Die Liebe ist wie die Selbsterhaltung ein psychisches Programm. Ein Programm steuert. Das Programm „Liebe“ steuert menschliches Verhalten. Die eine Form der Liebe ist die zu sich selbst, sie kommt von „unten“ aus dem Bestand unserer Säugetiernatur. Sie äußert sich als Selbsterhaltung. Die Selbsterhaltung ist insofern tatsächlich Liebe, aber nur zu sich selbst und zum eigenen Überleben auf Kosten anderer, also das Ego.
Die andere Liebe von „oben“ ist diejenige zu anderen, zur Erhaltung und zum Wohl anderer und aller anderen, und zwar unter Hingabe eigener Interessen. Diese Art der Liebe hat das Tier nicht.
Die Liebe zu Partnern, Kindern, Eltern, Freunden, usw. ist nichts anderes als eine erweiterte Form der Eigenliebe und gehört deshalb zum Ego. Diese Liebe ist Bevorzugungsliebe (siehe Tolstoj Kapitel 1). Sie unterscheidet zwischen nützlichen Objekten und denen, die es nicht sind.
Die Liebe zu Fremden ist eine Liebe, die die Weisheit des Christentums mit Fremdenliebe (Gleichnis vom Barmherzigen Samariter) oder Feindesliebe (Bergpredigt) bezeichnet. Die samaritanische Liebe schließt im Gegensatz zur bevorzugenden Liebe niemanden aus und ist insofern unterschiedslos.
Dabei hat diese Kategorie der Liebe nichts mit Zuneigung oder Gefühl zu tun: Sie ist ausschließlich das verstandesmäßige Bewusstsein der geistigen Einheit der Menschen, eine intellektuelle Einsicht unter Absehen von der materiellen Person – physisch und psychisch – und unter ausschließlichem Blick auf deren Geistseele. Die Erkenntnis der geistigen Einheit entspricht auf der irdischen Ebene dem Verstehen der Einheit der Finger an der Hand.
Der Sinn der wahren Liebe ist die Vereinigung mit dem anderen und den anderen, die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes, wie er im Gleichnis vom Verlorenen Sohn abgebildet wird. Diese Rückkehr auf die geistige Ebene („schämten sich nicht“, Gen. 2,25) ist nun aber ausgerüstet mit höherem Bewusstsein, mit Erfahrung und Verständnis von Materie („machten sich Lendenschurze“; Gen. 3,6) und Geist, von Triebseele und Geistseele und von Leid und Leidfreiheit.
Es liegt auf der Hand, dass die Befolgung von Fremdenliebe den sofortigen, einzigen und nachhaltigen materiellen Erhalt aller Menschen bedeutete. Wenn also jeder sich selbstlos verhalten würde – die essentielle Selbsterhaltung mit Ernährung, Unterbringung, usw. zugrunde gelegt -, wäre dies die wahre Selbsterhaltung, und zwar kollektiv und individuell.
Dagegen ist die flächendeckende egozentrierte Selbstliebe die Ursache für das entsetzliche Leid auf der Erde. Das ist der Grund, warum alle Weisheitslehren ohne Ausnahme die Feindesliebe betonen (Klassisches Beispiel: Gandhi), weil nur so der Erhalt der Menschheit möglich ist. Dagegen führt die Selbstliebe zu ihrer Zerstörung, wie wir jeden Tag durch Hass, Eifersucht, Betrug, Eifersucht, Vergewaltigung, Totschlag, Massaker, Umweltzerstörung sowie Kriege und deren katastrophale Folgen eindrucksvoll besichtigen können.
Der Weg zur Überwindung der tierischen Egoliebe ist der geistige Weg zur Intuition. Er führt dazu, den Zustrom von der Seele, von „oben“, zu intensivieren, um ihre Schöpferkräfte durchzulassen, die solange vom Ego von „unten“ überlagert waren. Insofern sind wir Marionetten, aber mit den Fäden in den eigenen Händen.

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Lassen wir den Zustrom von „oben“, also von innen zu, dann erkennen wir die bislang dominierende Steuerung durch das Ego. Dann können wir Feindesliebe praktizieren (siehe Kapitel 17), erkennen unsere geistige Einheit mit jedem anderen wie die Einheit der Finger ein und derselben Hand.
Diese Einsicht aber wäre tödliches Gift fürs Ego, denn dann würden mehr und mehr Vollkommenheit und Harmonie in unser persönliches Leben einströmen und automatisch entsprechende Hass- und Feindmenüs deaktiviert werden.
Im Drama „Geschlossene Gesellschaft“ des französischen Schriftstellers Jean-Paul Sartre finden sich drei Personen nach ihrem physischen Tod auf Grund ihrer irdischen Sünden in der Hölle wieder. Sie sind dort in einem Raum eingeschlossen, behelligen sich ständig gegenseitig und gehen sich so maßlos auf die Nerven: „Die Hölle, das sind [immer] die anderen.“
Bei Sartre endet das Stück mit Aussichtslosigkeit der Protagonisten. Ihnen ist die Existenz des sie beherrschenden Ego-Programms nicht bewusst, und wenn es das wäre, wüssten sie nicht, ob es überhaupt eine Lösung gibt und wo sie sich befindet. Es ist also kein Wunder, dass sie keinen Ausweg aus dieser Hölle sehen – ebenso wenig wie der Autor selbst; das dürfte ebenfalls für 99 % der Menschen gelten. Deshalb finden sie sich damit ab. Garcin sagt: „Also – machen wir weiter!“ Aber er irrt, es gibt den Ausweg. Er besteht darin, das Ego als solches und als Steuerungsprogramm von „unten“ zu entlarven und dann Schritt für Schritt zu deaktivieren. Dieser Weg besteht daraus, die Grenzziehung zwischen sich und den anderen durch praktische „Nächsten“liebe, durch das Programm der Seele von „oben“, zu ersetzen.
Die Fremdenliebe ist das hohe Basisprogramm im Menschen, im Gegensatz zu seinem niederen der tierischen Selbsterhaltung . Liebe ist allgemein die Energie der Trennungsüberwindung, der Überwindung der Gegensätze, also der Aufhebung von Grenzziehung; sie ist damit die Energie der Herstellung der Einheit, und zwar mit allem und allen, die ja alle Bestandteile der Schöpfung sind.
Egoismus ist wie gesagt auch Liebe, aber eine in die falsche Richtung, nämlich die nur zu sich selbst. Die Falschheit dieser Liebe wird von der Goldenen Regel gezeigt, die ihrerseits appelliert, sich anderen gegenüber so verhalten, wie man möchte, dass sie sich einem selbst gegenüber verhalten.
Die wahre Liebe kommt nicht von unten, von der Triebseele der Säugetiere, von der ausschließlichen Liebe zu sich selbst, sondern von oben, also von der Geistseele ausgesendet.
Sie überwindet den Selbsterhalt und konzentriert sich darauf, für die anderen Menschen da zu sein, wie es wie gesagt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gezeigt wird. Der „Nebeneffekt“ ist, dass dadurch und nur dadurch ein grundsätzlicher Selbsterhalt ermöglicht wird.
Die wahre Liebe (Agape) basiert auf dem intellektuellen Erkennen der gleichen Geistseele im anderen, ein Hindurchblick (buddh. „Tiefblick“) durch die Oberfläche der physischen Person hindurch auf ihren geistigen Kern. Für diesen Röntgenblick durch die Maske der irdischen Körperlichkeit verwendet Saint-Exupéry im „Kleinen Prinzen die Formulierung : „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“

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Wahre Liebe ist das Programm, das über die notwendige Funktion der Selbsterhaltung hinausgeht und sich auf die Erhaltung anderer bezieht. Es ist die Aufopferung, die Hingabe, das Dienen, das partielle Zurückstellen eigener Interessen zu Gunsten anderer. Diese Liebe basiert auf dem Prinzip der Überwindung der stofflichen Grenzziehungen zwischen Mensch und Mitmensch. Sie hat nichts mit der Beziehung von Person zu Person zu tun und ist insofern bewusstseinsmäßig höherer Natur. Nur deshalb kann Jesus auffordern, seine Feinde zu „lieben.“
Das Missverständnis ist naheliegend: Der Alltagsmensch versteht alles, was auch nur entfernt mit dem Begriff „Liebe“ zu tun hat, als emotionale Angelegenheit. Die geistige Liebe hat mit irdischen Gefühlen nichts zu tun, sie ist rein intellektuell und ein Akt der Erkenntnis. Nur in diesem Zusammenhang konnte Jesus am Kreuz die Vergebung für die Soldaten zum Ausdruck bringen, die ihn gefoltert und ans Hinrichtungsholz genagelt hatten.
Nochmal zum missverständlichen und irreführenden Begriff der „Nächsten“liebe. Naheliegend scheint es, dass damit die Liebe zu den Nahestehenden gemeint ist, zu Partnern, Kindern, Freunden, usw. Jedoch ist das genaue Gegenteil der Fall: Mit dem Wort „Nächster“ ist wie schon gesagt jeder andere gemeint, weil wir auf Grund der gemeinsamen Eigenschaft der Ebenbildlichkeit mehr als brüderlich einander nahe sind wie zwei Organe ein und desselben Organismus. Die jüdische Weisheit demonstriert das in Lev. 19, 34, die christliche in Lk. 10 („Wer ist der Nächste?“), indem sie die Frage mit dem Gleichnis vom Samariter beantwortet und insofern klarstellt, dass „Nächstenliebe“ sich genau nicht nur auf die emotional Nächsten bezieht, sondern auf alle und deshalb eben auch auf Feinde.
Dass die irdische – d. h. ausgrenzende – Liebe zu sich selbst, zu Partnern, Kindern, Eltern, Freunden, usw. für die Höherentwicklung keinen Wert hat, beschreibt Matthäus in 10,37. Sie ist nehmend, während die wahre Liebe gebend ist.
Jeder Mensch ist eine individuelle Mischung aus Ego und Liebe, je nach Intensität und Umfang der Einflüsse in der Erziehung und durch eigene Bemühungen. Beim männlichen Programm überwiegt der Egoanteil deutlich und ist häufig total. Beim weiblichen ist der Ego-Anteil sozusagen eher halbiert. Das sieht jeder auf den ersten Blick, nicht nur bei Pflegerinnen und Müttern. Das ist übrigens auch der Hintergrund für den Ausdruck „Gehilfin“ in der christlichen Schöpfungsgeschichte, der vor allem von Feministinnen fälschlich als Dienerin, als Bedienstete oder eine Art Sklavin aufgefasst wurde. Es geht vielmehr um die Antwort auf die naheliegende Frage: „Hilfe wozu?“ Natürlich Hilfe beim Erlernen des Liebens durch ihren Empathieanteil, was zugleich „tägliches Sterben“ des Ego bedeutet. Ohne diese „Gehilfin“, die ihm das Lieben zeigt und vorlebt, wäre der Mann verloren. Goethe wusste: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“ (Faust II, Schlussvers)
Mit dem Weiblichen sind nicht die Frauen gemeint, sondern die Eigenschaften des Weiblichen, die in jeder Frau und in jedem Mann vorhanden sind, nämlich Empathie, Hinwendung und Empfänglichkeit – bei Frauen allerdings viel mehr. Dabei geht es darüber hinaus aber nicht in erster Linie um Empfänglichkeit schlechthin, sondern um die „ewige“, die Empfänglichkeit für Impulse der Seele, für die Intuition.
Es gibt bei der Mischung aus Liebe und Ego in den Menschen viel schwarz und wenig weiß und viele unterschiedliche Graustufen. Die meisten davon finden sich auf der dunklen Seite, sonst hätten wir eine andere Welt.
Das Gegenmittel gegen den Hass
Das einzige Gegenmittel gegen diese egozentrischen Manöver sind Erkenntnis und Verständnis für die Triebsteuerung der Person, die tatsächlich nicht weiß, was sie tut. Das Aufbringen dieses Verständnisses ist die wahre Nächstenliebe:
„Hass kann nur durch Liebe überwunden werden.
(Mahatma Gandhi)
Der moderne Sufi*-Meister Vilayad Inayad Khan bemerkt dasselbe in anderer Form:
„Es ist leicht, jemanden um der Schönheit willen zu lieben, aber die Prüfung besteht darin, einen Menschen zu lieben, obwohl er die Erwartungen der anderen nicht erfüllen kann.“
*(Sufis: islamische Mystiker)
Dieses Rezept ist das einzige, das die Menschen aus dem Jammertal unseres heillosen Planeten befreien kann. Der Buddha hat schon vor über zweitausend Jahren formuliert:
„Ein Mensch soll den Zorn durch Liebe überwinden, er soll das Böse durch Gutes überwinden. … Denn Hass löst sich nicht durch Hass auf, Hass löst sich nur auf durch Liebe.“
Das geht aber nicht durch diejenige „Liebe“, wie das Ego sie versteht. Dessen „Liebe“ sieht so aus: Wenn er ihr zärtlich ins Ohr flüstert: „Ich liebe dich“, so heißt das in Wirklichkeit – unbewusst -, dass er vor allem seine eigenen Lustgefühle liebt, die ihre zarte Haut ihm bereitet.
Unsere Lippen sind ja nicht nur Spender, sondern auch Empfänger von wohligen und prickelnden Gefühlen, aber dem Ego-Anteil dient jeder Kuss primär dem eigenen Wohlbefinden. Ego und Liebe sind Gegensätze, denn Liebe hat das Wohl des anderen im Auge, das Ego seine eigenes. Für den Egoanteil des Menschen ist Liebe ein Deal.
„…wir fühlen nur für uns. …Man liebt weder Vater noch Mutter, noch Frau noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen…“
(Georg Christoph Lichtenberg: Über äußere Gegenstände)
Die wahre Liebe weiß, dass nur über das Wohl des anderen die eigene (!) Erfüllung funktioniert. (Wer dieses Wissen aber als Geschäft, als Investition versteht, wird scheitern.) Primär das Wohl des anderen zu verfolgen geht aber wiederum nur über den „Hindurchblick“ auf die Vollkommenheit im Menschen, auf seine (und auch meine) Essenz, die geistige Seele. Das pure Ego kann aber von seinem ausschließlichen Interesse für sich selbst nicht absehen. In seinem Selbstverständnis sind z. B. Steuerhöhungen schlecht, weil sie ihm persönlich nicht nützen. Dass mit den Steuern allgemeine Infrastruktur und Wohlfahrt finanziert werden, bedeutet ihm nichts.
Hass durch Liebe zu überwinden geht nur über den besagten Hindurchblick Das führt dann fast automatisch zu der Fähigkeit des ständigen Vergebens als der Grundlage für ein harmonisches Leben.
Mit Fremden- oder gar Feindesliebe ist nicht gemeint, zum Gegner emotionale Bindungen oder gar Freundschaft aufzubauen, sondern es ist ein wie gesagt ausschließlich intellektueller Vorgang. Das gilt natürlich und erst recht für die schlimmsten Verbrecher: Es geht „nur“ darum zu verstehen, dass deren Geistseele derart zubetoniert ist, dass ein Ausbruch aus dem Gestank ihrer Bosheit, Rohheit und Gewalttätigkeit fast völlig ausgeschlossen erscheint und irgendeine Aussicht innerhalb dieses Lebens, wie es die Hindu-Weisheit versteht, unmöglich erscheint.
Es gibt Ausnahmen, wie es der Fall Jürgen Bartsch zeigt. Er war einer der wenigen, die sich über die Steuerung hinter seinem Verhalten – zumindest mehr oder weniger – im Klaren waren. Bartsch war ein sadistischer pädophiler Serienmörder, der mit 16 Jahren seinen ersten Sexualmord beging. Nachdem er nach seinem vierten Mord im Alter von 21 Jahren vor Gericht stand, stand er offen zu seinen Taten und gab als Beweggrund an, unter „unwiderstehlichem Drang“ gehandelt zu haben. Zumindest war ihm klar, dass es Antriebskräfte gab, die stärker waren als er. Er wollte deswegen kastriert werden.
Habe ich jemanden erschossen, wäre es lächerlich zu sagen, „Ich war´s nicht, meine Hand war es, die abgedrückt hat.“ Und genau darauf fallen die Menschen herein, die sich auf die Hand konzentrieren, anstatt ihren Blickwinkel auszuweiten auf die Kraft dahinter, die die Untat ausgelöst hat.
Die aufgeklärte Einsicht „Don’t shoot the messenger!“ ist schon seit der Antike bekannt. Sie äußert sich in der Kritik an der Hinrichtung der Überbringer der schlechten Nachricht, anstatt nach deren Absender bzw. Verursacher zu suchen.
Es geht um geistiges Verständnis, die Sicht auf seinen spirituellen Wesenskern durch die äußere Erscheinung hindurch („Hindurchblick“). Dies ist die Sichtweise der Seele, die sich nicht an Form und Gestalt orientiert, also nicht die Sinnenwahrnehmung nutzt, sondern mit geistigem Verständnis, der Intuition, durch die Oberfläche hindurch röntgenmäßig auf die andere Seele schaut und die Einheit der beiden Gottesfunken erkennt. Das führt nämlich erst zur Fähigkeit der immerwährenden Vergebung. Alles Weitere kommt dann „von selbst“, besser: vom Selbst.
Das Ignorieren der Oberfläche, das Hinwegsehen über sie ist nicht so wirklichkeitsfremd, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr kennt es jeder: In den ersten Monaten neuer Liebe ist jeder der Partner nur allzu bereit, über alle befremdlichen Eigenarten des anderen hinwegzusehen. Es ist die Liebe, die über die negativen Aspekte der Oberfläche hinwegsieht, allerdings auf der materiellen Ebene bleibt.
Diese Fähigkeit zeigt das Volksmärchen (später verfilmt) „Die Schöne und das Biest“, indem die Schönheit (La Belle) sich nicht an der abstoßenden äußeren Erscheinung des Monsters (La Bète) orientiert, sondern mehr und mehr seinen strahlenden Kern erkennt. Sie weiß intuitiv, dass sich hinter der Oberfläche ein Juwel verbirgt, die Geistseele, im Film symbolisiert durch den „Prinzen“, also den Königssohn. Dadurch befreit sie den anderen und auch sich selbst. Das ist im Film symbolisch dadurch ausgedrückt, dass sie das Monster (Feind) küsst (liebt), es so zum Prinzen zurück verwandelt und sie selbst auf diese Art und Weise auf die Ebene der Königstochter erhöht wird. Bezeichnenderweise lässt diese Fähigkeit bei den normalen Liebenden durch das Drängen des Ego schnell nach. Aber sie ist eine hindurchblickende Erfahrung, die den Transfer auf die spirituelle Dimension begreiflich macht.
Wer hasst, zeigt, dass er nicht lieben kann. Insofern vergiftet Hass die Beziehungen zu anderen, am meisten aber den Hasser selbst, weil er sich selbst, d. h. seine Einstellungen dauervergiftet. Es ist eine Art Selbstverletzung. Wer würde ein Beil in die rechte Hand nehmen und sich damit die linke abhacken? Ganz sicher niemand, und doch tun genau dies die Menschen jeden Tag, weil sie das Verbindende der beiden Hände aus den Augen verloren haben.
Die Überwindung des Hasses auf andere (auch auf mich selbst) geht aber nur über die spirituelle Sicht der anderen, über die Erkenntnis ihrer geistigen Identität. Entdecke ich dann meinen eigenen Hass, rettet mich das Bewusstsein meiner eigenen spirituellen Identität. Wohin unauslöschlicher Hass letztlich führt, beschreibt Herman Melville in seinem Roman „Moby Dick“, er beschreibt den Weg zur Selbstvernichtung.
Deswegen gibt es in der Welt so gut wie keine echte Liebe, weil die sich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken lässt, sondern immer die innere Substanz des Menschen erkennt.
Dasselbe Thema findet sich im Libretto von „Schwanensee.“ Die tierische Oberfläche des Schwans, der in Wirklichkeit die Prinzessin ist, wird durchschaut.
Man sieht nur mit dem Herzen gut
Im christlichen Johannes-Evangelium verdammt Jesus die Ehebrecherin nicht, weil er durch die Oberfläche, Person genannt, hindurchschaut und auf ihren geistigen Kern blickt. Das ist ein Absehen vom äußeren Menschen und die Sichtweise auf dessen spirituelle Identität, das Durchdringen der Maske, eine Ent-Personalisierung sozusagen. Er hat die Fähigkeit, zwischen Person einerseits und eben ihren Steuerungen (von Geistseele und vom Selbsterhaltungstrieb), denen sie unbewusst folgt, zu unterscheiden. Wer Erscheinung und Wesen des Menschen auseinanderhalten kann, ist auf dem besten Weg, Ziel und Bestimmung des Lebens zu verwirklichen: „Gnothi se auton!“ Erkenne dich selbst! Erkenne deine spirituelle Identität!
Die Überwindung der Oberfläche schildert der mittelalterliche Dichter Wolfram von Eschenbach gleichnishaft durch den Kampf auf Leben und Tod zwischen Parzival und Feirefiz. Als die beiden Ritter in einer Kampfpause ihr Visier (siehe Maske) hochklappen, erkennen sie sich dahinter als Brüder (!) (Parzival. VIII,14).
Wenn Saint-Exupéry im „Kleinen Prinzen“ schreibt, dass man „nur mit dem Herzen gut“ sieht, dann ist genau dieses Hindurchsehen gemeint. (Er versinnbildlicht diesen Zusammenhang an noch einem weiteren Beispiel, nämlich in der Zeichnung vom Elefanten in (!) der Schlange.)
Das Böse auf der Welt wird nicht vom physischen Menschen erzeugt, sondern vom Selbsterhaltungstrieb in ihm, der nicht erkannt wird, weil die allgemeine Sichtweise sich auf die Oberfläche (Maske) der Person beschränkt.
Von diesem Säugetiererbe können wir uns im Gegensatz zum Tier aber davon befreien.
Alle Urtexte aller Kulturen haben nur dieses eine Thema, das „tägliche Sterben.“ Goethe nennt das „Stirb und werde!“ (Gedicht: Selige Sehnsucht)
Mit diesem Sterben ist gemeint, dass es sich auf den „Tod“ des Egozentrismus im Menschen bezieht. Im Gleichschritt findet das mitmenschliche Reifen und „Werden“ der Person statt. Der Dichterfürst fordert sie auf, ihr animalisches Verhalten („tierischer als jedes Tier“ : Faust I, Auerbachs Keller) zu ändern, und zwar von diesem Tier zum samaritanischen Menschen, dieser zu „werden.“ Dessen Eigenschaften sind in allen (!) Weisheitstexten beschrieben wie zum Beispiel in der Bergpredigt.
Die Krankheit der Menschen ist die Personifizierung: Shooting the messenger! Sie töten diejenigen, die die schlechte Nachricht überbringen, anstatt nach dem Verursacher und Absender zu fragen.
Die Aufdeckung der Übergriffe und Vergewaltigungen durch mächtige Männer im Showbusiness (MeToo) suggeriert den Lesern, dass die jeweiligen Täter vor jedem Delikt bewusst und schuldfähig vor der Entscheidung stünden, ob sie es nun tun sollten oder nicht. Sie waren aber „nur“ fremdbestimmter Exekutoren ihrer Triebe, denen wir alle mehr oder weniger unterliegen. (Das heißt natürlich nicht, die Delinquenten straffrei zu lassen. Schließlich muss in der egodominierten Welt die Ego-Allgemeinheit vor den Ego-Gewalttätern geschützt werden.) Die Ego-Software verführt uns, die Täter oberflächlich als Person ohne geistigen Kern zu identifizieren.
Der Hindurchblick ist erforderlich, um uns aus der Heillosigkeit unseres Planeten zu befreien. Denn damit schalten wir den Hebel nicht etwa von schlecht auf gut (positives Denken), sondern von unten auf oben, von horizontal auf vertikal, von Oberflächensicht auf Tiefenstruktur. Das Unterbewusstsein realisiert alle Eingaben, die wir tätigen. Wir leben im Jammertal, weil wir auf Zwietracht aus Selbstschutz gebürstet sind, den Hebel nach unten geschaltet haben und ihn dort lassen.
Erkenntnis und Tiefenverständnis, nur mit dem Herzen sehen: Das klingt plausibel und trifft auch den Kern des Problems, aber niemand verwirklicht es, im Gegenteil. Deshalb ist das Üben der Umsetzung der zentrale Punkt spiritueller Arbeit an sich selbst. Das kann jeder an sich selbst ausprobieren, wenn es einmal um den (zunächst gedanklichen) Umgang mit Rechtsextremen, Straftätern, Wutbürgern, bösen Nachbarn, Flüchtlingen, Autobahnrowdys, Feinden und sonstigen Kontrahenten geht. Das ist schwer, weil wir, wie es die Weisheitsschriften unisono erkennen, eben „sinnenverhaftet“ sind. Wir glauben nur an das, was wir mit unseren Sinnen erfassen zu können, anstatt auf die Impulse der geistigen Tiefeninstanz zu achten.
Wenn der Papst im Mai 2014 im Holocaust-Denkmal Yad Washem verständnislos fragt: „Mensch, wer bist du? … Was hat dich so tief fallen lassen?“, dann wird die gewaltige Hürde deutlich, die zu überwinden ist, um das zu tun, was Jesus am Beispiel der Ehebrecherin vorexerziert hat, nämlich hinter die Maske der Per-son zu blicken (lat. per-sonare) hindurch(!)tönen). Nur so ist Vergebung möglich.
Hindurchblick kann man umsetzen, wenn man prüft, wie man gedanklich mit einem Raser umgeht, der, während man selbst auf der Überholspur ist, hinter einem mehrfach aufblendet, wie verrückt hupt, dann bei seinem Überholen den Vogel zeigt, droht und erkennbar schimpft. Man kann ihn überprüfen, indem man seine Reaktion betrachtet bei einem, der zu dicht auffährt, einen Unfall verursacht und dann aggressiv die Verursachung nicht übernehmen will, ob sie oberflächlich bleibt oder hinter die Kulisse schaut. „Bejahe Tao in deinem Nächsten.“ (Tao Te King II, 54)