Im Drama „Geschlossene Gesellschaft“ des französischen Schriftstellers Jean-Paul Sartre finden sich drei Personen nach ihrem physischen Tod auf Grund ihrer irdischen Sünden eingeschlossen in der Hölle wieder, behelligen sich ständig gegenseitig und gehen sich so maßlos auf die Nerven: „Die Hölle, das sind [immer] die anderen.“
Bei Sartre endet das Stück mit Aussichtslosigkeit der Protagonisten, sie wissen nicht, wie sie aus dieser Hölle herauskommen und finden sich damit ab. Garcin sagt: „Also – machen wir weiter!“
Aber er irrt, es gibt den Ausweg. Er besteht darin, das Ego als solches und als Steuerungsprogramm von „unten“ zu erkennen und dann Schritt für Schritt durch Beobachten und Kontern zu deaktivieren:
Ein hochklassiger Fußballprofi, der einige Male mit zeitweiligen Berufsverboten belegt wurde, weil er Gegenspieler gebissen hatte, wurde nach dem Warum gefragt: „Ich kann das nicht erklären. Es passiert einfach, da ist so eine Wut in mir.“ (Spiegel 41/2014).
Er hat den Grund nicht erkannt, aber immerhin einen Zipfel des Schleiers angehoben. Der Ausweg ist, die Hölle, also die Distanz zu den anderen durch Egosterben, d. h. praktische Nächstenliebe, zu ersetzen, und zwar nicht nur in Bezug auf Freunde, sondern in erster Linie auf Fremde („tägliches Sterben“ der Triebseele). Der islamische Mystiker Rumi erzählt zum Thema Ego-Tod die berühmte Geschichte vom Papageien im Käfig:
Ein Kaufmann hatte einen wunderschönen Papagei in einem Käfig. Der Mann wollte eine Geschäftsreise nach Indien antreten und fragte alle Leute in seinem Haushalt, was er ihnen mitbringen solle. Auch den Papagei fragte er nach einem Mitbringsel. Dieser bat den Kaufmann, anderen Papageien dort in Indien zu erzählen, in welcher Lage er sich in diesem Käfig befände und dass sein Wunsch wäre, von ihnen zu erfahren, wie ein Lösungsweg für ihn aussehen könnte. Der Händler versprach, das zu übermitteln.
Als er in Indien ankam, traf er auf einige Papageien und richtete die Bitte aus. Sofort nach dem Gehörten fiel einer von ihnen tot zu Boden.
Nach Hause zurückgekehrt berichtete der Reisende seinem Papagei das Erlebte. Als dieser das hörte, fiel er tot auf den Boden des Käfigs. Der Kaufmann war tief betrübt und holte den Vogel aus dem Käfig. Da breitete dieser plötzlich seine Flügel aus und flog auf einen Baum. Er erklärte dem erstaunten Mann das Täuschungsmanöver: Der Papagei in Indien hatte seinen Tod vorgetäuscht, um dem Gefangenen zu signalisieren, dass auch dieser „sterben“ solle, um endlich frei zu werden. (Rumi: Mesnevi I, 1556 – 1920)

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Da der Mensch „nichts von sich selber tun…“ kann (Joh. 5), findet die Verhaltenssteuerung durch den Zustrom von „unten“ und den von „oben“ statt. Es bedeutet, dass der Mensch sowohl materie- als auch geistgesteuert ist. Deshalb verhält er sich göttlich oder tierisch auf Grund seiner Triebseele und seiner Geistseele. Die Quelle für sein Verhalten kommt also nicht aus ihm selbst. Insofern gibt es eine eigenständige Identität nur insofern, als er seinen freien Willen dazu einsetzen kann, den Mischerhebel zu bedienen. Der Ort für diesen Hebel zwischen Geist und Körper ist – im Körper – das Bewusstsein, welches materielle – physische und psychische – sowie geistige Teile enthält.

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Dieser freie Wille des Menschen hat das Mischventil in der Hand hat und kann (mehr oder weniger) frei entscheiden, ob und wie viel Einfluss der jeweilige Zustrom in seinem Bewusstsein hat. Das setzt natürlich voraus, dass er sich dieser existenziellen Situation bewusst ist, was – wie gesagt – zumeist nicht der Fall ist. Solange ist sein freier Wille stark eingeschränkt bzw. nur als Potenzial vorhanden. Entscheidend aber ist, dass er das Herauslösen aus der Triebsteuerung erlernen kann. Er kann sich dann bewusst in jeder Entscheidungssituation aus seiner trieb- und logikgesteuerten Verhaltenslenkung lösen und der intuitiven Führung Raum geben. Das Symbol dafür ist die Konfrontation mit den beiden Bäumen im Paradies: Am Sachverhalt, sich für einen von beiden entscheiden zu müssen, hat sich bis heute nicht das Geringste geändert. In jedem Fall ist die Vaterschaft für das menschliche Verhalten geistiger Natur, egal, ob von „unten“ oder „oben.“
Insofern befindet sich der Mensch in einer Zwischenstellung zwischen oben und unten, zwischen animalischem und geistigem Bewusstsein. Jeder ist sozusagen zugleich Luzi-fer und Christo-fer (ferre: tragen).
„Der Himmel ist in dir
und auch der Höllen Qual,
was du erwählt’st und willst,
das hast du überall.“
Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch I, Vers 145)
Die Individualität des Menschen besteht aus der spezifischen Legierung von Trieb- und Geistseele. Von den Instanzen von oben und von unten ist er zwar abhängig, hat aber das Mischventil in der Hand und kann über das Mischungsverhältnis entscheiden. Sein Relais-Anteil an seiner Verhaltenssteuerung ist quantitativ minimal und beträgt – sagen wir – 1 %, qualitativ aber entscheidend. Um es mit der Begrifflichkeit der Mathematischen Physik (Chaostheorie) zu formulieren: Der Flügelschlag eines Schmetterlings löst einen Hurrikan aus. Dieses eine Prozent braucht aber unseren gesamten Kraftaufwand und unsere gesamte Ausdauer. Während uns die Entscheidungen für die Selbsterhaltung quasi auf dem Tablett serviert werden, ist das Erkennen des göttlichen Lebens hinter unserem materiellen Leben erst Ergebnis eines mühseligen Weges.
Der menschliche Verstand ist in dieser Konstellation nur eine Instanz der operativen Wahrnehmung, ein Instrument, das Eingaben aufnimmt und intelligent verarbeiten kann, aber nicht eigenständig schöpferisch ist. Dass der Verstand nicht erschaffen kann, ist eine schwere Beleidigung fürs Ego, erst recht für das Ego der Naturwissenschaften. Diese bilden sich ein, mit dem Verstand schöpfergleich alles Mögliche bewirken zu können, Gott spielen zu können wie z. B. durch Menschendesign oder das Klonen. Das Missverständnis ist, dass die Rechen- und Verknüpfungsoperationen des Verstandes mit ihren intelligenten Ergebnissen von eben diesem Verstand erschaffen wurden und Eigensteuerung suggerieren. So entwickeln z. B. meteorologische Computer auf Grund ihrer Programmierung und unzähliger Messdaten weltweit Prognosen über die Entwicklung des Wetters mit hoher Wahrscheinlichkeit. Das sieht dann so aus, als ob es der Computer von sich aus gewesen wäre, der die Prognosen generiert hätte. Dass dahinter die Programmierer stecken, erkennt er nicht.
Schöpferkraft scheint der Mensch zu haben, was man an den Verwüstungen durch Kriege oder der Ruinierung des Klimas sehen kann, aber auch an, medizinischem, technischem und sozialem Fortschritt. Jedoch sind Mord und Totschlag auf der einen Seite sowie Retter in Katastrophen oder Nothelfer Impulse von „unten“ oder „oben.“ Aber der Mensch kann zwischen ihnen – zumindest prinzipiell – eine Entscheidung treffen und insofern aus seinem Leben ein Erfolgs- oder Versagerprodukt machen. Er kann unter bestimmten Bedingungen den Hebel nach oben oder unten legen und mit Hilfe seines Verstandes diese Konzepte ausarbeiten und verwirklichen und auch noch optimieren: Baue ich eine Atombombe, gründe ich ein Rotes Kreuz? Unterschlage ich Geld aus der Vereinskasse? Setze ich meine Leben beim Löschen des Waldbrandes aufs Spiel oder in der Entwicklungshilfe in Kriegsgebieten?
Die Naturgesetze auf der Ebene der Prinzipien waren schon vor dem Menschen da, er hat mit ihrem Erschaffen nichts zu tun und kann nur mit ihnen umgehen. Einstein hat die Relativität ja nicht erfunden, sondern nur entdeckt.
Der Löwe in der Steppe hat ein einziges Programm, das ihn steuert, das Säugetierprogramm der Selbsterhaltung. Er jagt, frisst, paart sich, verteidigt sein Revier, beißt Konkurrenten weg, schützt seinen Nachwuchs und sammelt frische Kräfte in seinen Ruhezeiten. Diesem Programm ist er ausgeliefert, er kann nicht aus ihm heraus.
Der Mensch – das ist der Unterschied zum Säugetier – hat zwei. Einmal folgt er genau demselben animalischen Programm des Selbsterhalts wie der Löwe. Darüber hinaus aber hat er von der Geistseele das spirituelle Programm der Trennungsüberwindung, Liebe genannt. (Diese Art der Liebe ist geistig, geht über die beiden Stufen der irdischen Liebe wie erotischer und sympathischer hinaus (siehe Kap. 6) und basiert auf Hindurchschau.) Er ist das einzige Säugetier, das aus der animalischen Steuerung ausbrechen kann. Dieses zweite Programm ist der qualitative Unterschied zum Tier. Es ist dazu da, das erste zu überwinden. Es soll den Menschen seiner Bestimmung zuführen, zur Selbsterkenntnis des innerlich göttlichen Wesens, das ihn aus der Welt des Leidens heraushebt. Der Weg zum diesem zweiten Bewusstseins- und Verhaltensprogramm ist das einzige Thema aller Weisheitsschriften aller Kulturen und Völker.
Deine Zusammenfassung und die Art und Weise, wie Du deine Wahrnehmung in Worte fassen kannst- genau das habe ich gesucht. Das unbeschreibbare beschreiben … Danke! Der ganze Blog ist extrem öffnend- zumindest für mich. Ich habe für so vieles Worte gefunden, dass ich vorher niemandem näher bringen konnte- die Übersetzung fehlte 😉