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Für die Sexualität in unserem Leben führt ihr rein materielles Verständnis – ihre Verkürzung – letztlich so gut wie immer in ein Desaster. Die Ausblendung ihres geistigen Teils ist die Ursache für das Leid, das sich früher oder später einstellt.
Der unbewusste Hintergrund für den Drang zum anderen Geschlecht ist erst einmal, was die erotische Stufe betrifft, der Trieb, der beim Menschen lustbetont ist. Falls dieser vorherrscht, was oft genug vorkommt, also ohne Zärtlichkeit, Geborgenheit, Gefühle des Angenommenseins und Zuneigung, dann ist Sex animalisch und beseitigt lediglich den libidinösen Druck. Sehr derbe und sehr treffend drückt der islamische Weisheitslehrer Rumi das so aus: „Unsere Ehegatten verrichten in unsere Scheide nur ihre Notdurft.“ (Das Matnavi V, 3392). Sex wird dann als ausschließliches Naturgeschehen aufgefasst und als Genussmoment; die generelle Wortwahl ist „Spaß.“ Deutlicher kann man diese menschliche Egozentrik nicht zum Ausdruck bringen.
Sex ist jedoch auch und vor allem ein kosmisches Geschehen und insofern nicht nur Libido-Ziel. Sex ist auch Instrument für eine geistige Zielsetzung, und zwar als Sinnbild für Vereinigung auf dem Weg zur Einheit von Gott und Mensch (Siehe das Gleichnis vom Verlorenen Sohn) und insofern eben nicht nur in körperlicher und auch nicht nur in emotionaler Form:
Mit Einheit ist diejenige Existenzform unseres Lebens gemeint, die hinter der äußeren Unterschiedlichkeit wie etwa die der Finger an einer Hand ihre tieferliegende tatsächliche Einheit erkennt. Die Getrenntheit der Finger auf der Oberfläche verdeckt (siehe Maya im späteren Kapitel 23) ihre existenzielle Einheit, denn ohne den gemeinsamen Blutstrom gäbe es die Finger überhaupt nicht und auch nicht den Organismus insgesamt. Damit ist das Thema der Einheit allen Seins angerissen, was den meisten Menschen unbekannt ist. Der Zusammenhang zwischen Fingern und Blutstrom für den Begriff Einheit enthält zwar eine Ungenauigkeit, als er beide auf derselben materiellen Ebene abbildet: Andererseits aber zeigt er deutlich genug die betreffende geistige Wahrheit.
Auf die Frage, warum es überhaupt den wunderbaren Aspekt der gefühlsbetonten Zuneigungsliebe (Philia) des menschlichen Lebens gibt, den die Tiere nicht kennen, lautet eine vorläufige Antwort, dass der Orgasmus wahrhaft ein Götterfunken ist und über die weltlich Ebene hinausweist.
Diese nach Libido (Eros) nächsthöhere Stufe der Liebe, die Ebene der sympathischen Anziehung zwischen den Partnern (Philia), ist die emotionale Verbindungsenergie zwischen zwei Individuen, die sich gegenseitig als Unterstützung, Ergänzung, Bereicherung und gegebenenfalls Reifung suchen, einmal für Arbeitsteilung, Kindererziehung usw. und weiterhin vor allem zur Befriedigung sexueller, intellektueller und emotionaler Bedürfnisse. Das Streben nach Verbindung mit dem passenden Gegenüber und deren Verwirklichung ist dasjenige Phänomen, das gemeinhin als „die“ Liebe bezeichnet wird.
Diese Philia-Stufe der Liebe verbleibt aber auf der irdischen Ebene: Nach „oben“ auf die geistige Stufe (Agape) geht es nicht, also nicht auf diejenige, die „einander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 15,12). Jesus unterscheidet damit deutlich zwischen der „Bevorzugungsliebe“ (siehe Kapitel 1, Absatz 7; Leo Tolstoj: Auferstehung) in Bezug auf die Partner, Kinder, Eltern, Freunde usw. und andererseits seiner unterschiedslosen Liebe; diese wird im Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder in seiner Vergebung den Folterknechten gegenüber während seiner Kreuzigung verdeutlicht. Letztere ist deshalb schwer zu finden, weil das menschliche Ego weitgehend verhindert, dass diese, also Agape (siehe Kap. 17), ins menschliche Bewusstsein einzieht.
Die Erfahrungen der Menschen mit ihrer halbierten Liebe sind flächendeckend desaströs. Im Alltagsleben wird die Trieb-Sexualität, die überhaupt keinen spirituellen Bezug hat, überwiegend zum Zweck der selbstischen Befriedigung, oft als „Nummer“ praktiziert. Der (weibliche) Körper wird nicht verehrt, sondern überwiegend benutzt. Rein erotischer Sex ist im Grunde gegenseitige Selbstbefriedigung. Die höhere hingebungsvolle Erweiterung wird überwiegend von der Frau gelebt.
Die Menschen lieben unvollständig und falsch orientiert. Sie wollen nicht geben, sondern haben. Bei jeder Berührung lieben sie nicht primär den Partner, sondern in erster Linie ihre eigenen Gefühle dabei. Die gegenseitige Selbstbefriedigung besingen die Beatles unbefangen egozentriert: „And when I (!) touch you, I (!) feel happy – inside.“ Und Georg Christoph Lichtenberg ätzt:
„Wir fühlen nur für uns. …Man liebt weder Vater noch Mutter, noch Frau noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen…“ (Über äußere Gegenstände)
Die meisten Menschen erleben das Scheitern dieser Stufe der Liebe, sowohl an sich als auch an den anderen. Sie reagieren aber nicht mit der Suche nach einem Ausweg, obwohl es naheliegend wäre und obwohl die Weisheitstexte aller Religionen ihn zeigen.
Auch die alltägliche Erfahrung des Orgasmus legt eigentlich das Suchen nach mehr nahe. Die orgiastische Glückseligkeit, der für diesen kurzen Moment umfassende Frieden und das ebenso kurzfristige Fehlen von Bösem in unserer sonst Gut-Böse-Welt enthält, zeigt das „Reich Gottes“ – christlich formuliert. Es ist der Moment eines Bewusstseins, das dem buddhistischen Nirwana, also der Abwesenheit des irdischen Gut-Böse-Bewusstseins gleicht.
Partnerschaft auch mit gutem Sex endet normalerweise in Routine und Verödung. Denn auf der materiellen Ego-Ebene führt die Dominanz des Habenwollens zur Verstärkung des Mangelgefühls, das ja erst zum Habenwollen geführt hat. Vor allem aber kann diese Partnerliebe nicht die unbewusste Suche nach Vervollkommnung, nach Einheit – sowohl horizontal mit dem Partner als vertikal mit der Innensonne – erfüllen, die nur geistig erreicht werden kann.
Was die sexuelle Vereinigung betrifft, so ist es in der physikalischen Welt nicht möglich, dass zwei Körper sich auf ein und demselben Ort befinden können. Aber alle Paare unternehmen unbewusst zumindest die Schritte in diese Richtung, die zunehmend enger werden: Erst gibt es die Annäherung über Augen, Stimme und das Bachgefühl, dann Berührung über Händchenhalten, Umarmung und Küssen. Diese Verbindungsaufnahme am Körper kann dann nur noch über die im Körper gesteigert werden. Diese auf der materiellen Stufe größtmögliche Vereinigung zweier Individuen über den Geschlechtsverkehr enthält außerdem im Orgasmus den einzigen Moment geistigen Erlebens, also außerhalb von Gut und Böse – auch wenn er nur individuell erlebbar bleibt.
Eine Vervollständigung der Einheit gibt es erst auf der geistigen Stufe. Das fängt an zu funktionieren, wenn erst mal einer der Partner während der sexuellen Begegnung sein Bewusstsein auf die eigene geistige Identität (Ebenbildlichkeit) richtet und zugleich auf diejenige des Gegenübers.
Dies bedeutet, dass er das irdische Sehen einer Person auf eine Person überwindet: „Gott sieht die Person nicht an.“ (Apg. 10,34; Rö. 2,11). Dann handelt es sich um materiellen Sex mit spirituellem Bewusstsein. Diese Vereinigung der Wesenheiten – Schwimmen gegen den Strom der Triebe – erkennt man am teilweisen Aussetzen von Denken und Fühlen. Diese „sexuelle Agape“ bedeutet das Beherrschen der Lust und ist ein wichtiges Instrument für den spirituellen Aufstieg, wie überhaupt diese Form der Sexualität das Grundmuster menschlicher Sinngebung generell enthält, den Dreiklang von Absterben des Bewusstseins materieller Identität, Wiedergeburt seiner geistigen Ausrichtung und dadurch vertikale Initiation als Erhebung auf eine neue höhere Lebensform, wie es das Gleichnis vom Verlorenen Sohn zeigt und damit das Ziel der Schöpfung zeigt, den vervollkommneten, weil vergeistigten Menschen. Dieser Aufstieg aus dem materiellen Bewusstsein ins geistige zeigt sich an der Befreiung vom irdischen Leid – die Parallelen zwischen Buddhas Achtfachem Pfad und der Bergpredigt, zwischen der Sure 2 des Koran, etwa 150 ff. und dem Vers 13 im Tao Te King oder zwischen den Zehn Geboten und der Bhagavad Gita sind unübersehbar.
Bei der Frage „Willst du geben oder haben?“ gewinnt das Haben. Deshalb ist unsere Umwelt so überfüllt von sexualisierten Inhalten wie Werbung, Filmen, zotigen Witzen, Aneinanderreihung von One-Night-Stands, von abnormer werdender Pornografie usw. Insofern ist die Liebe des Ego zu sich selbst die effektive Realisierung von Anti-Einheit, die die Ursache restlos aller Leiden auf unserem Planeten ist. Sie kann aber durch wahre – darunter auch die sexuelle – Liebe auf der geistigen Stufe überwunden werden.
Die konkreten Folgen der menschlichen Version von Liebe, auch über den Triebdruck hinaus, kennt jeder Mensch, der in Partnerschaft(en) war. Es sind Abstumpfung, schleichend gestörtes Sexualverhalten, Seitensprünge, Eifersucht, Verlassensangst, Unterdrückung, Besitzdenken, Vereinnahmung, gegenseitige Abhängigkeit, Kontrollsucht usw. (Wenn das bloß die noch verliebten Brautpaare wüssten.) Die hohen Scheidungsquoten sind aussagekräftig genug. Aber auch in den noch bestehenden Ehen oder Partnerschaften herrscht früher oder später das, was jeder kennt und fast jeder erfährt, also sexuelle Leere, das epidemische Fremdgehen oder dann natürlich die zerstörerischen Trennungskriege. Ein weiteres Merkmal für die verbreitete pathogene Sexualität sieht man auch am Schürzenjäger, am Womanizer, der nicht die Frau sucht, sondern die Liebe, die nämlich gebend ist, die er aber durch seine nur nehmenden Egoprogramme nicht finden kann. Ähnliches gilt für Frauen dann, wenn sie den Sex instrumentell handhaben, indem sie den Partner durch Hingabe nur zufriedenstellen oder ihn an sich binden wollen.
Die Leiden der Menschen unter diesen Erscheinungsformen sind unendlich. Natürlich versuchen sie, sich ihnen zu entziehen oder sie erbittert zu bekämpfen. Aber sie kommen nicht einmal im Traum auf die Idee, Sinn und Zweck dieses flächendeckenden Leidens im Geschlechterkrieg zu hinterfragen (siehe Kapitel 13). Natürlich gibt es genügend Beispiele dafür, dass etwa ein Mann nach seiner dritten Scheidung zu der Einsicht gelangt, dass er wohl dies oder jenes für seine nächste Beziehung zu unterlassen hätte; aber vermutlich ist die Zahl der Uneinsichtigkeiten höher. In jedem Fall aber kennen zwar alle Menschen diese Dramen, aber nicht einmal die geringste grundsätzliche Konsequenz wird aus diesen Problemen gezogen, womit der Weg zur nachhaltigen Befreiung aus dem Leid natürlich ausgeschlossen wird.
Die Menschen stellen nur die Fragen, warum ihnen das passiert ist oder warum das ausgerechnet ihnen passiert ist oder warum es speziell mit diesem Partner bzw. dieser Partnerin geschehen ist. Kein Mensch stellt die Frage hinter diesen Fragen, wieso es erstens überhaupt diese zutiefst leidvollen Erscheinungsformen des menschlichen Lebens gibt und wo zweitens die Lösung ist. Das Leid wird gewissermaßen als naturgegeben aufgefasst, obwohl ausnahmslos jede Weisheitslehre die Menschen dazu bewegen will, den Ausweg aus diesem Leid einzuschlagen – und ihn darüber hinaus auch noch mehr oder weniger detailliert beschreibt. Während Jesus zum Beispiel in der Bergpredigt fast alle maßgeblichen Bedingungen aufzählt, besteht Buddhas gesamte Lehre sogar nur aus diesem einem großen Ziel, die Leidfreiheit zu erreichen.
Der Grund für diese unfassbare Blindheit – manche Weisheitslehrer bezeichnen sie als Schlafwandeln – ist weder Dummheit noch Unwille. Vielmehr handelt es sich um eine spezielle Blockade, die die hinduistische Weisheit Maya nennt, die Göttin der Verschleierung. (Ausführlich dazu siehe späteres Kapitel 25.)
Maya (Goethes Faust verwendet den Begriff Mephisto) ist ein Unterprogramm des Selbsterhaltungstriebes, das verhindert, dass die Menschen nach dem Auslöser für die Ursachen ihres Leidens fragen; demzufolge können sie es auch nicht abstellen. Wenn zum Beispiel in einem Kriminalfall ein Mordopfer aufgefunden wird, dann gehen die Ermittler anhand der Spuren dem Täter nach. Außerdem forschen sie nach dessen Motiv. Ob es sich dabei um Eifersucht gehandelt hat oder um Rache oder um Raub, in jedem Fall spielen solche Antriebe vor Gericht dann nur noch für das Strafmaß eine Rolle, aber die Ursache wiederum für die betreffenden Antriebe bleibt grundsätzlich unhinterfragt. Wie selbstverständlich kommt nicht zur Sprache und bleibt völlig außerhalb des Bewusstseins sämtlicher Beteiligter, dass es der Selbsterhaltungstrieb ist, die Egozentrik der Triebseele, die der Motor jeder beliebigen Untat ist – abgesehen einmal von karmischen Altlasten. Wäre ihr direkter Gegensatz, die Erhaltung aller anderen der Antrieb menschlichen Verhaltens, gäbe es keine Untaten mehr. Dies ist der Grund, warum Jesus in krasser Formulierung von Feindesliebe spricht und auch alle anderen großen Propheten und Religionsstifter nichts anderes zeigen als die Befreiung von all diesem unendlichen Leid.
Ein weiteres Merkmal der Maya ist die Täuschung des Bewusstseins der Menschen derart, dass sie erfolgreich suggeriert, dass die Erscheinung, also die Oberfläche die Wahrheit sei: Maya erklärt die irdische Person zum Menschen als solchem. Maya erklärt die Triebseele des Menschen mit ihrem Selbsterhaltungsprogramm zum gesamten Wesen des Menschen und versucht außerordentlich effektiv, die Existenz der Geistseele im Innern – als Gewissen, Bauchgefühl, Intuition usw. – zu verschleiern.
Ein klassisches Beispiel für die Handlungsweise dieser Software ist besagter Mephisto in Goethes Faust, der alles versucht, Fausts Bemühungen der Gottsuche so weit wie möglich zu sabotieren. Dies macht er mit dem Mittel der Verführung zu materiellen Genüssen und den damit verbundenen rücksichtslosen, betrügerischen, verlogenen und verführerischen Methoden.
Homer hat versucht, den Trick der Verschleierung des Hintergrundes durch die Oberfläche durch das Bild vom Trojanischen Pferd aufzudecken.
Eine treffende Darstellung (siehe obiges Bild) für das menschliche Drama und die Methode, es zu besiegen – erst recht in der Sexualität – ist das Märchen „Die Schöne und das Biest“ (La Belle et la Bête):
Die Schöne entscheidet sich bewusst, sich für das Leben ihres Vaters aufzuopfern, und zwar trotz der Klarheit darüber, ihr eigenes zu verlieren. Sie entscheidet sich also gegen ihre Selbsterhaltung, gegen ihr Ego.
Sie wird zum Schloss (reichhaltige Ausstattung des Planeten Erde) geführt, in dem ein Ungeheuer regiert, ein zweibeiniges Geschöpf mit Tierkopf und Hauern (die menschliche Ego-Tierseele: „tierischer als jedes Tier“; Goethes Faust: Auerbachs Keller).
Dort verbringt sie aber aufgrund ihres bescheidenen und liebevollen Wesens (Einfluss ihrer Geistseele) eine angenehme und freudvolle Zeit und verliebt sich in das Ungeheuer. Denn sie erkennt zunehmend das göttliche Wesen hinter der grässlichen Oberfläche und ihre Einheit mit ihm. (Die Darstellung des menschlichen Ego als Ungeheuer ist ebenfalls bei Homer in der Odyssee als Zyklop Polyphem zu finden und auch als Minotaurus in der Theseus-Sage.)
Durch ihre geistige Ausstrahlung liegt die Ungeheuer-Oberfläche im Sterben. Ihre geistige (!) Liebe zerstört sein Ego.
Die Schöne „küsst“ es sogar: Damit verweist das Märchen auf die Forderung Jesu in der Bergpredigt, seine Feinde zu lieben: Natürlich käme der irdische Mensch aufgrund seiner Lebenserfahrungen nie im Leben auf die Idee, seine Feinde etwa zu umarmen und zu küssen, und das ist auch nicht irdisch gemeint. Das hat auch Jesus nicht gemacht (Lk. 23,33). Vielmehr hat er bei den Kriegsknechten, die ihn ans Kreuz schlugen und ihn verhöhnten (Lk. 23,34), „nicht auf die Person gesehen“, sondern auf ihr göttliches Wesen, hat sie also „geliebt“, „wie ich euch geliebt habe.“ Er hat deren Triebsteuerung erkannt und deshalb darum gebeten, dass ihnen vergeben werde.
Küssen ist ein Symbol für die Vereinigung zweier Individuen oder zumindest für den Weg dazu. Es gab natürlich keinerlei irdische Einheit zwischen dem Gekreuzigten und seinen Folterknechten ebenso wenig wie zwischen der Schönen und dem Ungeheuer, aber sehr wohl auf der geistigen Ebene, also zwischen ihren Geistseelen hinter der Oberfläche der Personen. Die Schöne hat die innere Verbindung der Finger der Hand erkannt, deren gemeinsame Substanz:
„Zähle hundert Äpfel oder Quitten: Sie bleiben nicht hundert, sondern werden eins, wenn du sie zu Sirup [veredelte Stufe] machst. Die Essenz kennt keine Teilung …“ (Rumi: Das Mesnevi, Vers 685 f.)
Feindesliebe hat mit dem Begriff „Liebe“, wie er umgangssprachlich verstanden wird, also nichts zu tun, wie etwa mit Gefühlen der emotionalen Ebene. Es ist nackte Erkenntnis des Nichtsichtbaren. Die Folgen im praktischen Alltagsleben sind eminent. Wer auf seine Feinde geistig blickt und sich entsprechend zurückhaltend und korrekt verhält, erlebt Wunder über Wunder. In der sexuellen Begegnung ist zwar von Feinden keine Rede, aber das Prinzip des Durchdringens der Person zu ihrem Wesen ist dasselbe: Die geistige Sicht auf den Partner bzw. die Partnerin führt zu einer substanziellen Höherentwicklung mit ihren dann wieder weltlich harmonischen Folgen.
Die Schöne verwirklicht die Transzendierung der Oberfläche. Daraufhin verwandelt sich das Biest in den Prinzen zurück, der in ihm steckte, mit dem sie in eine erfüllte materielle Zukunft geht. Sie ist nun selbst geadelt als Königstochter: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Das ist die Station aller Wagemutigen, die den spirituellen Weg eingeschlagen haben.
Ausdrucksstark bewirkt die Schöne das Hervortreten des Eigentlichen des Menschen, der Hand im Handschuh. Zudem werden die beiden zentralen Teile des Menschen gezeigt, einmal sein Ego als Person mit dem tierischen Merkmal des Überlebensinstinktes und zum anderen sein geistiger Wesensanteil als „Prinz“, als innere Stimme, als „Vater in mir“, wie Jesus das sagt. Diese Geistseele ist der einzige Unterschied des Menschen zum Tier.
Wie Jesus durch seinen Lebensweg die Überwindung des Ego durch Tod, Auferstehung und Initiation – also Erhebung auf eine höhere Lebensstufe – zum Ausdruck gebracht hat, hat Gandhi durch sein zweimaliges, spirituell ausgelöstes Fasten bis an den Rand seines Todes sowie seine Wiederkehr aus dem Koma das gegenseitige Morden zwischen Hindus und Moslems nach der britischen Gewaltherrschaft beendet und damit das Leben der dreihundert Millionen Inder auf eine neue Stufe gehoben.
Er hat der Menschheit insgesamt dadurch auch die Struktur der spirituellen Erlösungsstationen vor Augen geführt. Deren Abfolge kommt in allen menschlichen Kulturen und Religionen zum Ausdruck: Sterben, Neugeburt und vertikale Erhebung auf eine höhere Ebene. Dies kann man bei Jona im Walfischbauch sehen und ist auch das Grundprinzip des gesamten Evangeliums.
Sogar nur auf der rein materiellen Ebene ist immer wieder beobachten, dass, wenn zum Beispiel Eltern ihr Kind durch eine bestimmte Krankheit verloren haben, sie nach leidvoller Verarbeitung des Geschehens dann mit neuer Energie etwa eine Stiftung gründen, die sich mit der Förderung der bislang unbeachteten Probleme befassen.
Die beiden Pole der Trieb- und der Geistseele – zwischen denen Jesus im Garten Gethsemane hin und her schwankt – gelten für das menschliche Leben generell und für dessen Bereich der Sexualität erst recht. Für alle Probleme, die es im Zusammenhang mit Sex gibt, ist das Fehlen der oberen Hälfte, das Fehlen des geistigen Teils der Sexualität verantwortlich. Eine noch so wundervolle Erotik, eine noch so liebevolle Zuneigung und Verbundenheit, sie sind zeitlich begrenzt und bleiben vor allem auf der Oberfläche der materiellen Welt. Deshalb sind sie der irdischen Begrenzung, also Maya, der Egozentrik schutzlos ausgeliefert (auch wenn gerade Frauen sich oft von ihrem Bauchgefühl und damit von geistigem Einfluss führen lassen). Fast jede noch so tiefe rein menschliche Liebe wird zu Routine und führt zum Abstumpfen, zu zunehmender Gereiztheit im Zusammenleben und dann zum typischen Auseinanderleben – zumindest innerlich. Maya sorgt zudem erfolgreich dafür, dass kein Mann auf die Idee kommt, dass die Probleme beim Sex auf das Tiefenprogramm der Selbsterhaltung, auf sein Ego zurückzuführen sind. Würde er sein gesamtes sexuelles Verhalten darauf ausrichten, alles für das Wohlergehen seiner Partnerin zu tun, wäre der Weg zur Problemlösung zumindest schon einmal eingeschlagen. Dasselbe gilt natürlich auch für die Frau, allerdings in weit geringerem Maß.
Aber dann fehlt noch der zweite Schritt, um zu nachhaltiger sexueller Leidfreiheit und Erfüllung zu kommen, denn solange sogar ein Anti-Ego-Kurs auf der irdisch-materiellen Ebene bleibt, wird er früher oder später von Maya unauffällig wieder einkassiert werden. Deshalb ist es existenziell wichtig, während der sexuellen Begegnung das Bewusstsein auf die spirituelle Ebene zu heben. Das ist sehr schwer, weil Maya nun alle ihre Kräfte entfaltet, den im Menschen nun mal tief und fest angelegten Überlebenstrieb (Ego), das sich nun unter Beschuss befindet, zu bewahren.
Es gibt aber keine Alternative: Das Geheimnis des Erlösungsweges besteht darin, sich seine eigene göttliche Identität (siehe Kapitel 1) bewusst zu machen und dann auch die des Partners bzw. der Partnerin. Das ist der Todesstoß für Maya, aber diese Initialzündung muss nun Monate und Jahre eingeübt werden, um Erfüllung und Leidfreiheit zu erreichen. Denn Maya gibt nie auf, auch wenn sie schwächer und schwächer wird.
Die Knebelung des tierischen Ego-Verhaltensprogramms ist das zentrale Thema des Evangeliums, es ist das Thema der Ego-Hingabe. Das gilt mehr oder weniger für alle Weisheitsschriften: „Das Opfer ist des All’s Gesetz.“ (Bhagavad Gita III, 15) Mit dieser Opferung (siehe Jesus) ist gemeint, den tierischen Instinkt der Selbsterhaltung Schritt für Schritt aufzugeben, und zwar in Richtung „DEIN Wille geschehe“ zugunsten der Alle-Erhaltung. Es geht darum, diese Überlebenssoftware der Egozentrik auf ihr Mindestmaß zu reduzieren – soweit es noch gesundheitlich, beruflich, familiär usw. noch erforderlich ist – und alle intellektuellen und intuitiven Kräfte auf die Erhaltung aller zu richten. Aber die Wirklichkeit auf unserem Planeten ist eine andere und wird (nochmal: siehe Kapitel 1) von Leo Tolstoi folgendermaßen beschrieben:
„Wie in einem jeden Menschen lebten auch in Nechljudov zwei Menschen, der moralische Mensch, der sein Wohl im Wohl der anderen suchte und der tierische Mensch, der nur sein eigenes Wohl suchte und diesem Wohl die ganze Welt zu opfern bereit war …“
(Leo N. Tolstoi: Auferstehung; Band I, Kap. 14)
Für die Menschen ist der Inhalt der Formel „Dein Wille geschehe“ ein Fremdwort, weil, auch wenn sie die Bergpredigt kennen, sie keine Mittel kennen, diese Mahnung im Alltagsleben zu umzusetzen, also die Kehrtwende im Bewusstsein zu vollziehen, die ständige dialogische Führung mit Frage und Antwort durch ihre innere Stimme zu finden und sie „ihr Wohl in dem der anderen suchen.“ Prompt wären alles Böse und alle Leiden im menschlichen Leben beendet. Deshalb gibt es die Weisheitsschriften aller Religionen, deren Lehren nichts anderes als genau diese Umkehrung (Feindesliebe) anmahnen. Zwar wäre es derzeit utopisch, diese kollektiv zu erwarten, aber individuell ist das sehr wohl realistisch. Wie schwer das aber ist, weil das Ego in uns so tief verankert ist, lässt sich unter anderem am Sex drastisch ablesen.
Was die Suche nach dem „Wohl der anderen“ betrifft, so ist sie nur auf geistiger Grundlage möglich (Stichwort Feindesliebe in der Bergpredigt). Für viele Menschen ist die Reichweite ihrer Liebe auf die mehr oder weniger unmittelbare Umgebung begrenzt, auf die berufliche Umgebung oder die Nachbarschaft, vor allem auch im Bereich der Familie. Aber schon hier befinden sich Schwerpunkte egozentrischen Verhaltens in Bezug auf den bösen Nachbarn, üblen Chef, intriganten Kollegen, untreuen Ehepartner und die eigenen Entgleisungen. Und erst recht gilt dies für die sexuelle Begegnung mit ihren oben beschriebenen tiefgreifenden Problemen.
Was das Opfern erst einmal generell betrifft, so sind Opfer z. B. in Form von finanziellen Spenden etwa für Hilfsorganisationen usw. segensreich – auch karmisch -, aber wichtiger ist das gezielte Verlieren von irdischen Bewusstseinsinhalten, das Aufgeben von Wut, Neid und Angst und das Anhalten aller möglichen Regungen und Handlungen, die in irgendeiner Form mit Ich-Bezogenheit in Verbindung stehen. Jesus hat das exemplarisch unter anderem mit der Fußwaschung vorgeführt. Dieses Ranking benennt die hinduistische Weisheit sehr deutlich und lässt Gott Krishna sprechen:
„Höher als das Opfern irdischen Guts
gilt deines Herzens Opfer, Held.
Weih‘ mir Gedanken, Will’n, Gemüt,
das ist die höchste Opfertat!“
(Bhagavad Gita, IV, 33)
Der Grund für diese Gewichtung liegt auf der Hand: Während materielle Aufopferung – auch ohne versteckte Investitionsmotive – auf der horizontal-materiellen Ebene bleiben, bewirken nur die gezielt aufgebrachten Verluste an Ego eine zunehmende Befreiung vom Leiden. Das gesamte Evangelium zeigt nichts anderes als das Überwinden der Eigenschaften, die dem Ego dienen. Das gilt ebenso für die Sexualität:
1.) Ihre erste spirituelle Stufe ist die Aufopferung des Habenwollens, des Ego. Es geht darum, die eigene egoistische Triebbefriedigung zurückzufahren und das Bewusstsein für das Wohl des Sexualpartners aufzubringen.
Es sind im Besonderen viele Frauen, die das längst können, aber da diese Richtung des Energieaufwands auf der materiellen Stufe verbleibt, hat diese Qualität ihre Grenzen von Kraft und Zeit.
2.) Deshalb geht es zugleich um den zweiten Punkt: Zu der Bereitschaft des Opferns des eigenen Ego-Wohls – das im Gegenteil zu ungeahnter Fülle führt (siehe Kapitel 12) – kommt die Fähigkeit der geistigen Sicht (siehe Kapitel 6), also den Blick durch die Oberfläche der Person (Materie) hindurch auf den göttlichen Kern (Geist), auf die Geistseele (siehe Kapitel 1).

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Diese Bewusstseinserweiterung führt zwar zu einer Wandlung und teilweisen Reduzierung des genitalen Genusses, aber das kann erstens für Männer ein Vorteil sein und ist vor allem einigermaßen steuerbar. Deshalb ist diese wechselseitige Handlungsweise ein letztlich entscheidender Schritt in Richtung Höherentwicklung – eben auch mit körperlicher Befriedigung. Der islamische Sufi-Mystiker Ibn Arabi schreibt dazu:
„Wenn der Mann im Weibe Gott erschaut, dann … erschaut er ihn in seinem eigenen Selbst … und aus seinem Ich heraus, denn niemals kann man Gott losgelöst von sinnlicher Materie erschauen. … Die Anschauung Gottes in den Frauen ist die wirksamste und vollkommenste …, [denn] die innere Wesenheit ist Gott.“ (Die Weisheit der Propheten II. Kapitel: Mohammed)
In einer weiteren Sufi-Weisheit beschreibt Rumi die geistige Verschmelzung auf seine unnachahmlich poetische Art:
Jemand klopft an die Tür eines Freundes. Durch die Tür fragte der Freund, wer da sei. Der Mann antwortete: „Ich bin es.“ Der Freund wies ihn mit den Worten ab: „Verschwinde! In meinem Haus ist kein Platz für rohe Kerle.“ Der Mann ging fort und blieb ein Jahr weg. In ihm brannte der Schmerz der Trennung. Er wurde durch dieses Feuer geläutert.
Schließlich kam er zurück und klopfte erneut. Sein Freund fragte wieder: „Wer ist da?“ Der Mann antwortete: „Du bist es, der vor der Tür steht!“ Der Freund öffnete: „Da du ich bist, komm herein!“ (Mesnevi I, 3065-3075)
Das Erkennen (!) derselben eigenen Essenz im anderen (Ebenbildlichkeit) ist Liebe in Vollendung, es ist diejenige der Geistseele (siehe Kap.1). Diese geistige obere Hälfte ist ihr höchster Teil und gilt natürlich ebenfalls für die Sexualität. Es ist das Bewusstsein der Einheit wie die der besagten Finger an einer Hand. Irdischer Sex mit Eros und Philia ist nur die Stufe materieller, also irdischer Vereinigung; deshalb bleibt das eine Individuum getrennt vom anderen; und anschließend erschleicht sich das Ego bei ihnen wieder die Oberhand. Demgegenüber erreicht die geistige Stufe einen Grad von Verschmelzung, der durch die Einheit der nur auf der irdischen Ebene voneinander getrennten Finger verdeutlicht werden kann: Denn es ist der gemeinsame „Blut“strom, der das Leben der einzelnen Individuen überhaupt ermöglicht und darüber hinaus ihre ursächliche Einheit zeigt. Das Erreichen dieser Dimension des Bewusstseins – zumeist erst bei einem Partner – versetzt im Alltagsleben Berge. Dieses Resultat versucht Jesus mit dem zugegeben etwas gewagten Vergleich von Senfkorn und Berg zu verdeutlichen (Mt. 17, 20). Aber solche Beispiele gibt es nicht zu knapp im irdischen Rahmen und müssen durchaus nicht eine solch weltumspannende Dimension haben wie Gandhi, der dreihundert Millionen Inder in die Befreiung von der kolonialen Gewaltherrschaft des britischen Empires geführt hat.
Geistiges Einheitsbewusstsein in der Zweierbeziehung breitet sich aus und geht erst auf die Umgebung und dann auf Fremde über. Wenn ich dann im Bewusstsein keine Feinde mehr kenne – denn ich erkenne ihre Triebseelensteuerung, der sie ausgeliefert sind -, habe ich um mich herum auch keine mehr, kann keine mehr haben. Denn diese verlieren ihre Gegnerschaft oder (häufiger) verschwinden aus dem persönlichen Gesichtsfeld.
Es ist direkt möglich, dies sofort durch den folgenden Zweierschritt im Alltagsleben ausprobieren: Man macht sich klar, dass der böseste Nachbar oder der übelste Chef am gleichen geistigen Blutstrom hängt wie ich selbst und dieser Blutstrom nichts anderes ist als die göttliche Lebensenergie. Die Probe aufs Exempel, also die Praxis entscheidet immer über das, was Wahrheit ist.
Beim Sex kann das so gehen, dass man sich während der Liebkosungen bei den beiden göttlichen Seelen für die Einung bedankt. Es bedeutet, die Fundamente von trieborientiertem Eros und liebevoller Philia mit dem entscheidenden Element der hindurchblickenden Agape zu ergänzen, also den Aufstieg der Liebe empor zur geistigen Stufe zu vollenden; letztere besteht aus Erkennen und Verstehen. Das körperliche Erleben der nun mit Agape vervollständigten Liebe ist dann körperliche, emotionale und nun auch teilweise entpersönlichte Vervollständigung der Liebe, ihr Wesen: „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4,16).
Die geistig (!) bewusste Vereinigung mit dem geliebten Partner ist Wachstum und Hinführung nach „oben“ zur Einheit auf der geistigen Ebene (amor ascendens). Konkret formuliert das Ibn Arabi, indem er davon spricht, dass es beim Mann darum geht, „in der Frau … Gott zu erkennen.“ Dasselbe meint Lao Tse, wenn er davon spricht, „Bejahe Tao in deinem Nächsten“; (Tao Te King II, 54).
Sex enthält wie auch in allen anderen Bereichen des Lebens und der Liebe immer die Entscheidungssituation zwischen selbstisch-menschlicher (und damit oberflächlicher) oder eben spiritueller hindurchblickender und aufopfernder Ausrichtung auf Agape. Die erste dient der vorrangig eigenen materiellen Befriedigung, wohingegen die wahre (siehe Kapitel 17) Liebe die egozentrische Selbsterhaltung auf das Notwendige reduziert und im Wohl der anderen ihre tatsächliche Erfüllung findet. Das geht zum Teil auf Kosten der körperlichen Lust, wobei aber die Größe der Anteile bewusst verändert werden kann.
Was das spirituelle Leben betrifft, so gibt es nichts zum Nulltarif. Die generelle Befreiung vom Leid muss teuer bezahlt werden. Wenn Goethe in der Schlussszene von Faust II (Bergschluchten) den Chor der Engel vortragen lässt: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“, dann liegt die Betonung sowohl auf „immer“ als auch auf „streben“ und auch noch auf „Bemühen.“
Um es unmissverständlich auf den Punkt zu bringen: Dieses Streben besteht aus zwei Teilen.
(1.) Es ist einerseits das Aufgeben der Selbsterhaltung in Form der Egozentrik. Diese ist beim Sex ja das Hauptproblem. Hierbei überrascht es nicht, dass sich das mehr auf den Mann bezieht.
(2.) Zweitens geht es darum, während der sexuellen Begegnung „in der Frau zu Gott erkennen.“ Man ergänzt also die Triebdimension (Eros) und die der liebevollen irdischen Liebe (Philia) um die der geistigen „Liebe“ (Agape).
Wer dann beim Sex zumindest ansatzweise hinter die Oberfläche der materiellen Erscheinung, also der Person, schauen kann, sollte sich klarmachen, dass es aber erstmal darum geht, bei sich selber anzufangen.
Der Haken beim spirituellen Sex ist, dass (1.) ohne (2.) nicht funktioniert: Das Opfern des Ego-Verhaltens lässt sich nicht so einfach abschalten wie vielleicht eine Lampe. Das will vorbereitet werden, ist anstrengend, ist mit Rückschlägen verbunden (denn Maya bleibt nicht untätig) und dauert lange, bis es stabil wird. Ein Erfolg wäre schon, zumindest einmal für einen Moment dieses Bewusstseinselement in den Liebesakt einzubringen – im Idealfall zu Beginn („Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, dann wird euch alles zufallen.“ Mt. 6,33) Dieses geistige Bemühen ist außerordentlich anspruchsvoll, wird aber reich belohnt, denn selbstverständlich – Buddha lässt grüßen – es führt zu Leidfreiheit, was dann zum ersten Mal nachhaltig erfüllte Sexualität bedeutet.
Durch das Hinzukommen der geistigen Bewusstseinsstufe in der sexuellen Begegnung wird die Egozentrik schwer geschädigt. Die Selbsterhaltung kommt eben mit dem Kurswechsel zum Geben auf Kosten des Habenwollens nicht zurecht. Spirituellen Sex ohne Anteile der Opferung von Eigennützigkeit gibt es nicht. Wer diese aber beim Sex hingibt (amor descendens) und durch die Oberfläche der Person auf deren Geistseele hindurchblickt – was in der Meditation eingeübt wird – setzt auch Karma in Gang, diesmal aber den positiven Bumerang: „Was ihr sät, werdet ihr ernten!“ In Bezug auf das Sexthema bedeutet es, dass dem, der gibt, gegeben wird. Insofern geht spiritueller Sex über die Verringerung der sexuellen Selbstbezogenheit (des Mannes) hinaus und wendet sich nach innen zur eigenen geistigen Führung, zur Intuition und weiterhin zu der des Partners/der Partnerin, um wie gesagt „in der Frau … Gott erkennen.“
Diese Verlagerung hat aber nichts mit platonischer, also sexuell enthaltsamer Liebe zu tun. Zwar gibt es spirituellen Sex ohne Opfer von durchgängiger körperlicher Lust nicht, weil die geistige Energie der Lust Anteile wegnimmt, das berührt aber nicht die Intensität. Wer diesen geistig induzierten Sex ausübt, bemerkt überrascht, dass sein Liebesbedürfnis durch seinen früheren konsumptiven Sex niemals ganz gestillt werden konnte. Und er erfährt, dass diese Liebe aus der Egozentrik herausführt und dass das „höchste Glück der Erdenkinder“ (Goethe: Westöstlicher Diwan) sich keineswegs auf die eigene Persönlichkeit bezieht, sondern aus der Hingabe an den anderen besteht. Dazu führt Goethe weiterhin so aus: „alles Erdenglück vereinet/ find ich in Suleika nur“ (Suleika/Hatem).
Der Wechsel zwischen sexuellem Genuss und spiritueller Hingabe lässt sich in verschiedenen Bereichen erfahren und einüben, so zum Beispiel beim Essen. Wer vor einem Bissen (am besten vor dem ersten) dankt und sich auf die geistige Versorgung durch den „Vater in mir“ konzentriert, der stellt fest, dass der sinnlich aromatische Genuss über den Geschmack deutlich reduziert wird. Aber zugleich durchströmt einen dann Freude, wenn auch verhalten. Sie hängt von der Hingabe an die eigene Intuition ab („Man sieht nur mit dem Herzen gut!“) und auch von der Stufe der Kommunikation mit der inneren Stimme, dem Bauchgefühl, der Intuition. Sie hängt auch von der damit verbundenen Fähigkeit ab, das Prinzip „Dein Wille geschehe!“ beachten und leben zu können. Denn das wichtigste Gebot der Bibel, „Gott zu lieben von ganzem Herzen.“ (Mt. 22, 37) ist Grundsatz aller Religionen, wobei der Begriff „lieben“ missverständlich ist; denn es geht ganz und gar nicht um die Ebene der Gefühle, es geht um Wissen und Verständnis in Bezug auf die Vereinigung der Geistseele mit der des Gegenüber. Dadurch kommt die Befreiung vom Leid wie im Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Andere Religionen formulieren das klarer wie die Gita:
„Wer, ganz in mir versenkt, nur mir
sich weiht und mich stets in sich weiß
und mir all sein Vertrauen schenkt,
der ist dem Heil am nächsten, Freund.“ (XII, 2)
„Gib jeden nied’ren Glauben auf
und such nur in mir dein Heil.
Von Schuld und Leid erlös‘ ich dich
dann gänzlich, Held. Sei ohne Sorg‘. (XVIII, 66)
So wird das individuelle Alltagsgeschehen zum Paradies auf Erden, und zwar nicht erst irgendwann im Jenseits, sondern schon im Hier und Jetzt, siehe Hiob oder wieder die Gita:
„Wer durch sein Tun bewusst den ehrt,
der einst die Wesen werden ließ
und dessen Kraft die Welten trägt,
der hat Vollendung hier erreicht!“ (XVIII, 46)
Die Kirchen hingegen verweisen auf die Erfüllung der Liebe aufs Jenseits. Dem gegenüber betont Jesus in der Bergpredigt: „Sie werden das Erdreich besitzen.“