Was die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz betrifft, so ist ein Vergleich mit der des Tiers aufschlussreich.

Der Sinn des Lebens der Tiere besteht aus ihrem Existieren, dem materiellen Sein. Es besteht aus Erjagen des Unterhalts, Ernähren, Ruhen und Fortpflanzen. Aus diesem Programm können sie nicht ausbrechen: Der Sinn ihres Existierens ist für sie dieses Existieren.

Im Gegensatz dazu geht es bei der Existenz des Menschen darum, seinem Sein einen Sinn zu geben, der über das nackte Existieren hinausgeht: Die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 schildert, dass Gott dem „Lehmkloß“ – also dem rein materiellen Menschen – „seinen Atem“ einhauchte, also nicht irgendeinen, sondern seinen, den wir als Gewissen, Bauchgefühl, innere Stimme, Intuition, usw. kennen. Dann kommt es darauf an, ob der Mensch von diesem Geist Gebrauch macht, also seinem Existieren den Sinn über den des Tieres hinaus gibt. Diesen nennt Genesis einmal das „Bauen“ – wie das eines Hauses –, also das Aufbauen, Entwickeln, Vervollkommnen und dann das „Bewahren“ (Gen. 2,15).

Das Bauen kann aber nicht nur darin bestehen, umfassende Sozialversicherung und Krankenversorgung zu „bauen“ oder Windräder in der Nordsee. Das Bauen konkretisiert Jesus unmissverständlich:

„Ihr sollt vollkommen sein, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ (Mt. 5, 48)

Es geht darum, Bewusstseinsinhalte zu „erbauen“, die es überwinden, dass die Menschen wie bisher lügen und betrügen, sich hassen und bekämpfen, sich gegenseitig „auffressen.“ Denn da nützt der Umstieg auf E-Autos und Wärmepumpen auch nichts.

Es geht um die „Rückkehr ins Paradies“, das „Sehen mit dem Herzen“ (Saint-Exupéry), das Gelangen zur Vollkommenheit durch die „Einung mit dem Ewigen“ (Gita XVIII, 50), wie man auch immer man das Eintreten ins spirituelle Bewusstsein benennen mag, ins „Reich Gottes“:

„Sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!“ (Lk. 17,21)

Das Instrument für die Vervollkommnung ist das Einüben in die Liebe, und zwar in diejenige Stufe, die über die irdischen Vorstufen von Eros und Philia hinausgeht, in die geistige, also unterschiedslose Liebe – die die Tiere nicht kennen -, in die Liebe zu allem, in das Verständnis für das Leid als Reifeimpuls und in die „Liebe“ zum Bösen als Erkenntnis seiner Machtlosigkeit:

„Liebet eure Feinde …!“ (Mt. 5,44)

Diese Liebe zur Hand im Handschuh ist Hebel und zugleich Folge der zunehmenden „Einung mit dem Ewigen.“ Diese Liebe ist das Gegenteil zur menschlichen Verständnis von Liebe, das Leo Tolstoi bissig wie folgt beschreibt:

„Aber was versteht man denn unter wahrer Liebe? …     
Jeder weiß, was Liebe ist. … Das ist doch sehr einfach:    
Liebe ist die ausschließliche Bevorzugung eines oder einer vor allen anderen.“ (Kreutzersonate. Kapitel 2)

Die unterschiedslose Liebe hingegen äußert sich als abnehmende Bevorzugungsliebe, also „den Nächsten zu lieben und den zu Feind hassen“ (Mt. 5,43). Sie ist deren Kreuzigung. Und sie führt zu zunehmendem Fortschritt bei der unpersönlichen hindurchschauenden Allesliebe. Das wiederum wird bewirkt durch die Meditation, die zum spirituellen Dialog führen und der sich im dementsprechenden geistig geführten Alltagsleben mit Hindurchschau verwirklichen soll.

Es geht um die Entwicklung der Einung mit dem Ewigen, konkret als geistige Lebensführung innerhalb der materiellen Welt als Sinn und Ziel des menschlichen Lebens (Lk. 23,43; Offb. 2,7). Der Weg zu dieser Wiedergewinnung des „Reiches Gottes“ führt über das Opfern der Egozentrik und die Hingabe an die anderen. Das aufzuzeigen war einziger Sinn der Lebensführung solcher spiritueller Giganten wie Krishna, Jesus, Buddha, Baha Ullah, Mohammed, Mahavira, Lao Tse, Nanak und anderer.

Die Rückanbindung („re-ligio“) enthält nun auch das Bewahren (s.o.). Es schließt gegenseitige Ausbeutung und Raubbau an den Lebensgrundlagen aus, wie es jedoch schon immer war und gegenwärtig in besonders kritischem Maß gegeben ist. Damit sind nicht nur Verschmutzung und rasender Verbrauch an den Ressourcen der Erde gemeint, sondern auch die Vergiftung des sozialen Miteinanders, im Extremfall durch Krieg.

Der Sinn des Strebens nach „Einung mit dem Ewigen“ liegt darin, dass sie die Wahrheit allen Lebens ist. Die verwirrende Vielfalt der Oberfläche täuscht über die Einheit mit dem Ewigen hinweg und erzeugt das falsche und tödliche Bild der Getrenntheit von ihm und damit von „Feinden.“ Das Bild der Trennung voneinander ist die Grundlage des „Krieges aller gegen alle“; die Trennung basiert auf dem Bewusstsein, dass „der Mensch für den Menschen ein Wolf“ sei (Thomas Hobbes: De cive). Zwar können zwei Personen nicht ein einziger Körper werden (Ausnahme: Verschmelzung von Spermium und Eizelle), sie können aber sehr wohl im Bewusstsein der Hindurchschau (s. Kap.2) diese Einheit herstellen; diese Art der Einheit ist geistig und geht deshalb über das materielle Ideal der Französischen Revolution der „fraternité“ weit hinaus. Deshalb gibt es im Christentum das geistige Ideal der besagten Samariter-, Fremden- und Feindesliebe, eine Verwirklichung des Einsseins allen Seins im Bewusstsein und in den realen Lebensabläufen.

Der Mensch bleibt auf der materiellen Stufe stecken und versteht im Regelfall unter Vervollkommnung die soziale und technologische, worin er die Rettung des Planeten erkennen will. Von der Rettung des Mensch vor dem Menschen hat er keine Vorstellung, die Bergpredigt kennt er, folgt ihr aber nicht. Alle Bestrebungen mit „Technologieoffenheit“ und ähnlichen Zukunftsvorstellungen verbauen nur den Rettungsweg.

Wenn der Mensch sich weigert, das ihm Aufgegebene und Anvertraute aufzubauen, zu vollenden und zu schützen, wenn er also seinem Sein den Sinn des Bauens und Bewahrens nicht gibt, sondern den Sinn ins animalische Sein der Selbsterhaltung rückverlagert, führt das zu Zerstörung und Vernichtung, was gegenwärtig in besonderem Maß und unübersehbar der Fall ist. Der Großteil der Menschen in Bezug auf den Sinn ihres Lebens nennt solche Schwerpunkte wie Spaß, Freude und Glück, alles materiell und existenzbezogen. Beim Tier ist diese Fixierung auf das reine Sein seine Bestimmung, es muss sich seiner Umgebung anpassen, wohingegen der Mensch aufgrund seines weiter entwickelten Verstandes in der Lage ist, seine Umgebung sich anzupassen. Deshalb kann er seine Existenz weiter entwickeln, „bauen“ und „bewahren.“ Damit ist aber nicht nur der Regenwald gemeint, sondern in erster Linie das steuernde Bewusstsein des Menschen selbst, der in diesen Garten hineingesetzt worden war. Das Instrument zu dieser Sinngebung ist die Liebe.

Damit sind aber nicht nur die erotische (Eros) und die sympathische (Philia) Liebe des Bevorzugens gemeint, auf die die Menschen ihr Liebesverhalten reduzieren, sondern vor allem die unterschiedslose Liebe (Agape). Die beiden erstgenannten selbstbezogenen Formen der Liebe, die zu den Partnern, Kindern, Eltern, Freunden, usw. sind allesamt nur Formen erweiterter Selbsterhalts. Diese Eros-Philia-Liebe kann es nicht sein, denn die macht Unterschiede in Gut und Böse, zerstört durch diese Einteilung das Klima auf der Erde und letztlich jeden Frieden, auch in fast jeder Ehe. Sie zerstört damit den Erhalt aller anderen und schließlich den des Planeten. Diese Art der Liebe leben gefühlt mehr als 99 % aller Menschen. Das Ziel des Existierens der Menschen ist für sie ihr Existieren. Es ist so, als ob für die Schüler einer Klasse das Ziel des Aufenthalts in ihrer Klasse der Aufenthalt in dieser Klasse sei.

Die Antwort auf die Sinnfrage ist, über die erforderliche Basis des  Überlebenstriebes hinauszugehen und für den Erhalt auch aller (!) anderen zu sorgen. Das Christentum verwendet dafür den Begriff „Nächstenliebe“, der alles andere bedeutet als die Liebe zu den Individuen der Umgebung wie zu Partnern, zu Kindern, Eltern, Freunden, usw. Eine solche Nächstenliebe haben auch die meisten Tiere, zumindest eine Zeit lang, in Brut, Rotte, Rudel, Herde, usw. Vielmehr meint „Nächsten“liebe diejenige zu allen Menschen, wie es im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter geschildert ist. Deshalb gibt es im Evangelium die Formulierungen „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und auf den Punkt gebracht: „Liebet eure Feinde.“

(Natürlich ist diese Art der Liebe – s.u. 6.2. – etwas völlig anderes als das, was die Menschen emotional unter Liebe (Eros und Philia) verstehen, weil sie rein verständnismäßig ist und mit Anziehungs- und Abstoßungsempfindungen nichts zu tun hat.)

Wenn die Menschen der Mahnung zur Samariterliebe folgen würden, würden sie mit Nachbarn, Konkurrenten, Gegnern, Flüchtlingen, usw. umgehen wie mit sich selbst. Das bedeutet, dass andere mit ihnen so umgehen würden, wenn sie selbst diese Widersacher oder Flüchtlinge wären. Das ist die Goldene Regel. Dann wäre „im Handumdrehen“ unsere Welt zum ursprünglichen Paradieszustand zurückgekehrt ohne Angst, Sorge, Hass, Täuschung, Diebstahl, Raub, Vergewaltigung, Mord, Massaker und Krieg.

Das animalische (!) Ziel des Existierens, dass das Ziel des Seins das Sein sei, hat sich im Lauf der Entwicklung verfeinert, und zwar in Richtung eines möglichst erträglicheren Existierens, in immer angenehmerer Form. Dabei wollen die Menschen nicht sehen, dass es nicht funktioniert, weder in der Ehe noch im Beruf, weder in der Schulklasse noch im Dorf, weder in der Stadt noch zwischen den Generationen noch im Zusammenleben der Völker.  Es ist eben der „Krieg aller gegen alle“, wie Thomas Hobbes das formuliert hat. Und daran hat sich in den letzten 12 000 Jahren nichts geändert. Die Idee, dass das Ziel des Existierens nicht das Existieren wie bei den Tieren sein könnte, sondern einen höheren Sinn habe, wie es Bibel, Gita, Koran, Pali-Kanon oder Tao Te King aufzeigen – und schon gar nicht, welchen –, spielt im Leben der besagten 99 % keine Rolle, kaum im Bewusstsein und schon gar nicht praktisch.
Dabei enthalten alle Weisheitslehren unmissverständlich die Antwort auf das verderbliche Verständnis vom Sinn des Seins als eben diesem Sein. Vielmehr betonen sie im Gegensatz zum Sinn des Seins als Sein den des Werdens, des Reifens im Hinblick auf die Erweiterung und Höherentwicklung der Liebe. Sie lehren die Weiterentwicklung der Bevorzugungsliebe (erweitertes Ego) zur vervollständigten unterschiedslosen Alles- und Fremdenliebe (siehe Kap. 6), die die Schöpfung nicht mehr in Gut und Schlecht einteilt.

Die Auffassung vom Sinn des Lebens als dem des Seins kommt seit Jahrtausenden als die unbedingte Selbsterhaltung zum Ausdruck, als das Ego. Sie führt zu Zerrüttung und zunehmendem Zerfall in allen Lebensbereichen; wir alle sind ihr Zeuge und ihr Opfer. An der gesamten Menschheitsgeschichte sehen wir, wie Freundschaften und fast alle Ehen zerbrechen oder zumindest veröden und wie Gewalt, Krise, Katastrophe, Krieg und Tod immer waren und gegenwärtig erst recht sind.

Um das Vertauschen der Sinngebung rückgängig zu machen und das tierische Existenzprogramm des unbedingten Selbsterhalts mit dem Sinn der Höherentwicklung in Form der Fremdenliebe zu vervollständigen, sind die Religionsstifter auf die Bühne der Geschichte getreten. Sie haben wie erwähnt deutlich gemacht, dass es darum geht, die Richtung der Sinngebung des nackten Seins rückgängig zu machen und über ihn hinaus zu wachsen hin zur Bestimmung der Vervollkommnung (Mt.5,48). Das bedeutet einmal die Wendung zum Erhalt aller anderen Menschen und zugleich die Ausweitung des rein materiellen Bewusstseins auf die geistige Ebene, beides gemeinhin wahre Liebe genannt. Diese enthält das Bewusstsein der geistigen Dimension des Seins.

Natürlich gibt es immer starke Bestrebungen, vor allem bei der Jugend, die „Welt (!) ein Stück besser zu machen“, wobei sie nicht auf die Idee kommt, dass das noch nie funktioniert hat, denn trotz aller Sozialgesetzgebung und der Auto-Elektrifizierung lügen, hassen und betrügen die Menschen unverändert nach wie vor. Hauptsächlich aber sehen sie nicht, dass diese Welt eben nicht nur materiell, sondern vor allem auch spirituell ist.
Wer auf die menschliche Vergangenheit generell zurückblickt, der sieht, dass es zwar im Lauf der Geschichte erhebliche und grundsätzliche Fortschritte und Harmonisierungen des menschlichen Lebens gegeben hat, von der Erfindung des Rades hin zum Fliegen, weg von der weiblichen Genitalverstümmelung hin zur MeToo-Bewegung, von der Sklaverei hin zur Demokratie. Er erkennt jedoch nicht, dass all diese Wachstumsprozesse auf die materielle Stufe beschränkt geblieben sind und am „Krieg aller gegen alle“ nichts geändert haben. Das gilt unter anderem für das ausnahmslose Streben nach Vergeltung – die Menschen sprechen von „Gerechtigkeit“, um das Wort Rache zu vermeiden. Es geht ihnen aber auch um den Wohlstand der einen auf Kosten der anderen und auch um die Liebe zu den eigenen und der Ressentiments gegen die anderen. (Die Ausnahmen stellen die geistigen Wachstumsprozesse seit den Auftritten der Religionsstifter dar, aber diese wenigen Prozente spiritueller Reife haben am generell desaströsen Zustand des Zusammenlebens nicht viel geändert.) Die Menschen wollen wie gesagt Rache und sie wollen egoistische Selbstverwirklichung, die sie Freiheit nennen, und sie wollen bedingungslose Selbsthaltung und sagen auch offen, dass „sich letztlich jeder selbst der Nächste ist.“ Sie erkennen die Einheit der Finger an der Hand nicht. Das Prinzip der Überwindung der Selbsterhaltung durch die Hingabe für die fernsten „Nächsten“ haben solche Leuchttürme wie Martin Luther King, Gandhi, Pater Kolbe, Janusz Korczak, Mutter Teresa und viele andere deutlich genug gezeigt, aber Hass auf Migranten aller Art, Abneigung gegen andere Ethnien innerhalb der eigenen Bevölkerung und natürlich die Feinseligkeit schon gegenüber dem bösen Nachbarn haben sich seit Beginn unserer Geschichte nicht verändert.

Die großen geistigen Lehrer haben im Grunde nur ein einziges Prinzip für den Aufstieg aus dem Leid vermittelt, welches die Bhagavad Gita, die Bibel der hinduistischen Weisheit, so hervorhebt: „Das Opfer ist des All’s Gesetz!“ Die christliche Weisheit nennt dieses Prinzip „Kreuzigung,“ das Opfern der egozentrischen Selbsterhaltung. Der Sinn des Lebens besteht eben darin, dass der Mensch nicht nur für sich selbst, sondern unterschiedslos und aufopferungsvoll für alle Menschen lebt. Erst dadurch kann wahre Selbsterhaltung hergestellt werden.

Aber die Menschen wollen dies nicht wahrhaben und marschieren deshalb im Gleichschritt mit zunehmender Geschwindigkeit ins ebenso zunehmende Leiden.