsident, die Ukraine habe sein Land angegriffen. Ständig ist von „Messermännern“ und „muslimischen Invasoren“, usw. die Rede: Überall sieht es ganze Armeen von Feinden, ohne die jede rechte Bewusstseinsbildung in sich zusammenbrechen würde. Das Opferbewusstsein erstreckt sich auch auf die freie Presse als „Feind des Volkes“ (US-Präsident).

Gewalttätigkeit.
Gewalt ist das essenzielle Mittel zur Realisierung der eigenen Ziele. Selbstjustiz, Straßengewalt, staatlicher Terror, häusliche Gewalt, Gewalt im Stadion, im Geschäftsleben, usw. sind das Gegenstück zu vernunftbetonter Suche nach Ausgleich und Kompromiss und damit zu unbedingter Gewaltlosigkeit auch in existenziellen Konflikten.

Das Kainprinzip mit seiner Gewaltanwendung zur Durchsetzung eigener Vorstellungen gehört zur menschlichen Software, zum animalischen Programm. Die Widerlegung dieses Verhaltensprogramms in der Praxis hat Gandhi gezeigt (siehe Kapitel 9). Das, was die Straßenschlachten nach dem Ersten Weltkrieg und dann die SA-Schlägertrupps waren, sind heute Wünsche nach „mehr weißer Fußball-Nationalmannschaft“, rassistische Lieder auf Feiern („Ausländer raus“) ,Hetzjagden auf Flüchtlinge, Selbstjustiz (NSU), Shitstorms, Attentate, Cyberangriffe, Mass Shootings, Amokläufe, usw.

Das für das menschliche Ego durchgängige Prinzip „Mein Wille geschehe“ bedeutet, dass das spirituelle Ziel „Dein Wille geschehe!“ als Orientierung und Hingabe an spirituelle Führung außerhalb seiner Vorstellungen liegt.

Vergleicht man zentrale Merkmale der Faschisten mit denen der Psyche der normalen Durchschnittsbürger, sieht man die Übereinstimmung auf der Ebene der Prinzipien. Beide machen nichts anderes als der Steppenlöwe, der Konkurrenten wegbeißt und sein Rudel verteidigt. Damit werden Status und Selbsterhalt gesichert. Diejenigen, die heute als Rechte bezeichnet werden, machen nichts anderes als alle anderen auch, nur eben krasser: Sie leben weitaus archaischer nach unserem triebhaften Erbe. Dessen Programm heißt: Revier sichern, Nachwuchs schützen und vor allem das „Zebra töten“ (Gewaltanwendung), um selbst zu leben. Es ist das biologische Programm des Tieres. Insofern ist der Nazi alles andere als ein Sonderfall; sein Ego ist „nur“ umfassender und im Sinn des Kains-Prinzips konsequenter. In diesem Sinn wird das Motto der „Entnazifizierung“, der Entfernung der ukrainischen Eliten verständlich.

http://ru.wikipedia.org/wiki/Файл:Russe muss sterben. JPG Общественное достояние

 Ein Mindestmaß an Selbsterhaltung muss zwar sein, sonst müssten wir im Haifischbecken untergehen, aber die Verabsolutierung dieses Programms ist die Ursache allen Leids auf unserem Planeten. Wir übernehmen ungeachtet der Mahnungen der Religionen unbewusst das scheinbar selbstverständliche Programm „Ellbogeneinsatz, um zu leben.“ Von Feindesliebe keine Spur, auch innerhalb der Kirchen bzw. religiösen Organisationen nicht. Es ist weltweit auf jedem auf jedem politischen, wirtschaftlichen, nachbarlichen und ehelichen Gefechtsfeld zu sehen, der alltägliche Selbsterhaltungsinstinkt.

Diese Absurdität wird unter anderem deutlich an der Darwin-Programmatik aller rechten Bewegungen: „Survival of the fittest“, als ob das besagte Beispiel der Tiere wie selbstverständlich auch für das menschliche Leben zu gelten habe. Dieser Rückfall blendet die höhere Spezifik des Säugetiers Mensch als „Krone der Schöpfung“ aus, die jedem anderen die Liebe entgegenbringen kann wie die zu sich selbst, allerdings nicht die der emotionalen Ebene, sondern die der verstandesgemäß einsichtigen, die eben nicht Bevorzugungsliebe ist, sondern unterschiedslos.