Entscheidend für unser Leben ist die Abspaltung der materiellen Liebe von ihrer geistigen Dimension. Das gilt auch für die sexuelle Begegnung.

Der unbewusste Hintergrund für den Drang zum anderen Geschlecht ist erst einmal, was die erotische Stufe betrifft, der lustbetonte Trieb. Falls hier allerdings reiner Sex vorherrscht, was oft genug vorkommt, also Zärtlichkeit, Geborgenheit, Gefühle des Angenommenseins und Zuneigung fehlen, dann ist Sex animalisch und beseitigt lediglich den libidinösen Druck. Sehr derbe und sehr treffend drückt der islamische Weisheitslehrer Rumi das aus: „Unsere Ehegatten verrichten in unsere Scheide nur ihre Notdurft.“ (Das Matnavi V, 3392).

Sex wird dann als ausschließliches Naturgeschehen aufgefasst und als Genussmoment; die generelle Wortwahl ist „Spaß.“ Deutlicher kann man die Egozentrik nicht zum Ausdruck bringen. Sex ist jedoch auch und vor allem ein kosmisches Geschehen und insofern nicht nur Libido-Ziel. Sex ist auch Instrument für eine geistige Zielsetzung als Sinnbild für Vereinigung eben nicht nur in körperlicher Form. Denn auf die Frage, warum es überhaupt diesen wunderbaren Aspekt menschlichen Lebens gibt, den die Tiere nicht kennen, lautet eine vorläufige Antwort, dass der Orgasmus wahrhaft ein Götterfunken ist und über die fleischliche Ebene weit hinausweist.  

Die nach Libido (Eros) nächsthöhere Stufe der Liebe, die sympathische Anziehung zwischen Mann und Frau (oder auch zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern), die Ebene der Philia, ist die emotionale Verbindungsenergie zwischen zwei Individuen, die sich gegenseitig als Ergänzung und Vervollkommnung suchen, und zwar einmal für Arbeitsteilung, Kindererziehung, usw. und weiterhin vor allem emotional. Das Streben nach Verbindung mit diesem passenden Gegenüber ist dasjenige Phänomen, das gemeinhin als Liebe bezeichnet wird. Diese Philia-Stufe der Liebe verbleibt aber auf der irdischen Ebene, nach „oben“ auf die geistige Stufe geht es nicht, also auf diejenige, die „einander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 15,12). Jesus unterscheidet damit deutlich zwischen der „Bevorzugungsliebe“ (siehe Kap. 1: Leo Tolstoj) und seiner unterschiedslosen Liebe, wie sie im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter verdeutlicht wird. Letztere ist deshalb schwer zu finden, weil das menschliche Ego verhindert, dass so etwas, also Agape (siehe Kap. 17), in menschliches Bewusstsein einzieht.

Die Erfahrungen der Menschen mit ihrer halbierten Liebe sind flächendeckend desaströs. Im Alltagsleben wird die Trieb-Sexualität, die keinen spirituellen Bezug hat, überwiegend zum Zweck der selbstischen Befriedigung, oft als „Nummer“ praktiziert. Der (weibliche) Körper wird nicht verehrt, sondern überwiegend benutzt. Rein erotischer Sex ist im Grunde gegenseitige Selbstbefriedigung. (Eine hingebungsvoll sympathische Erweiterung wird überwiegend von der Frau gelebt.)

Die Menschen lieben falsch. Sie wollen nicht geben, sondern haben. Bei jeder Berührung lieben sie nicht den Partner, sondern ihre eigenen Gefühle dabei. Die gegenseitige Selbstbefriedigung besingen die Beatles unbefangen egozentriert: „And When I (!) Touch You, I (!) Feel Happy – Inside.“ Die meisten Menschen erleben das Scheitern ihrer Liebe, sowohl an sich und/oder an anderen. Sie reagieren aber nicht mit der Suche nach einem Ausweg, obwohl es naheliegend wäre und obwohl die Weisheitstexte aller Religionen ihn zeigen. Auch die alltägliche Erfahrung des Orgasmus legt eigentlich das Suchen nach mehr nahe. Die orgiastische Glückseligkeit, der für diesen kurzen Moment umfassende Frieden und das ebenso kurzfristige Fehlen von Bösem in unserer sonst Gut-Böse-Welt enthält, ist das „Reich Gottes“ – christlich formuliert. Es ist ein Bewusstseinszustand, ein Bewusstsein, das dem buddhistischen Nirwana, also der Abwesenheit irdischen Gut-Böse-Bewusstseins gleicht.

Partnerschaft auch mit gutem Sex endet normalerweise in Routine und Verödung. Denn auf der materiellen Ego-Ebene führt die Dominanz des Habenwollens zur Verstärkung des Mangelgefühls, das ja erst zum Habenwollen geführt hat. Vor allem aber kann die Partnerliebe nicht die unbewusste Suche nach der anderen „besseren Hälfte“, nach Einheit nicht voll erfüllen.

Was Vereinigung mit dem Ziel der Einheit betrifft, so ist es in der physikalischen Welt nicht möglich, dass zwei Körper sich auf ein und demselben Ort befinden können. Aber alle Paare gehen zumindest unbewusst die Schritte der zunehmend enger werdenden Verbindung: Erst gibt es über eine gewisse Distanz eine Kontaktaufnahme über Augen und/oder Stimme, dann Berührung über Händchenhalten, Umarmung und Küssen. Diese Verbindungsaufnahmen am Körper kann nur noch über die im Körper gesteigert werden Diese auf der materiellen Stufe ultimative Vereinigung zweier Individuen über den Geschlechtsverkehr enthält außerdem im Orgasmus den einzigen Moment geistigen Erlebens, auch wenn er nur individuell erlebbar bleibt. (Eine vollständige Verschmelzung ist auf der physikalischen Stufe diejenige von Spermium und Eizelle, bleibt natürlich unbewusst.) Eine vollendete Einheit, wie sie in der ersten Schöpfungsgeschichte gezeigt wird, also die Geschichte mit  der Rippe, gibt es erst auf der geistigen Stufe, also wenn beide Partner – natürlich nicht nur beim Sex – während der Begegnung ihr Bewusstsein zugleich auf ihre eigene Ebenbildlichkeit und auf diejenige des Partners richten.

Bei der Frage „Willst du geben oder haben?“ gewinnt das Haben. Deshalb ist unsere Umwelt so überfüllt von sexualisierten Inhalten wie Werbung, Filmen, zotigen Witzen, Aneinanderreihung von One-Night-Stands, von härter werdender Pornographie usw. Insofern ist die Liebe des Ego zu sich selbst die Realisierung von Anti-Einheit, die nur durch wahre Liebe (geistige Stufe) überwunden werden kann.

Ohne die Selbstlosigkeit spiritueller Liebe kann keine wahre Vereinigung erreicht werden. Die konkreten Folgen kennt jeder Mensch, der in Partnerschaft(en) war. Es sind Abstumpfung, schleichend gestörtes Sexualverhalten, Seitensprünge, Eifersucht, Verlassensangst, Unterdrückung, Besitzdenken, Vereinnahmung, gegenseitige Abhängigkeit, Kontrollsucht usw. Die hohen Scheidungsquoten sind aussagekräftig genug. (Wenn das die so sehr verliebten Brautpaare wüssten.) Vor allem in den noch bestehenden Ehen oder Partnerschaften herrscht früher oder später das, was jeder kennt und fast jeder erfährt, also sexuelle Leere, oft aber auch schon Disharmonie. Ein weiteres Merkmal für die verbreitete pathogene Sexualität sieht man auch am Schürzenjäger, am Womanizer, der nicht die Frau sucht, sondern die Liebe, die nämlich gebend ist, die er aber durch seine nur nehmenden Egoprogramme nicht finden kann. Ähnliches gilt für Frauen dann, wenn sie den Sex instrumentell handhaben, indem sie den Partner durch Hingabe nur zufriedenstellen oder ihn an sich binden wollen. Für alle Probleme, die es im Zusammenhang mit Sex gibt, ist das Fehlen der dritten Stufe, das Fehlen des geistigen Teils der Sexualität verantwortlich. Eine noch so wundervolle Erotik und eine noch so liebevolle Zuneigung und Verbundenheit, die dennoch auf der Oberfläche der materiellen Welt bleiben, ersetzen nicht die tiefe Freude der Erfüllung durch eine höhere Ich-Du-Vereinigung im Bewusstsein, die, wenn auch nicht absolute Einheit, aber zumindest weitest mögliche bewirkt.   


In der islamischen Sufi-Weisheit beschreibt Rumi diese Verschmelzung auf seine unnachahmlich poetische Art:   
„Jemand klopft an die Tür eines Freundes. Durch die Tür fragte der Freund, wer da sei. Der Mann antwortete: „Ich bin es.“ Der Freund wies ihn mit den Worten ab: „Verschwinde! In meinem Haus ist kein Platz für rohe Kerle.“ Der Mann ging fort und blieb ein Jahr weg. In ihm brannte der Schmerz der Trennung. Er wurde durch dieses Feuer geläutert.    
Schließlich kam er zurück und klopfte erneut. Sein Freund fragte wieder: „Wer ist da?“ Der Mann antwortete: „Du bist es, der vor der Tür steht!“ Der Freund öffnete: „Da du ich bist, komm herein!“  (Mesnevi I, 3065-3075)

Das Erkennen (!) der derselben Essenz im anderen ist die wahre Liebe, es ist diejenige der Geistseele (siehe Kap.1). Dieser geistige dritte ist der höchste Teil der Liebe und natürlich ebenfalls der Sexualität. Es ist das Bewusstsein der Einheit wie die der Finger an einer Hand. Während irdischer Sex mit Eros und Philia die höchstmögliche Stufe materieller, also irdischer Vereinigung ist und deshalb das eine Individuum getrennt vom anderen Individuum bleibt, leistet die geistige Stufe einen Grad von Verschmelzung, der durch die besagte Einheit der Finger verdeutlicht werden kann; denn es ist der gemeinsame Blutstrom, der das Leben der einzelnen Individuen überhaupt ermöglicht und darüber hinaus deren ursächliche Einheit zeigt. Das Erreichen dieser Dimension während der intimen Begegnung – zumeist erst bei einem Partner– versetzt im Alltagsleben Berge. Die hauptsächliche Erfahrung  besteht daraus, dass diese Einheitsbewusstsein sich aus der Zweierbeziehung ausbreitet  und auf erst Nächste und dann Fremde übergeht. Wenn ich dann im Bewusstsein keine Feinde mehr kenn, habe ich um mich herum auch keine mehr, kann keine mehr haben. Es ist möglich, das sofort durch den folgenden Zweierschritt ausprobieren: Man macht sich klar, dass der böseste Nachbar oder der übelste Chef am gleichen geistigen Blutstrom hängt wie ich selbst und dieser Blutstrom nichts anderes ist als meine Selbsterkenntnis als innerem Lichtwesen mit unendlichem Potenzial. Diesen Zusammenhang versucht Jesus mit dem zugegebenermaßen etwas gewagten Vergleich von Senfkorn und Berg zu verdeutlichen (Mt. 17, 20).   

Die spirituelle Selbsterkenntnis eben auch in der Sexualität ist im Gegensatz zu Eros und Philia das einzige und entscheidende Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet.

Sex verflacht schnell als Konsum-Akt, und das ist der Regelfall. Jedoch enthält er die Möglichkeit, durch die geistig (!) bewusste Vereinigung mit dem geliebten Partner die Liebe selbst zu erfahren. Man kann den Sexualakt – maximale Vereinigung auf der materiellen Ebene – als Wachstum und Hinführung nach „oben“ zur Einheit auf der geistigen Ebene verstehen (amor ascendens: die über Philia hinausgehende, emporsteigende und sich so vervollständigende Liebe). Konkret formuliert das Ibn Arabi, indem er davon spricht, dass es beim Mann darum geht, „in der Frau … Gott zu erkennen.“ Dasselbe meint Lao Tse, wenn er davon spricht, „Bejahe Tao in deinem Nächsten“; (Tao Te King II, 54).        
Das kann so gehen, dass man sich während der Liebkosungen bei den beiden göttlichen Seelen für die Einung bedankt. Es bedeutet, die Fundamente von trieborientiertem Eros und liebevoller Philia mit dem entscheidenden Element der Agape zu ergänzen, also den reifenden Aufstieg der Liebe empor zur geistigen Stufe zu vollenden; letztere besteht aus Erkennen und Verstehen. Das körperliche Erleben der nun mit Agape vervollständigten Liebe ist körperliche, emotionale und nun auch geistige partnerschaftliche Vervollständigung der Liebe, ihr Wesen: „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4,16).

Sex enthält wie auch in allen anderen Bereichen des Lebens und der Liebe immer die Entscheidungssituation zwischen selbstisch-menschlicher und spiritueller Ausrichtung auf Agape. Die erste dient der vorrangig eigenen materiellen Befriedigung, wohingegen die wahre Liebe die egozentrische Selbsterhaltung auf das Notwendige reduziert und in der Erhaltung der anderen ihre tatsächliche Erfüllung findet.

Wer die wahre Liebe erfahren will, muss die Formen irdischer Liebe hin zum geistigen Teil der Seele erweitern, „hinaufsteigen“ (ascendens).  Das geht teilweise auf Kosten der körperlichen Lust, die Größe der Anteile kann verändert werden. Wenn das Christentum betont, dass niemand zwei Herren dienen kann (Mt. 6,24), dann äußert sich das in der sexuellen Begegnung durch das Bewusstsein einerseits der eigenen Ebenbildlichkeit und der des Partners/der Partnerin und andererseits durch die Verringerung des Anteils der körperlichen Lust – was bewusst gesteuert werden kann. Die vielfältigen Möglichkeiten des praktischen Umgangs mit diesem Umstand ist den Partnern überlassen, in jedem Fall aber handelt es sich immer um eine Form des Opfers, und zwar der Opferung des Egos (Libido): „Das Opfer ist des All‘s Gesetz.“ (Bhagavad Gita III, 15)
Diese Verlagerung hat aber mit der sogenannten platonischen, also sexuell enthaltsamen Liebe nichts zu tun: Die Gestaltung der jeweiligen Anteile hängen von der bewussten Kontrolle der Partner ab. Spirituellen Sex ohne Opfer, also mit eingeschränkter Lust, gibt es nicht, denn die geistige Energie nimmt der Lust Anteile weg, nicht aber Intensität. Wer diesen geistig induzierten Sex ausübt, bemerkt überrascht, dass sein Liebesbedürfnis durch seinen früheren konsumptiven Sex niemals ganz gestillt werden konnte: „No satisfaction.“ Und er erfährt, dass diese Liebe aus der Egozentrik herausführt und dass das „höchste Glück der Erdenkinder“  (Goethe: Westöstlicher Diwan) sich keineswegs auf die eigene Persönlichkeit bezieht, sondern aus der Hingabe an den anderen besteht. Dazu führt Goethe weiterhin so aus: „alles Erdenglück vereinet/ find ich in Suleika nur“ (Suleika/Hatem).

Die scheinbar widersprüchliche Kooperation zwischen materiellem Genuss und spiritueller Freude lässt sich leicht erfahren und einüben, und zwar etwa beim Essen. Wer vor einem Bissen (am besten vor dem ersten) dankt und sich auf die geistige Versorgung durch den „Vater in mir“ konzentriert, stellt fest, dass der sinnliche aromatische Genuss durch den Geschmack reduziert wird und mehr oder weniger der geistigen Freude weicht, die einen dann – wenn auch sehr verhalten – fühlbar durchpulst, zumindest nach einer gewissen Zeit.

Ein göttlicher Impuls nimmt insofern materielle Form an und verwandelt das Alltagsleben in Richtung „Paradies auf Erden“, und zwar nicht erst im Jenseits, sondern schon im Hier und Jetzt. (Den Kirchen ist diese praktische Diesseitigkeit unbekannt, sie verweisen auf die Vervollkommnung der Liebe aufs Jenseits, immer erst „post mortem.“ Dem gegenüber betont Jesus in der Bergpredigt: „Sie werden das Erdreich besitzen.“)

Der Preis für die Bemühungen spiritueller Sexualität ist vom irdischen Standpunkt hoch, denn dieses Hinaufsteigen reduziert die übliche irdischer Genussmanie wie Party, Völlerei, abnorme Pornographie, häufiger Partnerwechsel usw. durch die zunehmende Identifizierung mit dem eigenen göttlichen Wesensanteil. Die ursprüngliche Ausrichtung des Lebens auf Selbsterhaltung wird verringert durch die Orientierung auf Hingabe und Opfer, auch und gerade in der sexuellen Begegnung. Der materielle Mensch denkt diesseitig in sinnlichen Kriterien, und dies immer unter dem Vorzeichen der Selbstbezogenheit, welchem auch das sexuelle Verhalten untergeordnet ist. Das spirituelle Aufsteigen aber ist wie gesagt geprägt vom Opfern: Durch das Hinzukommen der geistigen Sichtweise in der sexuellen Begegnung und der damit verbundenen tiefen Freude wird die Egozentrik schwer geschädigt. Die Selbsterhaltung kommt eben mit dem Ausweiten des Gebens auf Kosten des Habenwollens nicht zurecht. Spirituellen Sex ohne Anteile der Opferung von Eigennützigkeit gibt es nicht. Wer diese aber beim Sex hingibt und durch die Oberfläche der Person auf deren Geistseele hindurchblickt – was in der Meditation eingeübt wird – setzt Karma in Gang, diesmal aber den positiven Bumerang: „Was ihr sät, werdet ihr ernten!“ In Bezug auf das Sexthema bedeutet es, dass dem, der gibt, gegeben wird. Insofern besteht spiritueller Sex aus der Verringerung der sexuellen Selbstbezogenheit  (des Mannes) und weiterhin aus der Reifung der geistigen Orientierung („in der Frau … Gott erkennen“).

  Dass menschlicher sexueller Verkehr übrigens nicht primär zur Fortpflanzung da ist, hat Wladimir Solowjow in seinem Essay „Der Sinn der (Geschlechter-)Liebe“ (anderer Titel: Philosophie der Liebe) im ersten Teil des ersten Aufsatzes einsichtig begründet. In der Auseinandersetzung mit Schopenhauer, der die Liebe rein als Lockmittel zur Arterhaltung sieht, entwickelt Solovjov eine Vorstellung, die mit unser aller Erfahrung beginnt, der „Vergötterung“ des/der Geliebten. In dieser Idealisierung erkennt er die Vorstufe dazu, über die äußere Erscheinung hinaus zum Wesen der geliebten Person vordringen zu können, also ihre Schönheit und Attraktivität als Abglanz Gottes zu verstehen. Das kennt jeder, der verliebt war, nämlich das Hinwegsehen über alle störenden Äußerlichkeiten oder Charakterzüge des Partners. (In der Praxis zeigt sich natürlich, dass Transzendierung des Äußeren nicht allzu lange anhält, weil das Ego bald die Aufmerksamkeit auf den Vordergrund zurückholt.) Weiterhin betrachtet Solovjov die Evolution der Säugetiere und vergleicht die Kraft der Vermehrung mit der geschlechtlichen Anziehung. Er sagt aus, dass bei steigender Entwicklungsstufe die Kraft der Vermehrung nachlassen und die der gegenseitigen Anziehung steigen würde, wobei beim Menschen die Liebe am größten sei. Er führt weiter aus, dass Mann und Frau – gleichermaßen einseitig und damit unvollständig – sich der Vollkommenheit annähern können, wenn jeder nicht nur im idealisierten Partner, sondern auch und vor allem erst in sich selbst (!) den göttlichen Kern erkennt. (Anmerkung d. Verf.: Eine geeignete Form der Einübung ist die permanente Vorstellung der Aura, die man selbst ausstrahlt.) Dadurch finde eine allmähliche Wiederherstellung der durch den Sündenfall zerstörten Einheit zwischen Person und Seele statt. Mit der materiellen Idealisierung, also Vergötterung (im Sinn von Vergeistigung!) des Partners, könne die Realisierung auf der höheren geistigen Ebene fortgesetzt werden. In der Liebe der Geschlechter zueinander offenbare sich daher der Sinn der Liebe, nämlich der allmählichen spirituellen Selbsterkennung  und der des Nächsten (Feindesliebe) und damit der bewussten Wiedervereinigung  von Mensch und Gott.