Das einzige Gegenmittel gegen diese egozentrischen Manöver sind Erkenntnis und Verständnis für die Triebsteuerung der Person, die tatsächlich nicht weiß, was sie tut. Das Aufbringen dieses Verständnisses ist die wahre Nächstenliebe:
„Hass kann nur durch Liebe überwunden werden.
(Mahatma Gandhi)
Der moderne Sufi*-Meister Vilayad Inayad Khan bemerkt dasselbe in anderer Form:
„Es ist leicht, jemanden um der Schönheit willen zu lieben, aber die Prüfung besteht darin, einen Menschen zu lieben, obwohl er die Erwartungen der anderen nicht erfüllen kann.“
*(Sufis: islamische Mystiker)
Dieses Rezept ist das einzige, das die Menschen aus dem Jammertal unseres heillosen Planeten befreien kann. Der Buddha hat schon vor über zweitausend Jahren formuliert:
„Ein Mensch soll den Zorn durch Liebe überwinden, er soll das Böse durch Gutes überwinden. … Denn Hass löst sich nicht durch Hass auf, Hass löst sich nur auf durch Liebe.“
Das geht aber nicht durch diejenige „Liebe“, wie das Ego sie versteht. Dessen „Liebe“ sieht so aus: Wenn er ihr zärtlich ins Ohr flüstert: „Ich liebe dich“, so heißt das in Wirklichkeit – unbewusst -, dass er vor allem seine eigenen Lustgefühle liebt, die ihre zarte Haut ihm bereitet.
Unsere Lippen sind ja nicht nur Spender, sondern auch Empfänger von wohligen und prickelnden Gefühlen, aber dem Ego-Anteil dient jeder Kuss primär dem eigenen Wohlbefinden. Ego und Liebe sind Gegensätze, denn Liebe hat das Wohl des anderen im Auge, das Ego seine eigenes. Für den Egoanteil des Menschen ist Liebe ein Deal.
„…wir fühlen nur für uns. …Man liebt weder Vater noch Mutter, noch Frau noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen…“
(Georg Christoph Lichtenberg: Über äußere Gegenstände)
Die wahre Liebe weiß, dass nur über das Wohl des anderen die eigene (!) Erfüllung funktioniert. (Wer dieses Wissen aber als Geschäft, als Investition versteht, wird scheitern.) Primär das Wohl des anderen zu verfolgen geht aber wiederum nur über die „Hindurchschau“ auf die Vollkommenheit im Menschen, auf seine (und auch meine) Essenz, die geistige Seele. Das pure Ego kann aber von seinem ausschließlichen Interesse für sich selbst nicht absehen. In seinem Selbstverständnis sind z. B. Steuerhöhungen schlecht, weil sie ihm persönlich nicht nützen. Dass mit den Steuern allgemeine Infrastruktur und Wohlfahrt finanziert werden, bedeutet ihm nichts.
Hass durch Liebe zu überwinden geht nur über die besagte Hindurchschau. Das führt dann fast automatisch zu der Fähigkeit des ständigen Vergebens als der Grundlage für ein harmonisches Leben.
Mit Fremden- oder gar Feindesliebe ist nicht gemeint, zum Gegner emotionale Bindungen oder gar Freundschaft aufzubauen, sondern es ist ein ausschließlich intellektueller Vorgang. Es geht um geistiges Verständnis, die Sicht auf seinen spirituellen Wesenskern durch die äußere Erscheinung hindurch („Hindurchschau“). Dies ist die Sichtweise der Seele, die sich nicht an Form und Gestalt orientiert, also nicht die Sinnenwahrnehmung nutzt, sondern mit geistigem Verständnis durch die Oberfläche hindurch auf die andere Seele schaut und die Einheit der beiden Gottesfunken erkennt. Das führt nämlich erst zur Fähigkeit der immerwährenden Vergebung. Alles Weitere kommt dann „von selbst“, besser: vom Selbst.
Das Hinwegsehen über die Oberfläche ist nicht so wirklichkeitsfremd, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr kennt es jeder: In den ersten Monaten neuer Liebe ist jeder der Partner nur allzu bereit, über alle befremdlichen Eigenarten des anderen hinwegzusehen. Es ist die Liebe, die über die negativen Aspekte der Oberfläche hinwegsieht, allerdings auf der materiellen Ebene bleibt.
Diese Fähigkeit zeigen das Volksmärchen und später der Film „Die Schöne und das Biest“, indem die Schönheit (La Belle) sich nicht an der abstoßenden äußeren Erscheinung des Monsters (La Bète) orientiert, sondern mehr und mehr seinen strahlenden Kern erkennt. Sie weiß intuitiv, dass sich hinter der Oberfläche ein Juwel verbirgt, die Seele, im Film symbolisiert durch den „Prinzen“, also den Königssohn. Dadurch befreit sie den anderen und auch sich selbst. Das ist im Film symbolisch dadurch ausgedrückt, dass sie das Monster küsst, es so zum Prinzen zurückverwandelt und sie selbst auf diese Art und Weise auf die Ebene der Königstochter erhöht wird. Bezeichnenderweise lässt diese Fähigkeit bei den normalen Liebenden durch das Drängen des Ego schnell nach. Aber sie ist eine hindurchschauende Erfahrung, die den Transfer auf die spirituelle Dimension begreiflich macht.
Wer hasst, zeigt, dass er nicht lieben kann. Insofern vergiftet Hass die Beziehungen zu anderen, am meisten aber den Hasser selbst, weil er sich selbst, d. h. seine Einstellungen dauervergiftet. Es ist eine Art Selbstverletzung. Wer würde ein Beil in die rechte Hand nehmen und sich damit die linke abhacken? Ganz sicher niemand, und doch tun genau dies die Menschen jeden Tag, weil sie das Verbindende der beiden Hände aus den Augen verloren haben.
Die Überwindung des Hasses auf andere (auch auf mich selbst) geht aber nur über die spirituelle Sicht der anderen, über die Erkenntnis ihrer geistigen Identität. Entdecke ich dann meinen eigenen Hass, rettet mich das Bewusstsein meiner eigenen spirituellen Identität. Wohin unauslöschlicher Hass letztlich führt, beschreibt Herman Melville in seinem Roman „Moby Dick“, er beschreibt den Weg zur Selbstvernichtung.
Deswegen gibt es in der Welt so gut wie keine echte Liebe, weil die sich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken lässt, sondern immer die innere Substanz des Menschen erkennt.
Dasselbe Thema findet sich im Libretto von „Schwanensee.“ Die tierische Oberfläche des Schwans, der in Wirklichkeit die Prinzessin ist, wird durchschaut.