Die Angst ist das beherrschende Element des menschlichen Lebens. Sie dominiert trotz aller humanen Fortschritte auch unser heutiges Leben. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, vor Ansteckung, vor materiellem Verlust, vor dem Verlassenwerden durch den Partner, vor Fremden, vor „Überfremdung“ durch Kriegsflüchtlinge, vor beruflichem Versagen, usw.
Bei der Angst geht es immer um die Gefährdung des Selbsterhalts. Sie hat im Wesentlichen entweder die Form des Rückzugs (sich drücken, ausweichen, flüchten) oder schlägt um in Aggression, in Angriff, in Vorwärtsverteidigung. Hier ist es wie bei dem Kanarienvogel, der aus dem Käfig entwischt ist und im Zimmer herumflattert. Um ihn einzufangen, treibt man ihn mit einer Zeitung in der Hand solange hin und her, bis er erschöpft zu Boden geht und in einer Ecke sitzen bleibt. Wenn sich dann die Hand nähert, um ihn zurückzusetzen, versucht er ein letztes Mal auszureißen, und wenn dies nicht gelingt, fängt er an, panisch wie wild mit dem Schnabel um sich zu hacken.
Jede Aggression ist letztlich durch ein mehr oder weniger unbewusstes Gefühl eines Mangels bzw. einer Bedrohung ausgelöst, seien es nun „Kommunisten“ (McCarthy-Ära in den USA), das „internationale Finanzjudentum“ der NS-Zeit oder heute „Muslime“ oder vor allem „Überflutung durch Flüchtlingsinvasoren.“ Das Ego fühlt sich von Feinden umzingelt, legt dann überdimensionale Lebensmittelvorräte an, baut Bunker, stattet sich mit Waffen aus und attackiert schließlich Flüchtlinge.
Angst (um den Selbsterhalt) als zentrales Charakteristikum der menschlichen Psyche wird auch dadurch deutlich, dass es Machthabern immer wieder gelingt, ihre Macht zu erhalten, indem sie Angst schüren, z. B. in Wahlkämpfen. Es ist das sicherste Rezept, die angstanfälligen Egos mit „Arbeitsplatzverlusten“ oder „Flüchtlingskarawanen“ zu manipulieren.
Die Kombination von Variante „flüchten“ und Variante „angreifen“ äußert sich auch in dem (umgekehrten) Muster „nach oben buckeln und nach unten treten.“ Der Spruch „Statte einen Menschen mit Macht aus und du erkennst seinen Charakter“ zeigt, wie Mischungen aus diesen verschiedenen Ego-Untermenüs von Angst und folglicher Aggression funktionieren, egal, ob Mannschaftsführer, Familienvater, Lehrer, Direktor, Abteilungsleiter bis hin zum Diktator. Denn wenn das ängstlich-aggressive Ego Macht in die Hände bekommt, haben die bislang mühsam beherrschten Triebe es leicht, durchzubrechen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man SS-Mann, Fahrkartenverkäufer, Abteilungsleiter oder Ehemann ist. Das Grundmuster derer, die Flüchtlinge überfallen oder niederschießen, ist die Angst vor „Überfremdung“, „Bevölkerungsaustausch“ usw.
Es gibt aber Macht, die keine Herrschaft über andere ausübt, wie Mandela oder Gandhi dies eindrucksvoll gezeigt haben. Jedoch der Regelfall ist, dass das Ego, das an der Macht ist, sein unbewusstes Unterlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühl durch Macht über andere, nicht zuletzt über die Frau, überwinden will.
Der Zusammenhang von unbewusst winselnder Angst und entsprechend wütender Aggression äußert sich im Zeitalter der sozialen Medien besonders gerne im Shitstorm, sogar dann schon, wenn es nur um den Skandal geht, dass Frauen in scheinbaren Männerdomänen ankommen wie etwa im Moderieren von Fußballspielen. Die Anonymität dort, die den Angstanteil besänftigt, ermöglicht es dem Ego, den dünnen zivilisatorischen Lack zu abzustreifen und seinen aggressiven Wutanteil ungestört zum Ausdruck zu bringen. Welche Stärke die unbewusste Angst dabei hat, wird daran deutlich, dass das Ego auf jede Abweichung von der eigenen Position – auch wenn es sich nur um Meinungen handelt – in den sozialen Medien schon mit Morddrohungen reagiert.
Die Angst um den Selbsterhalt ist immer der wichtigste Faktor am Psychogramm des Ego. So ist es dem atomaren Gleichgewicht der Kräfte zwischen den alten und neuen Supermächten zu verdanken, dass nicht schon längst die nächsten globalen Kriege ausgebrochen sind im Kampf um Einflusszonen, Marktanteile, Ressourcen, usw. Dadurch, dass die atomare Gewalt des jeweiligen Gegners schwer einzuschätzen ist, hat beim atomaren Patt die Angst zumindest für die gegenwärtige Lage die expansive Aggression für einen Moment besiegt.
Zugleich sucht das angsterfüllte Ego soziale Nähe, Heimat, Geborgenheit in Familie, Freundeskreis, Fanclub, Verein, Partei, usw. Dabei kollidiert es automatisch mit der eigenen Aggressivität und mit derjenigen der anderen. Zugehörigkeit ist oft sogar direkte Ablehnung der anderen (z. B. Fanclub). Es ist paradox: Das Egoprogramm braucht sowohl die soziale Nähe als auch die Zwietracht. Als ob Stachelschweine sich mit aufgestellten Stacheln auf engstem Raum hin und her bewegen (Schopenhauer).

Das Ego braucht sein völkisches Zuhause und lebt dann dort seinen Selbsterhaltungs- und Aufwertungstrieb aus. Es will nicht Gemeinschaft sein, sondern Gemeinschaft haben. Ist die Angst-Komponente einigermaßen ruhiggestellt, ist dann eine Bühne für aggressive Selbsterhöhung da.
Angst schlägt in Aggression um, vor allem dann, wenn die Angst das Ego in die Enge getrieben hat wie beim Kanarienvogel. Was den aggressiven Anteil betrifft, so zeigen die Kriege, zu welchen unfassbaren Gräueltaten das Ego entschlossen und bereit ist. Das betrifft durchaus nicht nur Auschwitz, sondern z. B. auch die Massaker der Japaner in China (Nanjing), die an viehischer Grausamkeit nicht mehr steigerbar waren. Aber letztlich sind solche Untaten überall in der Welt und zu allen Zeiten vorgekommen und kommen in den verschiedensten Formen immer wieder vor. Dann hat die Angst der aggressiv rasenden Zerstörungs- und Vernichtungswut Tür und Tor geöffnet.
Der Drang zu Patriotismus und Fankultur ist eine der vielfältigen Ausdrucksformen der Abgrenzung einerseits und der Suche nach Geborgenheit in der sozialen Gruppe andererseits. Innerhalb dieser „Kuhstallwärme“ (Kolumne in SPON vom 15.12.2015) ist es von der Abgrenzung zur Ausgrenzung nur ein kleiner Schritt. Dann will das Ego mit Zähnen und Klauen seine Selbstbestätigung durchsetzen, gleich ob im Verein, in der Ehe, in der Partei, usw.
„Friedliches Zusammenleben in einer Gemeinde: „Die menschliche Natur steht dem einfach entgegen.“
Film „Die Jagd.“ (Thomas Vinterberg)
„Jeder ist eines jeden Feind. … Es herrscht Krieg aller gegen alle.“
(Thomas Hobbes: Leviathan)
Das Ego wird die Gemeinschaft nie verlassen, es hasst die Abgeschiedenheit und zudem die Stille. Schon eine kleine Redepause nervt das Ego, längere Phasen der Einsamkeit ohne Gespräche vollends unerträglich. Denn Stille würde die sanfte, überaus leise innere Stimme vernehmbar machen können, was für das Ego lebensgefährlich wäre. Es braucht Kameradschaften, Bünde, Bruderschaften, Verbindungen, Gruppierungen, Gemeinschaften und Allianzen aller Art, um sich einerseits sicher fühlen zu können und andererseits Dominanz-, Macht-, Aggressions- und Wichtigkeitsstreben entfalten zu können.
Das Ego glaubt, je mehr Besitz es hat, desto mehr ist es. Das sieht man deutlich an solchen Beispielen, dass der Mann ein größeres Auto haben will als der Nachbar oder seine Ehefrau als eine Art Besitz betrachtet. In der Vergangenheit waren es die Eroberungszüge und territorialen Okkupationen des Römischen Reiches, von Dschingis Khan, der spanischen, portugiesischen und holländischen Raubzüge, der Landnahme in Nordamerika, der japanischen Expansion in Ostasien, des British Empire, der kolonialen Unterjochung durch das Deutsche Reich, der nordafrikanischen Kolonien durch Frankreich, des nazistischen Lebensraumes im Osten, usw. usw. Die Krim lässt grüßen.
Das Ego hängt an materiellem Besitz, fürchtet dessen Verlust, will nicht teilen, kann nicht abgeben.
Zugeständnisse an den eigenen Lebensstandard – z. B. im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Flüchtlingen – kommen für das Ego nicht in Frage. Diese Haltung ist aber keineswegs nur auf Zuwanderer aus anderen Kulturen begrenzt: Der US-General Charles P. Gross erklärte nach dem Krieg amerikanischen Journalisten in Bezug auf den Widerstand von deutschen Hausbesitzern gegenüber ostvertriebenen Deutschen, dass „… die deutsche Bevölkerung Gleichgültigkeit und Mangel an Hilfsbereitschaft gegenüber ihren vertriebenen Landsleuten zeige.“ Diese zurückhaltende Beschreibung wird von den Einheimischen gegenüber ihren vertriebenen Landsleuten bei weitem übertroffen:
„Dreckzeug, elendes aus dem Osten
leben auf unsere Kosten.
Wir haben schon geopfert Tag um Tag
noch und noch,
bei uns ist selber schon ein Loch.
Wenn wir wollen unser Leben,
müssen die anderen eben gen Himmel schweben. …“
(Kossert, A.: Kalte Heimat. München 2008, S. 78)
Die Universalität dieses Verhaltensprogramms verarbeitet der Regisseur Stanley Kubrick in der Wasserlochszene zu Anfang seines Films „2001- Odyssee im Weltraum“ (siehe unten in „Die Funktion des Verstandes“).
Es geht aber nicht nur um dinglichen Verlust. Je mehr auch geistige Orientierung verloren geht, desto deutlicher ist dies abzulesen an Verlusten friedlichen und harmonischen Zusammenlebens durch die auffällige Zunahme an solchen Phänomenen wie aggressiven Gaffern, Rowdy-Verhalten im Straßenverkehr, rassistischen Übergriffen, Ausrasten in überfüllten Zügen, Zunahme pädophiler Missetaten usw., insgesamt einer Verrohung des Umgangs miteinander.
Gerade diejenigen wollen nicht teilen, die sich in Westeuropa in relativem Überfluss befinden: Je reicher, desto unwilliger. Das liegt daran, dass hinter dieser Verweigerung wieder die Angst vor Verlust sowie das egozentrische Selbstverständnis stehen. Wenn aber doch mildtätige Gaben zusammenkommen (siehe das hohe Spendenaufkommen vor Weihnachten), dann ist das zumeist durch das „Gutmenschen-Ego“ bedingt. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass auch die „guten“ Menschen – und das sind die allermeisten – nur bedingt empathisch sind.
Was den Hintergrund für Spendenbereitschaft betrifft, so gibt es das aussagekräftige Beispiel eines Milliardärs, der 99 % seines Vermögens für soziale Zwecke spenden will, wobei ihm dann „nur“ noch knapp eine Milliarde verbleiben würde.
„…bringen sie heuchelnd Opfer dar, die in Wirklichkeit keine sind.“
(Bhagavad Gita 16,17)
Das Gegenbeispiel eines tatsächlich aufopferungsvollen Verhaltens ohne Ego zeigt im Christentum die Geschichte von der armen Witwe und ihrem „Scherflein“: Die Reichen „opfern“ aus ihrem Überfluss, während diese Witwe aus ihrem Mangel heraus, aus dem an Nahrung, dennoch etwas hergibt. Sie opfert also von ihrer Substanz. Das unterscheidet das Ego von der Liebe. Dies ist eine idealtypische Verwirklichung der Goldenen Regel, die besagt, dass ich dem anderen das tun solle, was ich möchte, dass es mir getan würde, wenn ich an seiner Stelle wäre.
Ein weiteres Merkmal eines Ego-Spenders ist, seine Gaben zu veröffentlichen. Das Christentum warnt in einem ähnlichen Zusammenhang – öffentliches Beten – nicht ohne Grund davor. Denn dadurch versucht sich das Ego aufzuwerten, indem es seine guten Taten sichtbar macht. Wirkliche Nächstenliebe in Verbindung mit dem Kampf gegen das Auftrumpfen des Egos zeigt sich nur bei konsequentem Verschweigen des Gebens – außerhalb natürlich politisch motivierter illegaler Spenderpraxis. Der Evolutionsbiologe Manfred Milinski bemerkt, dass es so gut wie keine anonymen Spenden gebe (Spiegel 51/2010).
Angst vor Verlust äußert sich in vielen Facetten. Das sieht man daran, dass sehr viele Menschen nichts wegwerfen, nichts geben, äußerst zuwanderungsfeindlich sind (s. o. bei der Aufnahme der zwölf Millionen Vertriebenen 1944/45 aus den deutschen Ostgebieten) oder in Beziehungen pathologisch eifersüchtig sind. Gleichzeitig demonstriert dieses Verhalten eindrucksvoll das innere Schwächegefühl, einer Empfindung von Minderwertigkeit und Zerbrechlichkeit. Wir können jeden Tag in der Zeitung lesen, wozu Männer fähig sind, wenn ihre Frau sie verlassen will. Dieses Empfinden hat ja auch seinen realen Grund: Diese Schwäche existiert ja tatsächlich, solange der „abgehauene Ast“ sich nicht wieder an den Baumstamm selbst aufpfropft, d. h. solange der Mensch nicht den Weg zurück in die bewusste Abhängigkeit von seiner inneren Stimme nimmt. Aber diese Grundsatzentscheidung wäre das Schlimmste, was dem Egoprogramm passieren kann, würde es doch die Vernichtung seines Selbstverständnisses zur Folge haben. Es wäre der Tod des Programms, nicht des Menschen, der dieses Programm verwirklicht hat. Es bliebe dann nur das andere Programm im Menschen übrig, das der nicht-egoistischen Liebe.
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